Donnerstag, 25. April 2024

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Abzug der USA aus Afghanistan bis 31.August
Politologe Hamilton: "Das ist nicht das letzte Wort"

US-Präsident Joe Biden habe sich beim Termin für den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan noch nicht endgültig festgelegt, sagte der Politologe Dan Hamilton im Dlf. Es wäre überraschend, wenn es beim derzeitigen Zeitplan bliebe. Es gebe ja auch Gespräche mit den Taliban.

Dan Hamilton im Gespräch mit Stefan Heinlein | 25.08.2021
US-Soldaten bei der Evakuierungsaktion auf dem Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul, Afghanistan
US-Soldaten bei der Evakuierungsaktion auf dem Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul, Afghanistan (dpa / UPI / Sgt. Samuel Ruiz)
5.800 US-Soldaten schützen derzeit den Flughafen in Kabul und die Abläufe dort. Ohne sie sind Evakuierung aus Afghanistan nicht mehr möglich. US-Präsident Joe Biden hat nun angekündigt, daran festzuhalten, dass bis zum 31. August alle US-Soldaten aus Afghanistan abgezogen werden sollen. Der Hauptgrund, so Biden, sei die wachsende Sorge vor Anschlägen. Jeder Tag bringe wachsende Risiken, sagte Biden. Aber der US-Präsident hält sich auch die Möglichkeit offen, den Einsatz zu verlängern, berichtete Dlf-Korrespondentin Doris Simon . Denn auch in den USA gibt es Zweifel, etwa bei einigen Demokraten, dass bis zum 31. August die Evakuierung abgeschlossen sein können. Inzwischen halte sich CIA-Chef William Burns in Kabul zu Gesprächen mit den Taliban auf, der unter anderem mit deren politischen Führer gesprochen habe.
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Keine Entscheidung unter dem Druck der Taliban

Er wäre überrascht, wenn es bei diesem Zeitplan bleiben würde, sagte der Politologe Dan Hamilton von der Johns Hopkins Universität. Er glaube, dass sich der Abzug verlängern werde, "aber wie und wo wissen wir noch nicht". Biden habe auf dem G7-Treffen im Prinzip nur gesagt, "wir wollen so schnell wie möglich unsere Truppen evakuieren, wir haben einen Zeitplan, wenn der Zeitplan sich als nicht implementierbar erweist, dann ändern wir diesen Zeitplan". An diesem Punkt sei man aber noch nicht.
Die Entscheidung zum Abzug habe Biden selbst getroffen und nicht unter dem Druck der Taliban, betonte Hamilton. "Er hat die Verantwortung dafür. Das wird nicht gesetzt von den Taliban. Und er möchte es so rasch wie möglich machen". Die USA seien nach Afghanistan gegangen, weil es Terroranschläge gab auf amerikanische Bürger. Wenn es jetzt kurz vor dem 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 wieder Anschläge auf amerikanische Bürger oder Soldaten geben sollte, dann wäre das "verheerend für Joe Biden, aber auch nicht akzeptabel für das amerikanische Volk", erläuterte Hamilton.
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Das amerikanische Volk will den Anzug

"Das amerikanische Volk, die öffentliche Meinung, die Wählerschaft" seien für den Abzug gewesen. "Die waren schon lange müde, satt könnte man sagen, mit den unendlichen Kriegen. Biden hat das gespürt. Er persönlich war auch gegen eine Verlängerung des Krieges." Wie das jetzt zustande gekommen sei, da könne man aber sagen: "Die haben das doch vermasselt." Die öffentliche Unterstützung sei deswegen jetzt gerade gesunken, sagte Hamilton, aber der Abzug aus Afghanistan werde im Prinzip von einer wirklich großen Mehrheit des amerikanischen Volkes unterstützt.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit der NATO

Bedenken sollte man auch, dass es nicht nur eine amerikanische Entscheidung war. "Die NATO-Alliierten waren alle dabei. Die Parole war über die letzten 20 Jahre, wir gehen zusammen rein, wir gehen zusammen raus", sagte Hamilton. Die Europäer seien genau so wie die Amerikaner von diesem Zusammenbruch betroffen und man müss sich fragen, wozu die Europäer bereit sind. "Die Afghanistan-Politik ist nicht eine amerikanische Politik, sondern NATO-Politik", sagte Hamilton. "Es war der Artikel fünf. Es war das erste Mal, dass die NATO-Alliierten die Schutzklausel vom nordatlantischen Vertrag eingesetzt haben. Die Glaubwürdigkeit der ganzen NATO steht hier auf dem Spiel, nicht nur von den USA."

