
Christoph Heinemann: Am Dienstag entschieden die Abgeordneten des britischen Unterhauses, dass Theresa May beim wichtigen Brexit-Vertrag versagt habe. Der Deal wurde abgelehnt. – Gestern sprachen sie der Premierministerin mehrheitlich das Vertrauen aus. Nicht jeder und jedem erschließt sich, wie das zusammenpasst. Unterdessen wird in der Europäischen Union laut über eine zeitliche Befristung der umstrittenen Backstop-Klausel nachgedacht. Dieser sogenannte Backstop soll verhindern, dass zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland wieder eine harte Grenze entsteht.
Am Telefon ist Professor Harald Weyel, der Obmann der AfD im Bundestagsausschuss für europäische Angelegenheiten. Er ist stellvertretender Sprecher der Partei im Rheinisch-Bergischen Kreis. Guten Tag!
Harald Weyel: Schönen guten Tag aus Berlin.
Heinemann: Herr Professor Weyel, wie sollte der Brexit jetzt vonstattengehen?
Weyel: Für den Brexit gab und gibt es ja nun drei Optionen. Die erste wäre die, dass man es angleicht an den EWR-Vertrag, den auch Norwegen und die Schweiz unterschrieben haben und auch praktizieren. Das zweite wäre Kanada plus; das wäre dann ein Freihandelsvertrag. Das erste, EWR, wäre eine Zollunion. Und "No Deal" heißt eigentlich auch nicht wirklich "No Deal", sondern heißt Rückfall auf die Reglements der Welthandelsorganisation WTO, unter der sowieso der Großteil des Welthandels stattfindet.
Heinemann: Wofür wären Sie?
Weyel: Ich würde mal sagen, "WTO plus". Wenn dieses durchschnittliche Zoll-Niveau von drei Prozent greifen würde, so wird der Handel dadurch eher nur marginal beeinflusst im Preiswettbewerb.
"Die Bundesregierung hat es zu schwer gemacht für May"
Heinemann: Das ist genau das, wovor die deutsche Wirtschaft warnt. Warum nehmen Sie Nachteile für die Wirtschaft in Kauf?
Weyel: Ja. Offenbar nimmt ja die Bundesregierung Nachteile für die deutsche Wirtschaft in Kauf. Man kann sagen oder man muss es analogisieren, so wie zum Beispiel die Russland-Sanktionen den Wirtschaftsschaden für Deutschland im Osten bedeutet, so würde der Brexit ohne Deal den Hauptschaden für die deutsche Wirtschaft verursachen. Die Bundesregierung hat es zu schwer gemacht für May und auch vorher für Cameron, einem EWR- oder Kanada-plus-Verfahren zuzustimmen.
Heinemann: Reden wir bitte noch mal über die AfD und den "No Deal". Das haben Sie gerade gesagt. Warum nehmen Sie - Sie, die AfD, Herr Professor Weyel - die Nachteile für die deutsche Wirtschaft in Kauf?
Weyel: Uns als AfD geht es darum, dass die Europäische Union wieder auf die gesunden Grundlagen oder eher gesunden Grundlagen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von einst gestellt wird.
Heinemann: Und dafür nehmen Sie Nachteile für die deutsche Wirtschaft in Kauf?
Weyel: Der Nachteil ist zeitlich eingegrenzt und der Nachteil würde auch kompensierbar sein. Wenn es uns nämlich gelingt, durch diese Pädagogik, die ein "No Deal" mit sich brächte, in der EU die Substanzreformen umzusetzen, die bisher nicht erfolgen konnten - auch mit den Briten.
Heinemann: Und wenn nicht?
Weyel: Und wenn nicht, dann stellt sich eben die Frage, was denn, bitte schön, noch passieren muss, damit endlich diese Verwerfungen, die in der EU schon seit vor Einführung des Euros gegriffen haben und durch den Euro noch verstärkt wurden, das in den Griff zu bekommen? Dann halt ohne Briten beziehungsweise mit dem pädagogischen Beispiel der Briten, die diese Art von Europäischer Union nicht mehr mittragen wollen.
Zweites Referendum ist keine Option
Heinemann: Herr Weyel, eine vierte Option haben Sie jetzt nicht genannt. Ein neues Referendum, das bedeutete, der Bevölkerung die Kontrolle zurückzugeben. Genau das wollten die Brexit-Befürworter. Warum nicht?
