Abwehr und Abwertung
Die Defizit-Perspektive aufs Altsein

Unsere Gesellschaft wird älter, wir werden es auch – trotzdem schauen wir negativ aufs Alter. Dabei wünschen wir uns selbst ein langes Leben. Warum ist Altsein trotzdem negativ besetzt? Wie ließe sich das ändern? Und ab wann ist man überhaupt alt?

    Menschliche Lebenszyklus Metapher: Streichhölzer-Zeichen symbolisieren Menschen auf verschiedenen Altersstufen
    Das Alter konfrontiert uns mit unserer eigenen Vergänglichkeit und damit letztlich mit Verlust und Tod - das führt zu Abwehrreaktionen (imago images / imagebroker / PsychoShadow)
    Es gilt wohl für die meisten von uns: Ab dem 40. Geburtstag beantworten wir die Frage nach dem eigenen Alter nur noch sehr ungern oder weichen gleich ganz aus. Gleichzeitig versuchen wir, den Eindruck zu vermitteln: Das Alter, das in meinem Ausweis steht, sagt eigentlich gar nichts über mich aus. „Man ist so alt, wie man sich fühlt!“
    Woher kommt dieser verschämte Umgang mit dem Alter? Müssten wir in unserer alternden Gesellschaft nicht einen anderen Umgang mit dem Altsein finden? Ein genauerer Blick zeigt: Tatsächlich würde das auch uns selbst guttun und unserem Wunsch nach einem langen Leben unterstützen.

    Inhalt

    Ab wann sind wir alt?

    Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Zumal es verschiedene Möglichkeiten gibt, das Alter eines Menschen festzulegen. Zunächst ist da die klassisch chronologische Bestimmung, bei der wir die Zeit messen, die seit der Geburt vergangenen ist, sprich: das Alter in Jahren.
    Daneben gibt es aber auch noch andere Altersbestimmungen, etwa das biologische Alter. Es gibt an, in welcher biologischen Verfassung sich unser Körper, seine Zellen, Organe, Knochen etc. befindet. Auch biologisch altert unser Organismus von Geburt an kontinuierlich – so wie wir chronologisch immer älter werden.
    Trotzdem kann unser biologisches Altern von unserem chronologischen Altern abweichen und schneller oder langsamer ablaufen. Abhängig ist das von Faktoren wie genetischen Voraussetzungen, Ernährung und Lebensstil, aber auch von Umwelteinflüssen.
    Und: Im Gegensatz zum chronologischen Alter können wir uns biologisch sogar verjüngen. Dazu wird intensiv geforscht, vor allem in der Biomedizin.

    Ein weiterer Altersbegriff stammt aus der Entwicklungspsychologie: das soziale Alter. Es beschreibt, in welcher Phase unseres Lebens wir uns befinden. Klassischerweise werden da drei Lebensalter unterschieden: Kindheit und Jugend, die auch als erstes Lebensalter oder Ausbildungsphase bezeichnet werden, mittleres Erwachsenenalter, die Phase, in der wir zumeist erwerbstätig sind, und das dritte Lebensalter, das mit dem Renteneintritt beginnt.
    Nach diesem Schema wird oft am Renteneintritt festgemacht, dass man wirklich alt ist. Mittlerweile wird das dritte Lebensalter allerdings häufig weiter aufgeteilt, in ein drittes und viertes Lebensalter. Das vierte wird dann an dem Zeitpunkt festgemacht, in dem man gesundheitlich stark abbaut und immer mehr auf Hilfe und vielleicht sogar auf Pflege angewiesen ist.
    Aufgrund steigender Lebenserwartung beginnt das vierte Lebensalter immer später. Es gibt dafür auch den Begriff der Hochaltrigkeit, der für Menschen mit dem chronologischen Alter ab 80 oder 85 Jahren verwendet wird. Mit dem Renteneintritt ist man von dieser Phase noch weit entfernt. Trotzdem beschäftigt uns das Alter oder besser gesagt das Altern schon deutlich früher.
    Damit kommt eine weitere Möglichkeit ins Spiel, sein Alter zu bestimmen: das gefühlte Alter. Auch das stimmt zumeist nicht mit dem chronologischen Alter überein, wie aus Umfragen hervorgeht. Sie zeigen auch: Es gibt beim gefühlten Alter um den 30. Geburtstag eine Art Kipppunkt.
    Bis dahin fühlen wir uns gerne ein bisschen älter, als wir chronologisch sind. Ab 30 dreht sich das um. Dann liegt unser gefühltes Alter meist unter unserem chronologischen, im Schnitt zwischen 15 und 20 Prozent. Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass es unserem Gefühl nach ab 30 schon bergab geht, wir ab dann also alt werden.
    Fazit: Es gibt keinen festen Zeitpunkt, ab dem wir eindeutig alt sind.

