Donnerstag, 25. April 2024

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Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte
Fiedler: Zu vielen Menschen kann kein Kontakt gehalten werden

Sven Fiedler vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte geht davon aus, dass Ortskräfte und ihre Familien zurückbleiben werden, weil sie es angesichts der Sicherheitslage nicht nach Kabul schaffen. Selbst ausreiseberechtigte Menschen würden am Flughafen nicht durchgelassen, sagte er im Dlf.

Sven Fiedler im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 24.08.2021
Seit über einer Woche fliegt die Bundeswehr Menschen aus Afghanistan aus. Die Bundesregierung steht in der Kritik, weil sie afghanische Ortshelfer und andere gefährdete Afghanen nicht schon vor der Machtübernahme der militant-islamischen Taliban ausgeflogen hat.
Wegen der dramatischen Situation am Flughafen Kabul und der teils blockierten Zugänge durch die Taliban auf der einen Seite und den US-Kräften auf der anderen Seite, ist die Bundeswehr nun auch außerhalb des Flughafens im Einsatz, um Menschen zu den Evakuierungsflügen zu bringen.
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Mitarbeiter des Patenschaftsnetzwerks für afghanische Ortskräfte hatten in der Vergangenheit - und verstärkt in den letzen Tagen - mehrfach Alarm geschlagen und sich darüber beklagt, dass die Ortskräfte von Deutschland im Stich gelassen würden. Sven Fiedler war als Soldat der Bundeswehr in Afghanistan und ist jetzt Mitarbeiter beim Patenschaftsnetzwerk für afghanische Ortskräfte. Im Dlf sagte er, dass sie derzeit wenig über den konkreten Verbleib einiger Ortskräft wüssten, da die Telefon- und Internetverbindung in Kabul relativ schlecht sei. Zudem herrsche aufgrund der Besetzung durch die Taliban Panik.
"Das andere ist, dass wir auch keine Zahlen haben über die Menschen, die schon gerettet wurden, bei wie vielen es sich davon um Ortskräfte handelt, weil das anscheinend nicht so korrekt kontrolliert werden kann am Flughafen, was wir auch verstehen", so Fiedler.

Einige Ortskräfte werden zurückbleiben

Er geht davon aus, dass derzeit noch Ortskräft im Land seien, die es nicht nach Kabul geschafft hätten und somit auch kaum eine Chance auf eine Evakuierung hätten. Es gebe aber auch Menschen, die es zum Flughafen schafften, auf Ausreiselisten stünden, dann aber nicht durchgelassen würden. "Oft ist es so, dass sie sagen, sie waren jetzt drei Tage am Flughafen, wurden vom Auswärtigen Amt angerufen oder vom Krisenstab und wurden am Tor nicht reingelassen, und fragen uns um Hilfe", so Fiedler.
Das Patenschaftsnetzwerk werde auch von Helfern kontaktiert, die für Entwicklungshilfe- und humanitäre Organisationen gearbeitet haben. "Wir versuchen, zumindest Kontaktdaten weiterzuleiten an das Auswärtige Amt oder an die anderen Behörden", sagte Fielder. Aber: "Stand jetzt müssen wir allerdings den Menschen auch immer mitteilen, dass sie nach unserem Wissen immer noch kein Anrecht auf ein Visa für Deutschland haben und damit de facto auch keine Chance, theoretisch nach Deutschland auszureisen."

Das Interview im Wortlaut
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Fiedler, was wissen Sie denn über den Verbleib der Ortskräfte der Bundeswehr? Sind da mittlerweile alle aus Kabul herausgeholt?
Fiedler: Leider wissen wir herzlich wenig über den konkreten Verbleib, da zum einen die Telefon- und Internetverbindung in Kabul relativ schlecht ist zurzeit, und zum anderen durch die Panik, die durch die Besetzung mit den Taliban eingetreten ist, wir zu vielen Menschen auch keinen Kontakt halten konnten. Das ist das eine Problem.
Das andere ist, dass wir auch keine Zahlen haben über die Menschen, die schon gerettet wurden, bei wie vielen es sich davon um Ortskräfte handelt, weil das anscheinend nicht so korrekt kontrolliert werden kann am Flughafen, was wir auch verstehen. Aber dadurch ist es für uns extrem schwer zu sagen, wie viele Ortskräfte aus Kabul gerettet wurden. Und wenn man den Bogen größer spannt, ist es für uns auch überhaupt nicht absehbar von diesen Ortskräften, die in ganz Afghanistan waren, wie viele es davon überhaupt nach Kabul geschafft haben.
Heckmann: Das heißt, Sie gehen davon aus, dass in Kabul und auch über Kabul hinaus noch Ortskräfte der Bundeswehr verbleiben, die aktuell zur Stunde auf Rettung warten?
Fiedler: Ja, definitiv. Als Kundus und Masar-i-Scharif – das sind die Städte, wo wir die meisten Ortskräfte der Bundeswehr hatten – gefallen sind, da wussten wir auf jeden Fall, dass noch sehr viele Familien und Ortskräfte dort waren und die es wahrscheinlich nicht nach Kabul geschafft haben. Zum anderen: Seit diese Evakuierungsaktion läuft, ist der Zugang zum Flughafen streng reglementiert, zum einen durch die Taliban, aber auch durch die extremen Menschenmassen, die sich versammeln, die verzweifelt versuchen, irgendwie in die Flugzeuge zu kommen. Dadurch ist es auch absolut verständlich für die Kräfte vor Ort, die versuchen, die Ortskräfte und die deutschen Staatsbürger rauszuholen, so gut wie unmöglich, gezielt Ortskräfte in die Flugzeuge zu bekommen.
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Versuchen minderjährige Kinder von Ortskräften aus dem Land zu bekommen