Das Interview in voller Länge:

Stefan Heinlein: Sie haben Joe Biden auch gerade gehört. Er macht seine Ankündigung wahr und zieht die US-Truppen bis Ende August vollständig ab aus Afghanistan. Warum hat es der Präsident so eilig, die Soldaten in die Heimat zu bringen?
Hamilton: Wie der Präsident sagte: Er fürchtet, es könnte Anschläge geben gegen die Truppen von ISIS. Es sind noch Terrorzellen in Afghanistan und je länger die Truppen da verwundbar sind an einem Flughafen, steigt das Risiko, dass Anschläge kommen. Aber er hat sich offengelegt, wie Frau Simon gerade sagte. Er sagte, das ist immer noch der Fahrplan, aber das Ziel ist das wichtigste. Und wissen Sie, ich glaube, die Ereignisse rasen voran und jede Seite spielt ein bisschen auf Zeit. William Burns ist im Gespräch mit der Taliban-Führung und es könnte sich schon einiges ändern, dass sie doch irgendwie abmachen, dass es einige Tage länger dauert. Ich glaube, das ist nicht das letzte Wort, was wir heute gehört haben.

"Er selber hat die Entscheidung getroffen"

Heinlein: Angst vor Anschlägen, der Schutz der eigenen Soldaten, das scheint im Vordergrund zu stehen. Ist Joe Biden – diesen Eindruck könnte man ja bekommen – eingeknickt vor der Drohung der Taliban, 31. August als rote Linie für einen Abzug?
Hamilton: Nein. Ich glaube, er hat selber die Entscheidung getroffen, dass die Truppenpräsenz in Afghanistan so schnell wie möglich zum Ende kommen sollte. Er hat diese Entscheidung getroffen. Er hat die Verantwortung dafür. Das wird nicht gesetzt von den Taliban. Und er möchte es so rasch wie möglich machen. Wir sind in Afghanistan, weil es Terroranschläge gab auf amerikanische Bürger, und Sie können sich vorstellen, kurz vor dem 20. Jahrestag am 9. 11. wieder Terroranschläge auf amerikanische Bürger, Soldaten, was auch immer, das wäre verheerend für Joe Biden, aber auch nicht akzeptabel für das amerikanische Volk.

"Nicht nur eine amerikanische Entscheidung"

Heinlein: Welche Rolle spielt der innenpolitische Druck in den USA für die Abzugsentscheidung von Joe Biden? Sind die Amerikaner kriegsmüde, gerade mit Blick auf Afghanistan?
Hamilton: Ja. Es zeigte sich, das amerikanische Volk, die öffentliche Meinung, die Wählerschaft war für diese Entscheidung. Die waren schon lange müde, satt, könnte man sagen, mit den unendlichen Kriegen. Biden hat das gespürt. Er persönlich war auch gegen eine Verlängerung des Krieges. Wie die das jetzt implementiert haben, die haben das doch vermasselt, könnte man sagen. Die öffentliche Unterstützung jetzt gerade ist gesunken. Der Abzug aus Afghanistan wird aber im Prinzip unterstützt von wirklich einer großen Mehrheit des amerikanischen Volkes.
Heinlein: Man hat es vermasselt, sagen Sie, Herr Hamilton. In vielen Kommentaren gerade hier in Europa wird der Abzug aus Kabul, diese Bilder, diese dramatischen Bilder vom Flughafen verglichen mit Saigon 1973, dem Abzug aus Vietnam. Hinkt dieser Vergleich oder gibt es auch aus Ihrer Sicht, aus amerikanischer Sicht da durchaus Parallelen?
Hamilton: Es sind einige Unterschiede. Der Abzug aus Saigon war einige Jahre nach Ende des Krieges. Es war nicht das Ende. Da ist ein Zeitunterschied zu sehen. Hier gab es einfach diesen rasend schnellen, unerwarteten Kollaps von der Regierung, aber es war nicht nur eine amerikanische Entscheidung. Die NATO-Alliierten waren alle dabei. Die Parole war über die letzten 20 Jahre, wir gehen zusammen rein, wir gehen zusammen raus. Und ich meine, wenn Sie mir erlauben zu sagen, die Europäer sind so konfrontiert wie die Amerikaner von diesem Zusammenbruch und man muss sich fragen, wozu die Europäer auch bereit sind, da wir jetzt vor einer ganz anderen Lage stehen.

