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Ai Weiwei beim Poesiefestival Berlin
Die kämpferische Seite der Kunst

Der wirtschaftliche Erfolg Chinas produziert nicht nur Gewinner. Die zahllosen Wanderarbeiter im Land etwa zählen zu den großen Verlierern. Ihren Sorgen und Nöten kann die Kunst und insbesondere die Literatur eine wichtige Stimme verleihen. Der Konzeptkünstler Ai Weiwei sprach darüber beim Poesiefestival Berlin.

Von Tobias Wenzel |
    Der chinesische Künstler Ai Weiwei in seinem Atelier in Berlin
    Der chinesische Künstler Ai Weiwei (dpa / picture alliance / Michael Kappeler)
    Eine Dreiviertelstunde vor seinem Auftritt beim Poesiefestival Berlin sitzt Ai Weiwei in einem Studioraum der Akademie der Künste im Hansaviertel und denkt über die große Bedeutung nach, die Flucht und Fluchtursachen eigentlich haben sollten.
    "Die Leute vermeiden es lieber, sich dem Problem zu stellen. 65 Millionen Menschen sind heute auf der Flucht. Aber sie werden nicht als Menschen betrachtet, weder in ihrer Heimat noch auf ihrer Flucht, nicht einmal richtig bei ihrer Ankunft in Europa."
    Für seinen Dokumentarfilm "Human Flow" hat Ai Weiwei in mehr als 20 Ländern Flüchtlingsströme und vor allem -camps gefilmt und vielen Flüchtlingen ein Gesicht gegeben. Eingeflochten in den Film hat Ai, selbst Sohn eines Dichters, Poesie bedeutender Lyriker. Auch deshalb machte es durchaus Sinn, dass der Konzeptkünstler und Filmemacher beim Poesiefestival neben zwei chinesischen Schriftstellern auf dem Podium von "Elegie und Aufbruch" saß, einem Abend über das abgeschottete China, die Globalisierung und vor allem ihre Verlierer. Vor rund 150 Zuhörern animierte Ai Weiwei dazu, sich die Auswirkungen der Globalisierung zu vergegenwärtigen:
    "Auf der Welt ist heute alles miteinander vernetzt und verwoben, auch die Politik und die Kultur. Ein Beispiel: Wenn man aus einem deutschen Supermarkt alles entfernt, was nicht aus Deutschland stammt, sondern aus dem Ausland, dann bleiben leere Regale übrig."
    Die Schattenseiten der Globalisierung
    Was es heißt, Verlierer der Globalisierung zu sein, hat die Dichterin Zheng Xiaoqiong am eigenen Leib erfahren. Sie gehörte, wie auch einst der Vater von Ai Weiwei, zu den mehreren hundert Millionen ausgebeuteten Wanderarbeitern Chinas. In zwanzig Fabriken war sie tätig. Deshalb wisse sie gar nicht mehr, wo genau sie sich welche ihrer Berufskrankheiten zugezogen habe, erzählte sie auf dem Podium.
    Zheng Xiaoqiong lebt noch immer in China und hat vielleicht deshalb, aus Sorge um die Konsequenzen für sie nach ihrer Rückkehr, alle Interviewanfragen während des Poesiefestivals abgelehnt. Ihre beeindruckenden Gedichte, die sie am Abend vortrug, sprechen allerdings eine klare Sprache.
    "was sie lernen muss, sind tägliche zwölf-stunden-schichten, erschöpfung und stichuhr ein dürres leben auszuschneiden, mit der maschine, die sie bedient ihre geschwollene wut festzuhalten, mit dem chinesisch, das sie schreibt häufiger aber steht sie am fenster irgendeiner metallwarenfabrik, ein endloses heimatland mit verstaubten laternen im rücken, und bedient die maschine zum einlagern ihrer einsamkeit"
    Die Gedichte von Zheng Xiaoqiong waren dann auch die größte Entdeckung der insgesamt sehr gelungenen Veranstaltung "Elegie und Aufbruch". Der Abend hat gezeigt: Dichter und Künstler überhaupt können in ihren Werken sehr wohl für die Verlierer der Globalisierung und für die Einhaltung der Menschenrechte Partei ergreifen, ohne sich im Moralisieren zu verlieren und die Kunst selbst zu entwerten. Oder wie es Ai Weiwei vor der Veranstaltung formulierte:
    "Wenn der Kunst eine einzige Rolle zukäme, dann doch die, die Conditio humana im Blick zu haben und die Menschenwürde zu schützen. Wenn die Verlierer der Globalisierung die Krise der Conditio humana spiegeln, dann muss das die Kunst kämpferisch bewusst machen. Wozu bräuchten wir sonst überhaupt noch die Kunst?"