Heckmann: Sie haben gerade gesagt, Herr Fiedler, es ist schwierig, derzeit Kontakt zu halten zu den Ortskräften, die noch im Land sind, weil auch die Telefonverbindungen schwierig sind und gestört sind. Aber mit wem haben Sie noch Kontakt? Können Sie ein Beispiel nennen, um es ein bisschen plastisch zu machen, ohne Namen zu nennen?
Fiedler: Wir haben zu vielen Menschen Kontakt. Ein ganz plastisches Beispiel für uns, was uns sehr beschäftigt hat, sind drei minderjährige Kinder von einer Ortskraft, deren Ausreisedokumente zum Zeitpunkt der Einnahme von Kabul noch nicht fertig waren. Da ist die Familie vorausgeflogen, weil die Visa schon erteilt wurden, mit der Absicht, in Deutschland schon mal alles vorzubereiten für die Kinder, eine Wohnung zu beziehen wie auch immer, und die Kinder wurden bei den Verwandten, in diesem Fall bei einem Onkel in Kabul gelassen und man ging fest davon aus, dass die Kinder nachkommen können. Jetzt haben wir die Schwierigkeit, dass die Visa nach wie vor nicht erteilt sind und die Familie händeringend versucht, ihre Kinder auch mit nach Deutschland zu bekommen. Das ist so ein ganz klassischer Fall, den wir gerade haben, wo man auch schwer helfen kann und wo man sieht, wie verzweifelt die Menschen sind. Einerseits würden sie gerne den ganzen Tag am Flughafen stehen und versuchen, in dieses Flugzeug zu kommen; andererseits ist gerade für Kinder die Situation am Flughafen extrem gefährlich.
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Heckmann: Das ist eine schlimme Situation für diese Familie, die Sie wahrscheinlich auch mitnimmt. Haben Sie noch ein anderes Beispiel? Können Sie von einem anderen Beispiel berichten?
Fiedler: Beispiele gibt es viele. Oft werden wir angerufen oder angeschrieben und es wird gesagt, dass die Leute Ortskräfte sind, visaberechtigt und fragen. Oft ist es so, dass sie sagen, sie waren jetzt drei Tage am Flughafen, wurden vom Auswärtigen Amt angerufen oder vom Krisenstab und wurden am Tor nicht reingelassen, und fragen uns um Hilfe, was wir ihnen raten können, an welches Tor man gehen soll, ob es einen Code oder ein Barcode gibt, den sie vorzeigen können, welche Dokumente sie brauchen. Das ist der Durchschnittsfall, dass gerade die berechtigten Menschen, die auf den Ausreiselisten stehen, angerufen werden, dass die am Tor nicht durchgelassen werden und dann vermehrt versuchen, mit uns Verbindung aufzunehmen, damit wir irgendwie ihnen den Kontakt ermöglichen, dass sie abgeholt werden, was zum jetzigen Zeitpunkt wir leider nicht können.

"Die Situation am Flughafen ist wahnsinnig gefährlich, gerade für Familien mit Kindern"

