Dienstag, 23. April 2024

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Achim Kessler (Linke) zu Corona-Maßnahmen
"Diese Hinterzimmer-Kungeleien der Kanzlerin müssen aufhören"

Die neuen Corona-Maßnahmen sind beschlossen – von der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Der Linken-Gesundheitspolitiker Achim Kessler kritisiert jedoch im Dlf, dass Einschränkung von Freiheitsrechten nicht an den Parlamenten vorbei getroffen werden dürften.

Achim Kessler im Gespräch mit Christiane Kaess | 16.10.2020
Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder zu steigenden Infektionszahlen und weiteren Corona-Maßnahmen eine Pressekonferenz.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte das weitere Vorgehen in der Pandemie mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Bundesländer abgestimmt (AFP POOL)
Bei dem Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten wurden neue Maßnahmen zur Eindämmung der sich wieder stärker ausbreitenden Pandemie beschlossen. Dabei lag der Fokus auf mehr Einheitlichkeit zwischen den Bundesländern. Das hat man in ein paar Punkten geschafft. Die Zahl der Neuinfektionen, ab der dann schärfere Maßnahmen greifen, gilt jetzt bundeseinheitlich. Und auch die Maßnahmen selbst, die die Maskenpflicht oder öffentliche und private Veranstaltungen betreffen. Nicht weitergekommen ist man bei der Frage der Beherbergungsverbote. Es kam dennoch Bewegung in die Sache, denn der Verwaltungsgerichtshof Mannheim und das niedersächsische Oberverwaltungsgericht kippten gestern das Beherbergungsverbot für Baden-Württemberg und Niedersachsen.
Achim Kessler, Obmann der Linken im Gesundheitsausschuss des Bundestages, begrüßt diese Entscheidung. Denn seiner Auffassung nach fahre die Bundesregierung nur auf Sicht, ohne eine langfristige Strategie zu verfolgen. Zudem beklagte er im Deutschlandfunk, dass die Maßnahmen ohne Einbeziehung des Parlamentes stattfinden.
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Christiane Kaess: Herr Kessler, fühlen Sie sich als Abgeordneter auch übergangen?
Achim Kessler: Das ist ja weniger eine Frage, ob ich mich als Abgeordneter übergangen fühle. Ich finde, es ist einer der grundlegenden Fehler, dass die Bundesregierung die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nicht mehr im Bundestag zur Diskussion stellt. Diese Hinterzimmer-Kungeleien der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten müssen aufhören, die müssen beendet werden. Wir müssen zurück zu einerseits demokratischen Entscheidungen. Wir brauchen aber auch eine öffentliche Debatte, die Transparenz herstellt über die Wirksamkeit der Maßnahmen. Und – das ist auch ein ganz wesentlicher Punkt – die Einschränkung von Freiheitsrechten dürfen nicht an den Parlamenten vorbei getroffen werden.
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Kaess: Darf ich mal kurz einhaken? Würde dieser Prozess, den Sie sich wünschen, nicht viel zu lange dauern, wenn jetzt doch Schnelligkeit gefragt ist?
Kessler: Da bin ich genau bei meinem zweiten grundlegenden Kritikpunkt. Die Bundesregierung muss aufhören, immer nur auf Sicht zu fahren. Ich habe im Gesundheitsausschuss mehrfach die Bundesregierung gefragt, welche Szenarien sie denn für unterschiedliche Verläufe der Pandemie hat. Das habe ich zum ersten Mal vor einem halben Jahr gefragt. Ich habe darauf nie eine Antwort bekommen und ich habe immer ein bisschen die Vermutung gehabt, dass es vielleicht daran liegt, dass sie die nicht veröffentlichen wollen, um niemanden zu verunsichern.
Mittlerweile bin ich aber zu der Überzeugung gekommen, dass die Bundesregierung einfach schlicht und ergreifend keine Szenarien entwickelt hat. Beispielsweise war für die Bundesregierung überraschend, dass Urlauber, die ins Ausland verreisen in den Sommerferien und dann auch wieder zurückkommen.
