Freitag, 26. April 2024

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75 Jahre Ruhrfestspiele
Premium-Theaterfestival statt „Bayreuth für Proletarier“

Die Ruhrfestspiele in Recklinghausen zählen heute zu den größten und renommiertesten Theaterfestspielen Europas. Hohe Bühnenkunst mitten im Ruhrgebiet - das galt als Wagnis. Doch ihr Start am 28. Juni 1947 war triumphal. Es folgten indes krisenhafte Jahre.

Von Christian Berndt | 28.06.2022
Das Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen - zwischen 1960 und 1965 für die Ruhrfestspiele errichtet und seither Hauptaustragungsort
Seit 1965 Heimat des Theaterfestivals - das Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen mit der Skulptur "Große Liegende Nr. 5" von Henry Moore (picture alliance / Horst Ossinger)
„Wir sind im Herzen des Ruhrgebiets. Recklinghausen begrüßt die Künstler, die aus allen Teilen unserer Heimat gekommen sind.“
Es ist Anfang der 50er-Jahre ein Ereignis im Ruhrgebiet, wenn die Theaterleute anreisen, um auf den Ruhrfestspielen aufzutreten. Dabei hatte das Festival seine Entstehung nur einem Zufall zu verdanken: weil im Nachkriegswinter 1946 die Theater in Hamburg Heizmaterial benötigten, fragten sie im Ruhrgebiet nach. In der Recklinghäuser Zeche König Ludwig bekamen sie tatsächlich Kohle, zum Dank sagten die Hamburger Bühnen ein Gastspiel zu: Am 28. Juni 1947 starteten die Dankgastspiele mit „Figaros Hochzeit“. Ein Jahr später wurden die Festspiele – mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und der Stadt Recklinghausen als Gesellschafter – bereits zur Institution.
Es sollten nach den Worten von DGB-Chef Hans Böckler Festspiele für die Arbeiter werden: „Wir möchten es dahin bringen, dass der arbeitende Mensch in der Not unserer Tage an dem, was altes deutsches Kulturgut darstellt, sich aufrichtet.

„Wallenstein“ statt Steinkohle

An die Traditionen politischen und sozialistischen Theaters von Piscator bis Brecht wollte
der damals strikt antikommunistische DGB nicht anknüpfen. Stattdessen sollten die Arbeiter im Ruhrgebiet mit bürgerlicher Theaterkunst gebildet werden - gemäß dem Erziehungsanspruch:
„Wir gehen ins Zentrum sozusagen der Ruhrgebietsarbeiterlandschaft, und was brauchen die? Die brauchen Mozart-Oper, und die müssen jetzt mal die hohe Kunst kennenlernen.“- so die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß. Die größten Bühnenstars kamen an die Ruhr, um in amerikanischen Gegenwartstücken zu spielen - oder Klassikern wie „Wallenstein“:
Das Kind des Lagers spricht aus Dir, mein Sohn. Ein fünfzehnjähriger Krieg hat Dich erzogen, Du hast den Frieden nie gesehen.“

In den 60er-Jahren folgte die Krise

Zum Rahmenprogramm gehörten ab 1950 auch Kunstausstellungen und das „Europäische Gespräch“ als politisches Debattenforum. Die Ruhrfestspiele sahen sich auch als Motor gesellschaftlicher Demokratisierung. Aber in den 60er-Jahren folgte die Krise: nicht nur, weil die Stars zu teuer wurden - auch der erzieherische Ansatz der Kulturvermittlung für Arbeiter galt angesichts einer sich sozial immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft als veraltet. Mit Plattformen wie dem 1960 gegründeten „Jungen Forum“ wurden Modernisierungen angestoßen, in den 70er-Jahren setzte man eine Reformkommission ein, die unter anderem die Gründung eines eigenen Festspielensembles empfahl. Das kam schließlich 1982 mit seinem ersten Stück heraus:
„Ihr schreit nach Frieden.
Aber ich sage euch, was ihr braucht, ist Krieg! /
Krieg räumt auf, Krieg schafft Arbeit!“
Mit friedensbewegten Inszenierungen wie diesen geriet das Festival in den Ruf gewerkschaftlichen Agitprop-Theaters, Kritiker sahen die Festspiele auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit. Als Retter in der Not wurde 1990 Hansgünther Heyme berufen, der nun freie Hand bekam – ohne Einflussnahme des DGB auf die Programmgestaltung. Heyme nannte die Festspiele „Europäisches Festival“ und sorgte mit internationalen Gastspielen für neue Aufmerksamkeit. Sein Nachfolger Frank Castorf von der Berliner Volksbühne brachte 2003 Theater-Rebellen wie Christoph Schlingensief an die Ruhr. Der jubelte:
„Ja, das ist natürlich ganz toll, weil wir hier die erste öffentliche Oper machen. Also, wir holen die Oper aus dem elitären Raum raus und übergeben sie der Bevölkerung, und das rast jetzt eben durchs Ruhrgebiet.“
Doch, so Ulrike Haß über die Ära Castorf: „Der Punkt war, dass er ein viel jüngeres Publikum ansprechen wollte. Die Ruhrfestspiele selbst, eben auch bedingt durch die DGB-Trägerschaft, das war ein alterndes Publikum.“
Aber dem DGB gingen die Neuerungen zu weit und das Publikum fremdelte mit den neuen Theaterformen, Castorf wurde nach einer Spielzeit entlassen. Nachfolger Frank Hoffmann suchte den Ausgleich, setzte einerseits auf Hollywood-Stars, stärkte aber zugleich mit Comedy- und Straßentheater die lokale Anbindung. Beim Publikum kam das an, Kritiker sprachen dagegen von Populismus. Aber die Ruhrfestspiele, meint Ulrike Haß, sind für die Breite da:
„Mir gefällt sehr, dass die Ruhrfestspiele bis heute sagen: Kunst für alle! Man hat ein deutlich gemischteres Publikum als zum Beispiel in Berlin, es ist sozusagen tatsächlich die Nachbarschaft, die sich für diese Orte interessiert und die sie auch als ihre Orte ansehen. Die wohnen nicht weit weg und sind ganz stolz darauf, wie schön das geworden ist.“

 Heute sind die Ruhrfestspiele ein hochgeschätzter Partner der großen europäischen Bühnen für gemeinsame Theaterproduktionen - und dabei immer ein Festival für das Publikum der Region geblieben.