Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

70 Jahre "Tagesschau"
Flaggschiff in immer neuen Gewässern

Am 26.12.1952 lief die "Tagesschau" zum ersten Mal im TV. Bis heute gilt sie als erfolgreichstes Nachrichtenformat – längst auch auf anderen Ausspielwegen. Nicht nur für den früheren Chefredakteur Ulrich Deppendorf ist das ein Schlüssel zum Erfolg.

Text: Michael Borgers | Ulrich Deppendorf im Gespräch mit Bettina Köster | 21.12.2022
Blick in den Newsroom im neuen Nachrichtenhaus von ARD-aktuell auf dem NDR-Gelände. Am 26.12.2022 wird die Nachrichtensendung „Tagesschau“ 70 Jahre alt.
Am 26.12.2022 wird die „Tagesschau“ 70 Jahre alt - hier ein Blick in den Newsroom im neuen Nachrichtenhaus von ARD-aktuell (picture alliance / dpa / Marcus Brandt)
Bilder der ersten Ausgabe der „Tagesschau“ sucht man vergebens, sowohl im Internet als auch den Archiven der zuständigen ARD-Anstalten. Die einzige erhaltene Sendung aus den Fünfzigerjahren beginnt mit den Schwarz-Weiß-Aufnahmen eines Wasserfalls – und kommt heute ohne Ton aus. Noch bis Ende dieses Jahrzehnts besteht die „Tagesschau“ nur aus Filmbildern, in drei Ausgaben pro Woche mit weniger als 1000 Zuschauerinnen und Zuschauern zu Beginn.
Erst im März 1959 kommt ein fünfminütiger Wortnachrichtenblock dazu, gesprochen von Karl-Heinz-Köpke. In den folgenden Jahrzehnten bleibt der gelernte Hörfunk-Sprecher dabei und wird am Ende „Mr. Tagesschau“ genannt. 1987 präsentiert er seine letzte Sendung, live und in Farbe, mittlerweile vor einem Millionenpublikum. Und: gegen neue Konkurrenz.

Umbrüche in den 80er- und 90er-Jahren

Die ARD-Sendung muss sich Ende der Achtzigerjahre nicht mehr nur gegen die Heute-Nachrichten im ZDF behaupten. RTL und andere private Sender mischen damals bereits mit und auch den Markt der Newsformate auf. Zeit für einen Wandel auch bei der „Tagesschau“, wie sich Ulrich Deppendorf im Deutschlandfunk erinnert, von 1993 bis 1998 Chefredakteur der von Anfang an in Hamburg produzierten Sendung.
So habe es Überlegungen gegeben, aus den 15 Minuten eine „große Nachrichtensendung mit Moderation zu machen“. Doch Umfragen hätten gezeigt: „Die Zuschauer wollen diese strenge 15 Minuten“, so Deppendorf. Deshalb habe man entschieden: „Wir bleiben dabei, aber ein bisschen verändern müssen wir uns auch.“
Unter Deppendorf beginnt ein Umbruch bei den Gesichtern, die die „Tagesschau“ präsentieren: Moderatoren statt Sprecher, „Mitarbeiter, die journalistisch vorgebildet sind“, wie der frühere Chefredakteur sagt. Und aus einer 15-Minuten-Sendung am Abend werden viele, unterschiedlich lange, im Laufe des Tages, bis spät in die Nacht.

Beginn der Erfolgsgeschichte Internet

Am nachhaltigsten verändert die „Tagesschau“ aber wohl diese Frage aus den Reihen eines kleinen Teams: „Sollen wir das mal probieren?“ Und gemeint gewesen sei das Internet, so Deppendorf heute, mehr als 25 Jahre später. „Da hab‘ ich gesagt: Machen Sie’s! Und dann schauen wir mal, wie es weitergeht."
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte: Aus „Tagesschau“ wird zusätzlich tagesschau.de. Und zum Fernsehen gesellen sich unter dieser Dachmarke bis heute zahlreiche weitere Ausspielwege im Internet, von Facebook (2,3 Millionen Follower) über Twitter (3,9 Millionen) bis zuletzt TikTok (1,3 Millionen). 

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

"Wo immer wir hingehen und wo immer wir auftauchen, tauchen wir als die Marke ‚Tagesschau‘ auf. Und wir definieren das immer als Tagesschau plus X. Und im Kern muss immer eine Nachricht stehen", betont gegenüber der Deutschen Presse-Agentur Marcus Bornheim, Deppendorfs aktueller Nachfolger als Chefredakteur.
"Die Bedeutung der "Tagesschau" für die Information der Gesellschaft ist nach allem, was wir aus Studien wissen, enorm, auch bei jungen Zielgruppen. Dies gilt verstärkt in Krisenzeiten", ordnet im Porträt der Nachrichtenagentur anlässlich des 70-Jahr-Jubiläums Wolfgang Schulz ein, Direktor des Leibniz-Institutes für Medienforschung/Hans-Bredow-Institut.

Online-Journalistin Pörzgen: Gelungene Auslandsstrategie

Eine Einschätzung, die Gemma Pörzgen, freie Journalistin und Chefredakteurin der Zeitschrift „Ost-West Europäische Perspektiven“, bestätigt. Viele andere Online-Redaktionen orientierten sich an tagesschau.de, sagt Pörzgen im Gespräch mit @mediasres. Sie spricht von einer „Vorbildrolle“, auch deshalb, weil man bei der verantwortlichen Abteilung ARD-aktuell viel in Online-Redaktion und Social Media investiere.
Zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte Pörzgen beim medienkritischen Portal Übermedien kritisiert, die ARD sei im Krieg „schlecht aufgestellt“ und damit auf das Fehlen von Korrespondenten vor Ort hingewiesen.
„Bei aller Kritik, die ich habe, dass bestimmte Weltgegenden weniger auftauchen, finde ich aber, dass tagesschau.de vor allem im Vergleich zu den meisten Tageszeitungen Auslandsnachrichten sehr umfassend abbildet“, unterstreicht Pörzgen. So seien etwa Auslandskorrespondenten inzwischen in die Auslandsstrategie eingebunden, so dass tagesschau.de entsprechend viele Inhalte anbieten könne.

Deppendorf: Zeit für Chefredakteurin gekommen

Der vor kurzem verstorbene frühere WDR-Intendant Fritz Pleitgen hatte 2012 kritisiert, die Ausrichtung der „Tagesschau“ sei zu sehr auf deutsche Ereignisse fokussiert. 15 Minuten seien "zu kurz, um das Weltgeschehen adäquat abzubilden", so Pleitgen damals im „Spiegel“. Diese Kritik gelte heute so nicht mehr, findet Pörzgen.
Die Auslandsberichterstattung auch in der „Tagesschau“ sei in den vergangenen Jahren „sehr verstärkt“ worden, beobachtet auch Ulrich Deppendorf. Er wünsche sich manchmal, „dass wir schneller mit bei Ereignisse auch mit eigenen Leuten vor Ort sind“, sagt der 72-Jährige.
Außerdem sei es an der Zeit, dass auch einmal eine Frau das Ruder der Redaktionsleitung in die Hand bekomme. „Wir waren jetzt lange Zeit eine Männertruppe.“ Aber nun sei die Zeit reif für eine Chefredakteurin.