Die Bundesregierung wurde dann überrascht vom Herbstanfang. Das heißt, meine Vermutung ist, es gibt keine Vorbereitung innerhalb der Bundesregierung für unterschiedliche Verläufe der Pandemie. Das halte ich für verantwortungslos. Wir brauchen jetzt eine öffentliche Diskussion über alle möglichen Maßnahmen. Wir müssen die Transparenz herstellen, damit wir die Menschen überzeugen können, die entsprechenden Maßnahmen auch einzuhalten. Und wir brauchen eine demokratische Kontrolle. Es kann nicht sein, dass in einer solchen Situation wichtige Entscheidungen durch Verordnungen des Gesundheitsministeriums getroffen werden.
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Kaess: Herr Kessler, genau dazu haben sich ja gestern die Gerichte eingeschaltet, konkret ein Gericht in Baden-Württemberg und in Niedersachsen, und haben die Beherbergungsverbote für diese Bundesländer gekippt. Waren Sie froh darüber?
Kessler: Ich war sehr, sehr froh darüber. Der Verlauf, wie das zustande gekommen ist, dieses Verbot, dass Menschen übernachten können in bestimmten Ländern – wenn man sich das einmal überlegt. Es wird verkündet und tritt am nächsten Tag in Kraft und muss dann nach kürzester Zeit wieder zurückgenommen werden, weil die Wirksamkeit bezweifelt wird. Einen schlimmeren Schaden kann ich bei der Bevölkerung überhaupt nicht anrichten. Und auch die Maßnahme an sich ist ja gar nicht konsistent.
Zum Beispiel ist es nicht erlaubt für Berliner, in Brandenburg zu übernachten, aber es ist erlaubt, dass Brandenburger nach Berlin pendeln. Da merkt man, wie unsinnig diese Maßnahme ist. Ich habe den Eindruck, dass bei den Ministerpräsidenten sehr, sehr oft wahltaktische Überlegungen eine Rolle spielen, dass bei den CDU-Ministerpräsidenten die Konkurrenz um den Vorsitz in der CDU eine große Rolle spielt. Das sind Dinge, die müssen jetzt endlich aufhören. Wir müssen uns jetzt wirklich darauf konzentrieren, gemeinsam die Pandemie zu bekämpfen.
"Diese Regelungen, die halte ich auch für sinnvoll"
Kaess: Bei aller Kritik, Herr Kessler, die Sie da haben – so eindeutig ist die Sache ja auch für die Gerichte nicht. Denn wir haben gerade gesehen, in Schleswig-Holstein wurde genau anders entschieden, was das Beherbergungsverbot betrifft.
Kessler: Es ist aber ja doch so: Der Zentrale Punkt ist, dass man die sozialen Kontakte der Menschen einschränken muss. Das heißt, wir müssen uns jetzt konzentrieren auf Maßnahmen, die das irgendwie schnell und sicher erreichen. Das heißt, wir brauchen über Großveranstaltungen gar nicht mehr reden, die müssen unterbunden werden. Wir brauchen ganz klare Regelungen, wie viele Menschen sich auf einmal begegnen sollen. Diese Regelungen im Übrigen, die jetzt beschlossen worden sind, die halte ich auch für sinnvoll. Und diese Regelungen müssen flächendeckend gelten.
"Durch Zwangsmaßnahmen vielleicht sogar das Gegenteil bewirken"
Kaess: Wie soll der Staat das denn kontrollieren, Herr Kessler? Denn das greift ja sehr, sehr stark in den privaten Bereich ein.
Kessler: Wir können das regeln im öffentlichen Bereich. Damit ist schon sehr, sehr viel gewonnen. Wir müssen zum Beispiel auch regeln, wenn Menschen nicht nur in geschlossenen Räumen, sondern auch auf Plätzen sehr, sehr eng beieinander stehen, dass dann die Abstandsregel gelten muss und eine Maskenpflicht eingeführt werden muss. Ich bin dagegen, für private Räume feste Grenzen gesetzlich festzulegen. Aber ich glaube, dass die meisten Menschen sehr, sehr vernünftig sind und sich an solche dringlichen Empfehlungen auch halten.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Kaess: Im Moment weiß man aber, dass vor allem die Treffen und die Feiern im privaten Bereich die Treiber der Infektionen sind.
