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Abwarten statt Abbrechen
Finnland ist weiter für EU-Beitrittsgespräche mit Türkei

Finnen und Deutsche sprechen in Brüssel oft mit einer Stimme. In punkto Türkei liegen die Positionen allerdings nun auseinander. Helsinki will die EU-Beitrittsgespräche mit Ankara fortsetzen. Das ist weniger der aktuellen Entwicklung als einer politischen Tradition geschuldet.

Von Sabine Adler | 22.09.2017
    Die türkische Fahne weht neben der Fahne der Europäischen Union. Der mögliche EU-Beitritt der Türkei wird seit längerer Zeit kontrovers diskutiert.
    Die Position der finnischen Regierung ist, an einem möglichen EU-Beitritt der Türkei festzuhalten, ungeachtet der innenpolitischen Entwicklung dort (MAXPPP/MAXPPP)
    Nicht dass man in Berlin nur Zustimmung erwartet hätte, aber dass Widerstand ausgerechnet aus Finnland kam, ließ aufhorchen. Beim Treffen in Tallinn war es der finnische Außenminister Timo Soini, der zugleich der Gründer der rechtspopulistischen Partei der "Wahren Finnen" ist, der Kanzlerin Merkel und ihrem Herausforderer Schulz widersprach. Er wolle keinen Abbruch der Gespräche mit der Türkei.
    Stehen sich der Finne Soini und der türkische Präsident Erdoğan als Populisten so nah? Matti Vanhanen, bis 2010 Ministerpräsident Finnlands, sieht nicht in der Wesensverwandtschaft den Grund, sondern in der Geschichte der Türkei-Verhandlungen.
    "Vielleicht erklärt sich der Unterschied zu Deutschland heute dadurch, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei genau während des finnischen EU-Ratsvorsitzes im 1999 angefangen wurden. Finnland sieht sich da in einer besonderen Rolle."
    Ex-Premier Matti Vanhanen ist heute Chef des Außenpolitischen Komitees im finnischen Parlament. In seinem Heimatland gab es keinerlei Versuche, die EU als einen christlichen Klub zu bewahren. Die Türkei wurde nicht einmal als ein sonderlich religiöses Land wahrgenommen.
    Auch von Johanna Vuorelma nicht, die als Türkei-Spezialistin mehrfach länger in Istanbul gelebt hat. Sie sieht Finnland eher als Anwalt der Türkei.
    "Finnland macht das seit 15, 20 Jahren. Das ist eine Konstante in unserer Außenpolitik. Und die Position der Regierung ist, daran festzuhalten, ungeachtet der innenpolitischen Entwicklung in der Türkei."
    Finnen und Türken haben kaum Berührungspunkte
    Auch die in Deutschland und Europa zum Teil massive Kritik am Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei wurde in Finnland kaum geteilt. Der Deal zeigte Wirkung, denn seitdem kommen weniger Flüchtlinge in das nordeuropäische Land. Das genügt. Es gibt keinen Dissens in der finnischen Türkeipolitik, vielmehr eine lange gemeinsame Linie.
    "Paavo Lipponen, Alexander Studd, die beiden Premierminister und Olli Rehn als EU-Erweiterungskommissar standen seinerzeit für den Türkei-Beitritt, allerdings zu einer sehr anderen Zeit. Damals war es einfach, über eine türkische Mitgliedschaft zu sprechen."
    Die Finnen seien ohne jegliche Vorbehalte gegenüber der Türkei, was auch an der geografischen Entfernung läge. Da Finnen und Türken kaum in Kontakt kommen, gibt es auch keine Konflikte, vermutet Johanna Vuorelma. Anders als in Deutschland oder auch in Österreich, wo sehr viel mehr Einwanderer aus der Türkei leben.
    Einen Widerspruch erkennt die Türkei-Spezialistin allerdings. Finnische Medien würden zwar sehr prominent über die Verhaftungen deutscher Staatsbürger in der Türkei berichten, an der finnischen Außenpolitik aber ändere das nichts.
    Helsinki will vor allem den Dialog fortsetzen
    Der Vorsitzende des außenpolitischen Komitees des Parlaments Matti Vanhanen bestätigt indirekt die Kritik der Türkei-Spezialistin, er verteidigt den Kurs:
    "Unser Außenminister hat es so ausgedrückt: Der Dialog muss fortgesetzt werden, da das Abbrechen von Verhandlungen keine Lösung ist. Das heißt, er hat den Abbruch an sich nicht abgelehnt, aber er hat festgestellt, dass ein Abbruch keine Lösung ist."
    Matti Vanhanen steht an einer Treppe im Parlament in Helsinki
    Matti Vanhanen im Parlament in Helsinki (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    Ob Beitrittsverhandlungen oder ein anderes Gesprächsformat - wichtig sei, den Kontakt zu Ankara nicht zu verlieren.
    Aber auch in Helsinki befürchtet man, dass sich das Land immer weiter von einer EU-Mitgliedschaft entfernt. Johanna Vuorelma ist wegen der vielen Verhaftungen von ausländischen Besuchern in der Türkei vorsichtig geworden, die Finnin reist seit einiger Zeit nicht mehr an den Bosporus.
    "Sie haben eine Liste, auf der jeder steht, der über die Türkei etwas geschrieben oder sich öffentlich geäußert hat. In meiner Promotionsarbeit ging es um türkische Außenpolitik. Deswegen riskiere ich im Moment lieber keine Türkei-Reise."
    Fehlende Solidarität mit Deutschland wirft die Türkei-Expertin der finnischen Regierung nicht vor. Es gehe eher um Kontinuität, um Abwarten, um Vorsicht vor vielleicht übereilten Schritten.