Samstag, 20. April 2024

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Änderung der Strafprozessordnung
Strafrechtler: Damoklesschwert für den Rest des Lebens

Die Bundesregierung will die Strafprozessordnung ändern. Nach einem Freispruch bei besonders schweren Straftaten soll demnach ein zweites Verfahren möglich werden, wenn neue Beweismittel auftauchen. Der Strafrechtler Ulf Buermeyer sieht das kritisch. Er hofft auf das Veto des Bundespräsidenten.

Ulf Buermeyer im Gespräch mit Sandra Schulz | 25.06.2021
Zwei Bücher zur Strafprozessordnung und zum Strafrecht
Die Strafprozessordnung soll geändert werden - so will es die Bundesregierung (dpa-Zentralbild/ Patrick Pleul)
Die schwarz-rote Koalition hat ein "Gesetz zur Wiederherstellung materieller Gerechtigkeit" beschlossen. Dabei geht es geht um eine Änderung der Strafprozessordnung. Künftig sollen bei allerschwersten Straftaten wie Mord oder Völkermord Strafverfahren auch nach einem Freispruch noch einmal aufgerollt werden können, wenn, so die Formulierung, neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bilden, dass es jetzt doch eine Verurteilung geben wird.
Gegen das Gesetz gibt es viel Kritik aus der Fachwelt – von Anwälten und Strafrechtlern, aber auch von der Opposition. Denn die Änderung geht nach Meinung der Kritiker nicht mit der Verfassung konform. Einer dieser Kritiker ist der Strafrechtler Ulf Buermeyer von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), der als Richter am Berliner Schwurgericht selbst jahrelang mit Mord und anderen schwersten Delikten zu tun hatte.
Mit der von der Regierungskoalition angestrebten Änderung der Strafprozessordnung, "kommt ein zentrales Prinzip unseres Rechtsstaats unter die Räder. Das ist das Doppelbestrafungsverbot", sagte Buermeyer im Deutschlandfunk. Dies stimmt ihn sehr skeptisch, "wie ernst der Gesetzgeber an dieser Stelle noch unsere Verfassung nimmt".

Das Interview im Wortlaut:
Sandra Schulz: Für Sie sind die beschlossenen Änderungen ja ein Tabubruch. Warum?
Ulf Buermeyer: Wissen Sie, ich werde stets skeptisch, wenn der Gesetzgeber allzu pathetisch formuliert, und so liegt es auch hier, denn das Gesetz dient nicht, wie Sie es gerade völlig zurecht zitiert haben, der Herstellung materieller Gerechtigkeit, sondern ganz im Gegenteil. Es kann teilweise die Gerechtigkeit eher gefährden. Und zugleich begibt sich der Gesetzgeber hier auf einen außerordentlich gefährlichen Kollisionskurs mit unserer Verfassung.

Verstoß gegen einen Grundgesetz-Artikel?

Schulz: Warum? Es heißt im Grundgesetz ja wörtlich, niemand darf wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden. Wir sprechen jetzt gar nicht über Fälle, in denen jemand zweimal bestraft werden soll, sondern es geht eigentlich nur um den Prozess.
Buermeyer: Ja, ganz recht. Dieser Grundgesetz-Artikel muss im historischen Kontext verstanden werden. Er ist eine Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus. Deswegen ist auch bis heute unumstritten, dass mit dem Bestrafen nicht nur tatsächlich ein Schuldspruch und beispielsweise eine Gefängnisstrafe gemeint ist, sondern bereits das Strafverfahren. Und wer bereits mal an einem Strafverfahren teilgenommen hat, sei es auch nur als Richter oder als Verteidigerin zum Beispiel, der weiß, dass allein das schon eine enorme Belastung ist.
Deswegen ist die Einigkeit in der Fachwelt übrigens bis heute, dass das Verbot nicht nur einen doppelten Schuldspruch meint, sondern tatsächlich bereits die Durchführung zweier Hauptverhandlungen, und genau darum geht es hier. Wir haben es mit Menschen zu tun, die bereits einmal wegen Mordes oder einer anderen besonders schweren Straftat vor Gericht standen, wo das Gericht sich nicht die Überzeugung der Schuld verschaffen konnte, wo das Gericht diese Menschen freigesprochen hat, und die sollen jetzt für den Rest ihres Lebens quasi unter dem Damoklesschwert leben, dass sie eine weitere Hauptverhandlung mit einem möglichen Schuldspruch über sich ergehen lassen müssen.
Dabei müssen wir uns immer vor Augen führen: Es handelt sich ja nicht notwendigerweise um schuldige Menschen. Ganz im Gegenteil! Wir haben im Strafverfahren bis heute die Unschuldsvermutung. Das heißt, es geht potenziell auch um Menschen, die sich nichts zu Schulden kommen lassen haben. Es ist in einem Rechtsstaat völlig normal, dass man sich zumindest einmal verteidigen muss, aber jedenfalls nicht durch zwei Hauptverhandlungen.