Kessler: Ja! Ich setze hier auf die Überzeugungsarbeit in der Bevölkerung. Wenn Sie sich erinnern: In der ersten Pandemie-Welle vor einem halben Jahr haben wir das schon mal erlebt. Die meisten Menschen haben auf Reisen verzichtet. Sehr, sehr viele Menschen sind zuhause geblieben. Ich weiß aus meinem persönlichen Umfeld, dass man es vermieden hat, Freunde, Bekannte, Verwandte zu treffen. Ich glaube, dass die Bereitschaft der Bevölkerung, sich an solche Empfehlungen zu halten, sehr, sehr groß ist. Man darf jetzt nicht den Fehler machen, durch Zwangsmaßnahmen vielleicht sogar das Gegenteil zu bewirken.
"Ich setze da wirklich auf die Aufklärung der Bevölkerung"
Kaess: Aber manche, die sehr tief in der Materie sind, die machen sich da große Sorgen, weil sie gerade sehen, dass die Mobilität einer der Treiber der Pandemie ist, und der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, der hat jetzt sogar gesagt, er könne sich vorstellen, dass es zu Abriegelungen von Risikogebieten kommen könnte. Für Sie vorstellbar?
Kessler: Für mich ist es nicht vorstellbar, dass wir in Deutschland zu einer Situation kommen, wie wir sie beispielsweise in China hatten, dass Menschen in ihrer grundlegenden Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Ich setze da wirklich auf die Aufklärung der Bevölkerung. Dazu brauchen wir eine transparente Diskussion.
Wir müssen deutlich machen, warum diese Maßnahmen erforderlich sind. Wir haben in der ersten Pandemie-Welle wirklich die Erfahrung gemacht, dass die Menschen sich an diese Regelungen dann auch halten, wenn Sie sich erinnern. Ich bin selber sehr, sehr viel mit den öffentlichen Mitteln unterwegs gewesen in der Zeit, weil ich nicht anders konnte als Bundestagsabgeordneter. Ich musste ja nach Berlin kommen. Die Züge, die U-Bahnen, die S-Bahnen waren leer und ich habe das auch so erlebt, dass sehr, sehr viele Menschen sich wirklich sehr eingeschränkt haben, was ihre sozialen Kontakte angeht.
Kaess: Aber wir wissen auch auf der anderen Seite, dass gerade die Urlaubsrückkehrer aus den Sommerferien die Infektionszahlen erhöht haben. Warum sollte das nicht bei innerdeutschen Risikogebieten auch der Fall sein und warum sind Sie dann so strikt dagegen, da auch Einschränkungen vorzunehmen?
Kessler: Wir haben bei den Urlaubsrückkehrern die Situation gehabt, dass es keine Debatte gab, bevor die Menschen in Urlaub gefahren sind. Es gab nur ganz vereinzelte Stimmen, die gesagt haben, …
Kaess: Diese Debatte gab es doch.
Kessler: Aber es gab keine dringende Empfehlung, Reisen grundsätzlich in den Urlaub zu vermeiden, sondern das war eher zurückhaltend, man soll sich dann vorsichtig verhalten, wenn man zurückkommt. Diese große gesellschaftliche Debatte, wie gefährlich das ist, die gab es im Vorfeld nicht. Und vor allem: Man hat dann bei der Rückkehr erst sehr, sehr spät seitens der Bundesregierung Maßnahmen getroffen, wenn Sie sich erinnern. Die Maßnahmen, an den Flughäfen zum Beispiel Tests durchzuführen, die wurden erst eingeführt, da war ein Großteil der Rückkehrer schon längst ins Land zurückgekommen. Das ist wiederum ein Verschulden der Bundesregierung, nicht vorausschauend Pandemie-Bekämpfung zu betreiben, sondern immer erst in der jeweiligen Situation.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.