Peter Sawicki: Es war eine lange Nacht in Berlin, eine extrem lange Nacht sogar. Etwa 24 Stunden saßen die Verhandlungsteilnehmer von Union und SPD im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale zusammen. Lange gab es überhaupt keine Zwischenstände und die Gespräche schienen sogar, noch scheitern zu können, munkelte man zumindest vor Ort.
Gegen zehn Uhr vormittags kam dann die Nachricht: Der Durchbruch ist da und mit offenbar großen Erfolgen für die SPD, die sich einige wichtige Ressorts sichern konnte. Über diese Einigung zwischen Union und SPD sprechen wir jetzt mit dem Politikwissenschaftler Thorsten Faas von der Freien Universität in Berlin. Schönen guten Tag.
Thorsten Faas: Hallo! Ich grüße Sie.
Sawicki: Waren das wirklich so schwierige Gespräche oder eine ganz große Inszenierung?
Faas: Eher beides. Ganz am Ende geht es natürlich einerseits um die Sachebene, und da gab es durchaus noch schwierige Themen, die auf dem Tisch lagen, die sachgrundlose Befristung und auch die sogenannte Zwei-Klassen-Medizin oder die Abkehr davon. Das waren schon strittige Themen bis zum Schluss.
Wenn man sich jetzt die Lösungen aber anschaut, das eine überweist man an eine Kommission, das andere lässt sich auch in Details durchaus regeln, da war man sich vermutlich sehr schnell einig. Aber am Ende geht es auch um Überschriften, die man präsentieren kann. Die SPD hat den Mitgliederentscheid noch vor sich. Da hat es auch eine ganz stark symbolische Komponente, wer sich denn da durchgesetzt hat, wer gewonnen und verloren hat. Das hat sicherlich noch mal einiges an Zeit gekostet.
"Da ist gerade ein Kampf um die Deutungshoheit am Werk"
Sawicki: Wer hat denn aus Ihrer Sicht gewonnen, wenn ich da direkt einhaken darf?
Faas: Ja, das ist eine schwierige Sache. Wenn man sich die Detailebene anguckt: Auf der einen Seite gibt es noch keine Lösung, da ist jetzt eine Kommission beauftragt. Eigentlich hat man sich vertagt oder geht jetzt selbst da noch mal in die Verlängerung. Aber das Gewinnen und Verlieren ist natürlich für die Ressortverteilung, die mindestens so wichtig in dieser Verhandlungsnacht war wie die sachliche Ebene, da kann man jetzt schon sehen, dass die Schlagzeilen erst mal sind, die SPD sichert sich wichtige Ministerien. Da hat sie durchaus gewonnen.
Überlagert wird aber auch das noch mal durch die Entscheidung von Martin Schulz, ins Kabinett zu gehen. Auch hier sind eigentlich gerade die nächsten Stunden entscheidend, was sich da für eine Sicht auf die Dinge durchsetzt. Geht es um die drei Ministerien, die die SPD geholt hat, oder geht es darum, dass Schulz entgegen seiner früheren Ankündigung jetzt doch ins Kabinett einzieht. Da ist gerade ein richtiger Kampf um die Deutungshoheit am Werk.
Sawicki: Wir haben es ja gerade angesprochen. Martin Schulz möchte offenbar – das ist jetzt erst mal die Eilmeldung – den Parteivorsitze abgeben, wenn er ins Kabinett geht. Ist das dann positiv aus seiner Sicht für ihn?
Faas: Das könnte zumindest ein Entgegenkommen von ihm sein, um sich das Außenministerium oder allgemeiner formuliert ein Ministeramt sichern zu können. Es stellt natürlich nicht in Frage oder es korrigiert auch nicht seinen Satz, dass er nicht ins Kabinett einziehen wird. Insofern könnte man auch daraus durchaus ein Argument drehen, dass hier komische Dinge miteinander vertauscht werden. Aber aus seiner Sicht ist das sicherlich ein Versuch, die Partei auch ein wenig zu befrieden, damit sie ihn doch bitte ins Kabinett einziehen lässt.
"Die Macht von Martin Schulz ist doch deutlich erodiert"
Sawicki: Kann ihm das gelingen aus Ihrer Sicht?
Faas: Das ist wirklich ein schmaler Grat. Ich denke, man hat in den letzten Tagen und Wochen gemerkt, dass die Macht von Martin Schulz doch deutlich erodiert ist, dass der Rückhalt vor allem in der erweiterten Parteiführung nachgelassen hat, vielleicht weniger an der Basis, aber vor allem in der Parteiführung, und das ist noch lange nicht entschieden.
Ich meine, wir sind jetzt ein paar Stunden nach den Verhandlungsergebnissen. Der Mitgliederentscheid steht bevor. Da muss man jetzt wirklich auch mal gucken, welche Stimmung sich da an der SPD-Basis breit macht. Denn das darf man nicht vergessen: Wenn die Basis Nein sagt am Ende, dann ist das alles Schall und Rauch, was wir gerade besprechen, und wenn diese Personalfragen diese ganze Diskussion in den nächsten drei Wochen überlagern, na ja, alles noch nicht in Stein gemeißelt. Ich glaube, auch diese Personalentscheidung wird man dann durchaus an der einen oder anderen Stelle noch mal sich sehr genau anschauen.
Sawicki: Glauben Sie, dass Martin Schulz das Ganze aus dem Wunsch heraus nach Profilierung macht, oder möchte er wirklich zum Beispiel in der Europapolitik jetzt was in seinem Sinne bewegen?