"DNA-Beweismittel haben eine sehr hohe Suggestivkraft"

Schulz: Aber Sie wissen, dass im aktuellen Gesetzgebungsverfahren auch ein Fall eine Rolle gespielt hat, der lange Jahre zurückliegt. Es geht um den Tod einer damals 17-Jährigen. Vor 40 Jahren ist das Verbrechen passiert. Die junge Frau wurde damals vergewaltigt. Es wurde einem Verdächtigten der Prozess gemacht. Das reichte dann nicht aus. Im Revisionsprozess wurde er freigesprochen. Vor rund zehn Jahren wurde der Fall noch mal untersucht und es wurden DNA-Spuren desselben Mannes am Slip des getöteten Mädchens gefunden.
Wenn in solchen Fällen der Täter nicht verurteilt werden kann, obwohl er schon mal freigesprochen wurde, oder gerade aus diesem Grund, aus diesem eigentlich nur formalen Grund, ist das nicht wirklich ungerecht?
Buermeyer: Ich bin mir nicht sicher, Frau Schulz, ob man das soweit verkürzen kann. Natürlich kann man immer einzelne Fälle bilden, die möglicherweise auch ungerecht wirken können. Man muss aber dann auch immer in die Details schauen. Ich möchte jetzt zu diesem konkreten Fall nichts sagen, weil ich die Akten nicht kenne. Ich möchte mich aber zu DNA-Beweismitteln äußern. Die sind natürlich sehr sichere Beweismittel, geradezu faszinierende Beweismittel. Sie haben eine sehr hohe Suggestivkraft. Die Fehlerwahrscheinlichkeit wird oft mit eins zu vier Milliarden angegeben. Das klingt erst mal extrem sicher, aber man muss doch ein wenig genauer hinschauen, denn beweisen lässt sich nur, dass ein bestimmter Gegenstand, zum Beispiel ein Slip oder ein Zigarettenstummel, mit einem bestimmten Menschen Kontakt hatte. Das sagt aber gerade noch nichts darüber aus, wie tatsächlich die Tat abgelaufen ist.
Wie gesagt, überhaupt keine Aussage zum konkreten Sachverhalt. Den kenne ich nicht im Detail. Aber die DNA-Spur alleine ist noch kein Beweis. Sie brauchen beispielsweise auch Zeugenaussagen, um diese DNA-Spur in den Kontext zu setzen. Sie müssen klären, wie ist die sichergestellt worden, wie ist die gelagert worden zum Beispiel. Sie müssen auf der anderen Seite aber auch einem Angeklagten die Möglichkeit geben, zum Beispiel Alibibeweise zu führen. Wenn man sich das einmal vorstellt, nach 40 Jahren Menschen zu finden, die beispielsweise Angaben dazu machen können, wo man sich an dem Abend statt am Tatort aufgehalten hat, das ist extrem schwierig. Deswegen bin ich auch der Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf gerade nicht notwendigerweise der Herstellung der Gerechtigkeit dient, sondern er schafft auch ein signifikantes Risiko von Fehlurteilen.

Bisherige Möglichkeiten einen Freispruch aufzuheben

Schulz: Aber die Veränderungen, die jetzt beschlossen wurden im Bundestag in der vergangenen Nacht, die werden als Dammbruch kritisiert, obwohl das Verfahren ja auch schon nach den jetzt geltenden Regeln wieder aufgenommen werden kann. Warum sagen Sie, warum ist dieser Dammbruch jetzt so eine große Veränderung?
Buermeyer: Die bisherigen Möglichkeiten, um einen Freispruch wieder aufzuheben, beruhen auf zwei zentralen Gründen. Zum einen auf einer Manipulation des Strafverfahrens, wenn es einen Meineid gab zum Beispiel oder eine Rechtsbeugung durch ein Mitglied des Gerichts. Oder, wenn der Beschuldigte ein Geständnis abgelegt hat, wenn er quasi freiwillig verzichtet auf den Schutz des Doppelbestrafungsverbots. Nun wird diesen beiden, aus meiner Sicht völlig nachvollziehbaren, völlig richtigen Durchbrechungen des Doppelbestrafungsverbots eine weitere Fallgruppe hinzugefügt, nämlich die Fallgruppe eines unbefriedigenden Verfahrensausgangs, weil ein neues Beweismittel hinzugekommen ist. Das, muss man sagen, ist tatsächlich ein Dammbruch, denn hier gibt es keine weiteren Grenzen. Natürlich hat der Gesetzgeber jetzt zunächst mal besonders schwere Straftaten ausgewählt, aber ich glaube, wir beide können uns leicht vorstellen, welche anderen Straftaten in der nächsten Legislaturperiode zum Beispiel diskutiert werden könnten, die wir auch völlig zurecht für unerträglich halten und die dann als nächstes zu einer Ausweitung führen.
Dabei kommt ein zentrales Prinzip unseres Rechtsstaats unter die Räder. Das ist das Doppelbestrafungsverbot und das gibt es ja nicht umsonst schon seit römisch-rechtlicher Zeit. Das ist über 2000 Jahre alt und dass das jetzt geopfert wird, quasi auf der Grundlage von drei, zugegebenermaßen sehr tragischen Fällen, das stimmt mich doch sehr skeptisch, wie ernst der Gesetzgeber an dieser Stelle noch unsere Verfassung nimmt. Denn es gibt ja immerhin den Artikel 103 Absatz drei des Grundgesetzes, der ausdrücklich diese Frage klärt, und es war auch 70 Jahre lang eigentlich nicht umstritten unter Verfassungsrechtler*innen, dass das Doppelbestrafungsverbot gilt und nur in den beiden Fallgruppen durchbrochen werden kann, die wir bereits kennen. Dem jetzt eine dritte Fallgruppe an die Seite zu stellen, das lässt von diesem Verfassungsgebot des Artikel 103 Absatz drei unseres Grundgesetzes nicht viel übrig.

