Dienstag, 16. April 2024

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Akustische Anthropologie
Geräusche als Orientierung in Raum und Zeit

Das Gezwitscher der Vögel am Amazonas, Ziegenglocken auf Sardinien oder Jazz in Westafrika - seit über 40 Jahren vermisst Steven Feld die Welt akustisch. Ziel seiner interdisziplinären Forschung zwischen Anthropologie, Ethnologie und Musikwissenschaften: Klang als eine Art des Wissens zu begreifen.

Von Lennart Pyritz | 09.07.2019
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Kann der Uhrzeitbestimmung dienen: Der Buchfink fängt etwa 30 Minuten vor Sonnenaufgang an zu singen (picture alliance / dpa / Hinrich Bäsemann)
"In meiner Familie gibt es professionelle Musiker, und wir hatten zu Hause ein Tonbandgerät. Und so habe ich ab dem Alter von zwei Jahren Aufnahmen von mir selbst gemacht."
Seit seiner Kindheit in den 1950er Jahren faszinieren Steven Feld Musik und Geräusch. Inzwischen hat er ein ganzes Forscherleben der Frage gewidmet, was Klang über unsere Welt verrät. Oder anders ausgedrückt: wie sich der Mensch und natürliche sowie technische Laute seiner Lebenswelt gegenseitig beeinflussen. Dabei hat sich der emeritierte Anthropologie-Professor der Universität von New Mexico und Seniorwissenschaftler an der School for Advanced Research in Santa Fe nicht an Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen gehalten.
"Ich bin ausgebildet in Anthropologie, Linguistik und Musik. Und ich versuche, diese Felder in der sogenannten Akustemologie zusammenzubringen: Ein Begriff, der sich aus Akustik und Epistemologie zusammensetzt und die technische Klangwissenschaft mit Erkenntnistheorie verbindet. Ich versuche, Klang als eine Art des Wissens zu begreifen."
Wassermusik als Landkarte
Mit einem Universitätsabschluss in Anthropologie in der Tasche besucht Steven Feld 1976 erstmals die Kaluli, ein traditionell lebendes Naturvolk in der Region Bosavi im südlichen Hochland von Papua-Neuguinea – der Beginn von 25 Jahren Feldforschung zu den Kaluli. Er hört den Menschen zu und erkennt, dass sie die Geräusche des Regenwaldes nutzen, um sich in Zeit und Raum zu orientieren. So komponieren die Kaluli Lieder, indem sie bei und mit Wasserläufen singen. Das Plätschern gibt den Rhythmus und die musikalischen Intervalle vor. Die Texte der Lieder wiederum beschreiben Orte entlang der Bäche und Waldpfade: Wassermusik als Landkarte. Auch die Gesänge der Urwaldvögel dienen der räumlichen Orientierung – und fungieren als ökologische Uhr.
"Die Geräusche von Vögeln geben bei vielen saisonalen und alltäglichen Aktivitäten den Takt vor. In der Morgendämmerung zum Beispiel, wenn die ersten Vogelstimmen ertönen, reagieren die Menschen auf den dröhnenden Ruf des Mohrenkuckucks aus den Tiefen des Waldes, so gegen fünf Uhr morgens."
Klimawandel verändert die tierische Geräuschkulisse
Vogelgesänge geben sogar spirituelle Orientierung: Denn für die Kaluli repräsentieren sie die Stimmen von Geistern und werden bei rituellen Anlässen von den Menschen imitiert. Die Klanglandschaft eines Ortes kann aber auch als Indikator für Umbrüche und Störungen dienen: Zwar hört man in dem von Steven Feld untersuchten Waldgebiet in Papua-Neuguinea noch nicht das Kreischen von Motorsägen oder Schüsse aus Jagdwaffen. Aber der Klimawandel verändert die tierische Geräuschkulisse. Und das spiegelt sich unmittelbar in den Liedern der Kaluli wider.
"In den 1970-er Jahren habe ich Lieder aufgenommen, die die Kaluli für, mit und über Zikaden singen. Damals dachte ich, das sei einfach ein wenig exotisch. So wie die Art und Weise, wie sie mit Wasser oder den Vögeln singen. Aber jetzt, wo sich das Klima wandelt, sind die Zikaden viel präsenter. Jetzt kann ich sehen, dass sich der Blick der Menschen auf die Zikaden und deren Beziehung zu steigenden Temperaturen im Lauf der Zeit deutlich ändert. Denn die Zikaden sind jetzt näher an den menschlichen Behausungen. Früher habe ich die Zikaden tiefer im Wald und die Vögel näher am Dorf gehört. Jetzt ist es eher umgekehrt."
Glockenklang - mal Strukturelement, mal Chaos
Nach der Jahrtausendwende widmet sich Steven Feld einem neuen großen Forschungsthema. Er beginnt, die akustische Funktion von Glocken in zahlreichen europäischen Ländern zu untersuchen – darunter Kirchturmglocken aber auch Tierglocken, die am Hals von Kühen oder Ziegen bimmeln und den Herden so eine klangliche Signatur verleihen. Dabei entdeckt er erstaunliche Parallelen zu den Urwaldvögeln in Papua-Neuguinea.
"Ich habe festgestellt, dass Glocken in Europa eine 1.000 Jahre alte Tradition sind, um Informationen über Zeit und Raum zu geben; um kalendarische Rituale zu markieren, zum Beispiel Geburten, Todesfälle oder Hochzeiten. Auf diese Weise haben Glocken das Leben der Menschen koordiniert, auch wann und wie sie arbeiteten. Dabei haben Glocken natürlich eine sehr starke religiöse Geschichte."
Wie der Vogelgesang im Wald verbinden Glockenklänge also das Irdische mit dem Spirituellen. Sie strukturieren den Alltag bis zum Stundenschlag, und geben selbst Nutztieren einen individuellen Klang, der das Hüten erleichtert.
Mitunter wird diese Ordnungsfunktion aber auch gezielt gebrochen, wie Steven Feld erkennt – zum Beispiel an Karneval auf der griechischen Insel Skyros. Dann tanzen hunderte in Ziegenfelle gehüllte Männer mit Masken durch die Straßen – jeder an der Taille behängt mit dutzenden, schweren Ziegenglocken. Durch das Tanzen entsteht ein ohrenbetäubendes Scheppern – der Glockenklang wird vom Strukturelement zum Chaos.
"Karneval ist eine verkehrte Welt, er stellt alles auf den Kopf. Das gilt auch für die Beziehung zwischen der Lautstärke deiner Stimme und der einer Tierglocke. Plötzlich machen es dir Tierglocken unmöglich, eine Person zu hören, die weniger als einen Meter entfernt neben dir steht."