Faas: Ohne Zweifel ist das sein Herzensanliegen, die Europapolitik. Er ist Europapolitiker und in den Koalitionsverhandlungen konnte er sogar mehr als in der Wahlkampfzeit dieses Thema endlich, könnte man sagen, besetzen und bedienen. Und da in Europa, in Brüssel gerade kein Kommissarsamt oder Ähnliches frei ist, ist das Außenamt natürlich das Naheliegendste für ihn.
Trotzdem steht natürlich diese Glaubwürdigkeitsfrage massiv im Raum, prägt jetzt auch schon die ersten medialen Kommentierungen, die Eilmeldungen, die kursieren. Da geht es genau darum, dass er das Außenamt und damit ein Ministeramt akzeptiert. Das ist für ihn persönlich immer noch eine schwierige Situation gerade.
"Das Finanzministerium ist tatsächlich der große Verhandlungserfolg für die SPD"
Sawicki: Was erwarten Sie von Olaf Scholz möglicherweise als Finanzminister?
Faas: Das ist erst mal eine überraschende Personalie. Das Finanzministerium galt ja in den letzten vier Jahren eigentlich als das wichtigste Ministerium und das ist ohne Zweifel ein Verhandlungserfolg für die SPD, dass die SPD sich dieses Amt sichern konnte. Ich habe auch noch nichts gelesen, wer Vizekanzler werden soll.
Auch da könnte man ja überlegen, dass das vielleicht sogar der Finanzminister, weniger der Außenminister wird. Und das Finanzministerium in diesen unsicheren Zeiten mit Blick auf Europa – an vielen Stellen sind Finanzierungsfragen wirklich zentral und da ist der Finanzminister wirklich in einer exponierten Position. Olaf Scholz wird der starke Mann in der SPD sein im Kabinett, wenn es um inhaltlich-substanzielle Fragen geht.
Sawicki: Aber dann ist das ja potenziell eine gute Aufteilung für die SPD, wenn gerade diese beiden Ämter, die in Europafragen miteinander verbunden sind, jetzt in der Hand der Sozialdemokraten liegen?
Faas: Absolut! Gerade das Finanzministerium. Wir haben mit Blick auf die Außen-, insbesondere die Europapolitik in der jüngeren Vergangenheit sogar eher erlebt, dass viele Kompetenzen im Bundeskanzleramt inzwischen liegen, dass die Kanzlerin eigentlich diejenige ist, die die Europapolitik mehr prägt als der Außenminister. Insofern: Das Finanzministerium ist tatsächlich der große Verhandlungserfolg für die SPD. Damit wird man jetzt auch werben gegenüber der Basis über die sachpolitischen Entscheidungen hinaus. Das wird ganz klar im Mittelpunkt stehen, das ist der große Verhandlungserfolg – keine Frage.
"Auf Ministerebene ist die Karriere von Sigmar Gabriel beendet"
Sawicki: Und was wird aus Sigmar Gabriel? Was glauben Sie?
Faas: Man hört im Moment nichts, dass er für ein Ministeramt vorgesehen wird. Die beiden Positionen, über die wir gesprochen haben, das Außenamt und das Finanzministerium, die sind auch vergeben. Das wären eigentlich die einzigen beiden adäquaten Positionen für ihn gewesen. Das heißt wohl, dass auf Ministerebene die Karriere von Sigmar Gabriel tatsächlich beendet ist.
Sawicki: Dann schauen wir noch mal kurz auf die Mitgliederbefragung, die jetzt ansteht. Haben Sie ein Gefühl? Könnte die SPD beziehungsweise die Parteispitze, die Verhandler, die dabei waren, mit diesem Ergebnis die Stimmung für sich nutzen oder eine Stimmung für sich entfachen?
Faas: Ich glaube, es entscheidet sich tatsächlich in den nächsten Stunden. Man hat durch den Sonderparteitag, wo man diese drei Bedingungen formuliert hat, Familiennachzug, sachgrundlose Befristung und Bürgerversicherung oder der Einstieg in das Ende der Zwei-Klassen-Medizin, dadurch hat man natürlich selbst sehr harte Kriterien formuliert, die jetzt auch an den Koalitionsvertrag angelegt werden, und da scheint mir das Ergebnis doch gemischt zu sein. Man wird auf die Personalien verweisen, dass man sich zentrale Ressorts in diesen unsicheren Zeiten hat sichern können. Man wird das Finanzministerium an der Stelle herausstreichen, keine Frage.
Aber für die Basis ist natürlich gerade diese Frage, können wir unserer Führung eigentlich vertrauen, gilt das Wort noch, das man uns als Mitglieder gegenüber äußert, gilt das noch, und da ist diese Personalie Martin Schulz natürlich eine Belastung. Wenn wir jetzt drei Wochen lang darüber reden oder wenn die SPD aus ihrer Sicht drei Wochen lang darüber spricht, ob das eigentlich eine gute Sache ist, oder ob das nicht doch ein Fehler ist, ob der Wechsel im Parteivorsitz jetzt richtig oder falsch ist, dann kann das Dynamiken entwickeln, die durchaus auch am Ende die Entscheidung noch mal in Frage stellen.
Ich glaube, wir müssen tatsächlich noch einen Moment warten. Es ist tatsächlich spannend. Wobei man sagen muss: Die breite Basis der SPD, die kennen wir eigentlich gar nicht. Viele Mitglieder sind ja auch in Ortsvereinen oder Ähnliches gar nicht unbedingt aktiv und präsent. Das bleibt tatsächlich eine große Unbekannte.
Sawicki: … sagt bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler Thorsten Faas von der FU Berlin. Vielen Dank für Ihre Zeit heute.
Faas: Sehr gerne.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eige