"Zunächst davon ausgehen, dass ein Mensch auch unschuldig sein könnte"

Schulz: Ich verstehe Sie so, dass Sie Ihre Sorge vor allem darauf fußen, dass es Unschuldigen passieren könnte, dass ihnen einmal der Prozess gemacht wird, sie freigesprochen werden und sie dann noch mal den Prozess gemacht bekommen. Aber ist das denn wirklich so wahrscheinlich?
Buermeyer: Ehrlich gesagt ist das ein Grundprinzip unseres Strafrechts, dass wir alle Regeln darauf ausrichten müssen, dass wir zunächst einmal davon ausgehen, dass ein Mensch auch unschuldig sein könnte, und das ist tatsächlich auch meine richterliche Erfahrung. Selbst wenn man die Akten liest und den Eindruck gewinnt, da ist jemandem doch sehr genau, mit sehr hoher Plausibilität ein bestimmter strafrechtlicher Vorwurf nachgewiesen worden, dann stellt sich das in der Hauptverhandlung häufig ganz anders dar. Wir haben ja nicht umsonst das Prinzip, dass das Gericht sich seine Meinung bilden muss aufgrund einer mündlichen Hauptverhandlung, aufgrund des persönlichen Eindrucks von Zeuginnen und Zeugen zum Beispiel, und da stellen sich die Dinge häufig doch ganz anders dar.
Insofern würde ich sehr davor warnen, jetzt nicht stets mitzubedenken, dass der Mensch, um den es da geht, tatsächlich unschuldig sein könnte. Denken wir an einen scheinbar sehr plausiblen DNA-Beweis, ein Zigarettenstummel am Tatort. Da denkt man zunächst mal, okay, wenn dieser Mensch doch eine Zigarette am Tatort hinterlassen hat, dann wird er es doch gewesen sein. Es kann aber auch sein, dass er einfach eine halbe Stunde vorher am Tatort war, einfach nur mit seinem Hund spazieren ging. Das kann sich im Strafverfahren dann ganz anders darstellen als nach Aktenlage und deswegen muss man immer darüber nachdenken, ist die Regel, die wir jetzt Gesetz werden lassen, auch einem Menschen gegenüber noch zu rechtfertigen, der sich nichts hat zu Schulden kommen lassen. Unbegrenzt viele Hauptverhandlungen wegen eines Mordvorwurfs – es kann ja theoretisch auch eine dritte geben gegen dieselbe Person -, das halte ich in einem Rechtsstaat nicht mehr für vertretbar.

Hoffen auf Veto des Bundespräsidenten

Schulz: Werden Sie klagen?
Buermeyer: Die Gesellschaft für Freiheitsrechte prüft natürlich alle Gesetze darauf, ob sie verfassungsrechtlich haltbar sind. Es ist verfassungsprozessual allerdings gar nicht so einfach, gegen dieses Gesetz vorzugehen, denn das Bundesverfassungsgericht verlangt völlig zurecht eine persönliche Betroffenheit. Das heißt, da müsste zunächst mal jemand verurteilt worden sein in einem zweiten Durchgang. Ich persönlich setze darauf, dass diese, jetzt beschlossene Änderung gar nicht erst Gesetz wird. Der Bundespräsident prüft alle Gesetze noch mal auf ihre Verfassungskonformität und nach meiner persönlichen Auffassung sollte er die Ausfertigung dieses Gesetzes verweigern, denn der Verstoß gegen Artikel 103 Absatz drei unseres Grundgesetzes ist doch allzu offensichtlich. Das hat der Bundespräsident in dieser Legislaturperiode bereits getan. Ehrlich gesagt hat das meinen großen Respekt ausgelöst und ich persönlich hoffe sehr, dass er dieses Mittel ein zweites Mal einsetzen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.