Weyel: Es ist ja nun demokratietheoretisch äußerst fragwürdig, so lange abstimmen zu lassen, bis ein entsprechendes Votum erbracht ist. Wir erleben das in anderem Zusammenhang auch zum Beispiel in Mazedonien, wo ja so lange über die Namensfrage abgestimmt wurde, bis dann doch, wenn auch ohne Quorum et cetera., eine solche pseudodemokratische Entscheidung herbeigeführt wird. Die demokratische Entscheidung war, mit 52 Prozent rauszugehen, und das infrage zu stellen, ist gerade im Mutterland der Demokratie eigentlich keine Option gewesen.
Heinemann: Nun liegen jetzt die Fakten auf dem Tisch. Die Konsequenzen sind absehbar. Das war 2016 im Sommer nicht unbedingt der Fall. Wäre es nicht besser, der Bevölkerung die Kontrolle zurückzugeben?
Weyel: Wer sagt, dass die Bevölkerung jetzt keine Kontrolle hat? Es wird eben verstärkt. Sie sprechen jetzt nicht nur der Bevölkerung oder Teilen der Bevölkerung das Wort, sondern auch den Interessen der schottischen Nationalpartei, die eben im Beitrag auch zu hören war im Zusammenhang mit England. Das gilt natürlich auch im innerenglischen Verhältnis. Da gibt es den Begriff der Brinkmanship, dass man in seiner Verhandlungspsychologie und Praxis eben so weit geht, dass man an den Abgrund herantritt und der Gegner durchaus damit rechnen kann, dass man bereit ist, einen Schritt weiterzugehen.
Heinemann: Nun sagt doch die AfD immer, die Bevölkerung müsse viel stärker eingebunden werden, viel stärker plebiszitäre Elemente. Nur in dieser Frage lehnen Sie es jetzt ab?
Weyel: Das Plebiszit ist erfolgt. Die Frage ist doch, dass das Plebiszit sich selbst infrage stellt beziehungsweise von den Regierenden oder von der Opposition infrage gestellt wird, indem so oft abgestimmt werden soll, bis das gewünschte Ergebnis da ist oder ein anderes geworden ist.
Landgrenze zu Nordirland nicht wirklich relevant
Heinemann: Sie sagten eben, das wahrscheinlichste Szenario oder das, was Sie sich wünschen würden, wäre das No-Deal-Szenario. Das hieße Grenzkontrollen an der irischen Grenze. Wären Sie dafür, dass das wieder eine harte Grenze wird?
Weyel: Damit wir uns nicht missverstehen: Ich sagte, "WTO plus". Das heißt schon, dass unsere Regierung beziehungsweise die EU es den Engländern, bitte schön, doch ermöglichen sollte, ihre Konditionen so zu gestalten, dass man einem "Kanada plus" oder "WTO plus" zustimmen könnte. Zur Frage an der nordirischen Grenze: Ich weiß gar nicht, hat die IRA da irgendwelche Statements zu abgegeben? Meines Wissens nicht. Und dieses Wirtschaften mit der Angst, ich glaube, das ist zumindest zu einem guten Teil unbegründet. Außerdem: Vom Faktischen her ist es ja so, dass über 50 Prozent des Handels über See abgewickelt wird. Die hoch dramatische Landverbindung ist einmal ökonomisch von den Transportwegen her nicht wirklich so relevant, wie es dem Betrachter erscheinen mag, und auch das Szenario, dass da ein Rückfall in bürgerkriegsähnliche Geschichten erfolgt. Das ist weder das Interesse der Nordiren, noch der Irischen Republik und auch allem, was da sonst noch aktuell im Raum steht.
Heinemann: Um es noch mal klar zu sagen: Sie wären für eine harte Grenze?
Weyel: Natürlich nicht! Es geht doch um die Vermeidung der harten Grenze. Und wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann ist hier die Frage, wie eine harte Grenze aussieht. Sieht sie so aus wie auf dem Westbalkan, wo letzten Endes auch eine hohe Durchlässigkeit besteht, und zwar nicht nur für legale Personen und Güter et cetera.
EU die Kinderkrankheiten abgewöhnen
Heinemann: Herr Weyel, die AfD fordert eine deutliche Veränderung der Europäischen Union - das haben Sie eben angesprochen - und schließt andernfalls ein Ausscheiden der Bundesrepublik Deutschland aus der EU nicht aus.
Weyel: Richtig.