"Dann ändern wir diesen Zeitplan"

Heinlein: Aber klar ist, ohne die Amerikaner werden die Evakuierungen aus Kabul nicht weitergehen, und deswegen war heute ja auf dem G7-Gipfel der Druck aus Berlin, aus Paris und London sehr groß auf Washington, dass man noch weitermacht über den 31. August hinaus. Warum ist der Präsident auf die Forderung der Alliierten jetzt nicht eingegangen, sondern pokert noch ein wenig, wenn ich Ihre erste Antwort richtig im Kopf habe?
Hamilton: Wissen Sie, es sind bestimmt Verhandlungen im Gange. William Burns ist in Kabul, er redet mit den Taliban, mit deren politischer Führung. Man kann nicht sagen, warum würde Biden bei einem Gipfel mit anderen sich festlegen wollen, wenn die Ereignisse so schnell vorankommen. Ich glaube, es ist besser, ehrlich gesagt, nichts mehr zu sagen, zu sagen, wir wollen so schnell wie möglich unsere Truppen evakuieren, die anderen evakuieren, wir haben einen Zeitplan, wenn der Zeitplan sich als nicht implementierbar erweist, dann ändern wir diesen Zeitplan. Aber sie sind noch nicht an dem Punkt, an einem Dienstag bei einem G7-Treffen sich festlegen zu müssen. Das musste er nicht heute. Das bedeutet aber nicht, dass das nicht verlängert wird, wie ich sagte. Ich glaube, man sollte warten, dass die Ereignisse immer weiter sehr schnell vorankommen, und ich wäre überrascht, wenn wir wirklich mit diesem Zeitplan arbeiten werden. Ich glaube, es wird sich verlängern, aber wie und wo wissen wir noch nicht.

"Glaubwürdigkeit der NATO steht auf dem Spiel"

Heinlein: Können Sie erklären, worin sich die aktuelle Afghanistan-Politik von Joe Biden von der seines Vorgängers Donald Trump unterscheidet? Diese Frage wird hier in Europa immer lauter gestellt.
Hamilton: Ein Problem war natürlich, dass Trump Verhandlungen angefangen hatte mit der Taliban-Führung, und das hat die Kabul-Regierung unterminiert, die Glaubwürdigkeit der Kabuler Regierung war fix und fertig. Weil wenn die engsten Alliierten schon mit dem Gegner verhandeln, ohne dass die Kabuler Regierung mit am Tisch sitzt, das ist schon ein Problem. Bevor Joe Biden ins Amt gekommen ist, war es ziemlich klar, diese Regierung hat wenig Zeit mehr. Und wie ich sagte: Das amerikanische Volk wollte, dass man einfach abzieht. Trump hat es nicht vollendet und diese Verhandlungen haben nur zu nichts geführt. Die haben eigentlich nur die Glaubwürdigkeit der Regierung unterminiert. Es war auch eine Frage von den Alliierten. Die Afghanistan-Politik ist nicht eine amerikanische Politik, sondern NATO-Politik. Es war der Artikel fünf. Es war das erste Mal, dass die NATO-Alliierten die Schutzklausel vom nordatlantischen Vertrag eingesetzt haben. Die Glaubwürdigkeit der ganzen NATO steht hier auf dem Spiel, nicht nur von den USA.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.