Heckmann: Was sagen Sie denn diesen Leuten? Was raten Sie?
Fiedler: Leider muss ich da der Linie des Auswärtigen Amts folgen, zumindest nach den Mails, die wir gesehen haben, und die sagen, der Einlass kann derzeit nicht garantiert werden – entweder durch Taliban-Patrouillen oder Checkpoints vorm Flughafen, oder durch die US-Kräfte, die zum Teil die Dokumente, die gezeigt werden, nicht anerkennen. Das Auswärtige Amt rät – zumindest habe ich solche E-Mails weitergeleitet bekommen -, dass die Menschen zuhause bleiben und erst mal warten, bis die Situation sich entspannt. Das ist auf jeden Fall eine Position, die ich gut nachvollziehen kann, weil wir sehen immer wieder Bilder oder kriegen Bilder zugeschickt von Ortskräften, die im Gedränge schwer verletzt werden. Man hört immer wieder von Toten, die bei Paniken entstehen. Die Situation am Flughafen ist wahnsinnig gefährlich, gerade für Familien mit Kindern, und ich denke, das einzige, was die Menschen wirklich effektiv machen können und was ich ihnen mit gutem Gewissen raten kann, ist, dass sie zuhause bleiben und warten, ob sich die Situation irgendwie regelt.
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Heckmann: Zuhause bleiben und warten, bis sich die Situation entspannt. Auf der anderen Seite, Herr Fiedler, scheint sich jetzt das Zeitfenster für Evakuierungen zu schließen. Die Taliban haben gestern ganz klipp und klar gesagt, nächsten Dienstag, am 31. 8. Ist Schluss. Was ist da für die kommenden Tage zu befürchten?
Fiedler: Was wir befürchten, aber das befürchten wir schon eine ganze Weile, dass es genauso weitergeht. Man wird irgendwie versuchen, ein paar Staatsbürger auszufliegen. Man wird irgendwie die Leute ausfliegen, die es zum Flughafen schaffen. Aber gerade wenn man weiß, dass dieses Zeitfenster sich schließt, dann wird sich in unseren Augen zumindest die Lage vorm Flughafen nicht entspannen. Die Menschen werden weiter verzweifelt versuchen, irgendwie reinzukommen, und damit diesen einzigen Weg, den die berechtigten Ortskräfte haben, nach Deutschland zu kommen, für sie faktisch verschließen. Darum gehen wir nicht davon aus, dass hier weiter in einem signifikanten Ausmaß Ortskräfte gerettet werden können, weil die Situation am Flughafen das einfach nicht hergibt.

Helfer humanitärer Organisationen haben derzeit kein Anrecht auf ein Visum

Heckmann: Die Ortskräfte der Bundeswehr, Herr Fiedler, sind ja das eine. Es gibt aber auch Helferinnen und Helfer von Entwicklungshilfe- und humanitären Organisationen. Wie ist da aus Ihrer Sicht der Stand? Was wissen Sie darüber?
Fiedler: Die wenden sich auch sehr viel an uns. Wir versuchen, zumindest Kontaktdaten weiterzuleiten an das Auswärtige Amt oder an die anderen Behörden. Stand jetzt müssen wir allerdings den Menschen auch immer mitteilen, dass sie nach unserem Wissen immer noch kein Anrecht auf ein Visa für Deutschland haben und damit de facto auch keine Chance, theoretisch nach Deutschland auszureisen. So ist unser derzeitiger Wissensstand. Das müssen wir auch den Ortskräften sagen, die außerhalb des Berechtigungszeitraumes uns anschreiben.
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Heckmann: Die gibt es weiterhin? Es gibt weiterhin Leute, die eigentlich für Bundeswehr oder für das Entwicklungshilfeministerium gearbeitet haben, aber trotzdem keine Berechtigung haben, Visa ausgestellt zu bekommen?
Fiedler: Genau, weil sie zum Beispiel vor 2013 für die Bundeswehr gearbeitet haben oder vor 2019 fürs Auswärtige Amt. So etwas gibt es. Davon gibt es eine ganze Menge.

"Aber moralisch ist das aus unserer Sicht absolut falsch"

Heckmann: Kann das so bleiben?
Fiedler: Offensichtlich kann das so bleiben. Das ist ja relativ leicht in Gesetze zu gießen oder nicht, indem man die Situation aussitzt. Aber moralisch ist das aus unserer Sicht absolut falsch, weil die Taliban keinen Unterschied machen, ob jemand vor drei oder vor sieben Jahren für die NATO gearbeitet hat.
Heckmann: Die Taliban sagen jetzt allerdings auch, sie verzeihen allen, die gegen uns waren. Es dürfen auch alle das Land verlassen, die wollen. Wieviel Glauben schenken Sie einer solchen Beteuerung?
Fiedler: Ich denke, da die Taliban eine sehr heterogene Gruppe sind, dass es bestimmt Kräfte innerhalb der Taliban gibt, die das auch ernst meinen und die für Entwicklungshilfegelder diesen Schein aufrecht erhalten wollen, dass man den Menschen die Ausreise ermöglicht und den Menschen verzeiht. Andererseits: Aus vielen besetzten Gebieten erhalten wir jetzt schon Nachrichten, dass die Taliban bewusst nach ehemaligen Ortskräften oder Helfern der ausländischen Mächte suchen, dass sie zum Teil aus ihren Häusern vertrieben werden, erpresst werden, verprügelt werden. Ganz vereinzelt hat man sogar schon Nachrichten von Hinrichtungen bekommen. In einzelnen Fällen kann man denen vielleicht glauben und manche Menschen mögen Glück haben, aber ich glaube, für sehr viele trifft das leider nicht zu und die werden sehr unter den Taliban leiden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.