Heinemann: Wir wollen uns anhören, was der CSU-Politiker Manfred Weber heute früh bei uns im Deutschlandfunk gesagt hat, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei für die Europawahl.
Manfred Weber: Es ist natürlich zentral und wichtig, dass wir deutlich machen, dass man Populisten nicht folgt. Lassen Sie mich das noch sagen, dass in Deutschland die AfD für mich die deutsche Brexit-Partei ist. Sie hat das beschlossen mit dem Dexit auf ihrem Parteitag. Jeder muss wissen, was hinter dieser Partei steht, nämlich britische Verhältnisse, Unsicherheit für unser Land.
Heinemann: Ist der Brexit für Sie ein Vorbild?
Weyel: Der Dexit ist, bitte schön, kein 'L'art pour l'art'. Der steht nicht im Raum um seiner selbst willen, sondern es geht hier um die Verhandlungspsychologie beziehungsweise um die Unterstreichung der Ernsthaftigkeit. Der Großteil unseres Programms dreht sich um nichts anderes als darum, der EU ihre Kinderkrankheiten, die immer schlimmer geworden sind, anstatt ausgefiebert wurden, jetzt bitte mal abzugewöhnen, und zwar in Verbindung mit all den Kräften, die sich ehrlich machen und die ein Interesse am fairen Austausch haben und an einer Beendigung der Umverteilung.
Wir haben bisher keine Krise erlebt, die nicht dazu geführt hätte, dass die Missstände schlimmer geworden sind. Normalerweise müsste doch eine Krise dazu führen, ob das jetzt eine Vor-Brexit-Krise ist, oder eben das, was danach kommen könnte, dass die Hausaufgaben, die ja teilweise über ein halbes Jahrhundert nicht gemacht wurden, nun endlich gemacht würden.
Reformen in der EU sollen erzwungen werden
Heinemann: Herr Weyel, müsste, haben Sie gerade gesagt. Sollte jetzt die EU so bleiben, wie sie ist, dann sollte - das ist die Logik der AfD - Deutschland die Europäische Union verlassen. Und wenn sie so bliebe, wie sie ist, hieße das, dass Deutschland ähnlich ausscheiden würde, wie gegenwärtig das Vereinigte Königreich. Noch mal die Frage: Ist der Brexit für Sie ein Vorbild?
Weyel: Er kann noch kein Vorbild sein, weil wir nun den ganzen Ablauf noch nicht kennen und weil ja auch im Raume steht, dass es noch mal um zwei Jahre verlängert wird, was vielleicht auch nicht wirklich günstig wäre. Wir möchten eine EU, wir möchten die europäische Zusammenarbeit und wir möchten auch eine, wenn schon keine Reform möglich ist, dann eine Neugründung. Und zwar mit den Kräften, die dazu willens und fähig sind. Das neue Europaparlament wird ja ein bisschen anders ausgestaltet sein.
Heinemann: Herr Weyel, entschuldigen Sie bitte! Bleiben wir noch beim Ist-Zustand. Wer heute AfD wählt, der nimmt einen Dexit zu den Bedingungen des Brexit in Kauf. Kann man das so zusammenfassen?
Weyel: Nein. Man kann es so sagen: Der hat erkannt, dass die Missstände in der EU bislang nicht aufgehoben wurden, weil der Druck offenbar nicht ausgereicht hat. Und wer eine Reform will, wer wirkliche Substanzreformen in der EU haben will und eine wirkliche europäische Zusammenarbeit, ohne Lebenslügen und ohne Fiskalausbeutung von einem und mehreren Hauptakteuren, der muss AfD wählen. Wir sind eine europäische Partei und wir werden es bleiben.
Heinemann: Das war jetzt AfD-Sprech. Eine Mehrheit dafür ist im Augenblick nicht erkennbar. Noch einmal bitte die Formulierung oder die Richtigstellung: Wer heute AfD wählt, nimmt, wenn die EU sich nicht verändert, einen Dexit zu den Bedingungen des Brexit in Kauf.
Weyel: Wer AfD wählt, weiß, dass die Reformen in der EU erzwungen werden und dass Deutschland sein Äußerstes tun wird, erstmals in der Geschichte der EU möglicherweise, dass mit deutschem Ernst Verhandlungen und Reformen durchgesetzt werden, von denen am Ende alle profitieren.
Heinemann: Harald Weyel, der Obmann der AfD im Bundestagsausschuss für europäische Angelegenheiten. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Weyel: Danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.