    Warum wir so negativ aufs Alter schauen


    Dennoch gibt es klare Vorstellungen davon, was alt sein bedeutet. Und die sind oft negativ konnotiert und von Stereotypen geprägt. Etwa: Alte Menschen „sind“ gebrechlich, tattrig, einsam, starrsinnig, krank oder schwach, unproduktiv und weniger flexibel etc.

    Zuschreibungen, die zumeist mit Verlust zu tun haben. Etwa, dass man im Alter bestimmte Dinge nicht mehr hat oder kann: Man ist körperlich und geistig weniger leistungsfähig, man verliert soziale Kontakte und seine Position in der Gesellschaft und damit häufig auch an Ansehen. Gleichzeitig gelten Ältere als hilfsbedürftig oder weniger kompetent. All das ist ziemlich gut untersucht.
    In der Psychologie wird diese negative Sicht auf das Alter auch als die Defizit-Perspektive bezeichnet. Und obwohl die Lebenserwartung im Schnitt steigt, wir also alle älter werden und es immer mehr alte Menschen gibt, haben sich diese Stereotypen in den vergangenen 20 Jahren kaum verändert. Im Gegenteil, sie sind eher negativer geworden, wie Studien zeigen.
    Nach Ansicht des Psychologen und Alternsforscher Hans-Werner Wahl hat dies alles nichts damit zu tun, wie alte Menschen wirklich sind, sondern mit Abwehr und Abwertung.
    Abgewehrt werden soll demnach das, wofür alt werden auch steht: Vergänglichkeit und damit letztlich Verlust und Tod. Ein Phänomen, das die sozialpsychologische Terror-Management-Theorie beschreibt. Wobei Terror dabei die Todesangst oder den Schrecken im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit meint.
    Die Theorie besagt: Unsere Angst vor dem Tod ist so groß, dass wir sie nur mit einer ablehnenden Reaktion Älteren gegenüber in den Griff bekommen, weil sie uns an die eigene Sterblichkeit erinnern.
    Die Abwertung des Alters könnte zugleich auch eine Folge unserer Gesellschaftsordnung sein, so der zweite Erklärungsansatz von Wahl: „In einer Gesellschaft, in der Leistung sehr, sehr hochgeschätzt wird und in der immer mehr auch berufliche Abläufe sich verdichten, sind Ältere grundlegend unproduktiv, Punkt, und tragen nicht mehr zur Produktivität in der Arbeitswelt bei, und damit sind sie weniger wert.“

    Wie wir uns mit Alterstereotypen selbst schaden


    Die im allgemeinen negative Sicht auf das Alter wird im Alltag regelmäßig widerlegt, durch Menschen, die bis ins hohe Alter sehr aktiv sind: im Ehrenamt, als Firmenchefs, Politiker, Reisende, Sportler oder ganz einfach im Alltag.
    Hinzu kommen oft Lebensweisheit, jahrelange berufliche Expertise und ein großer individueller Wissensschatz – Erfahrungen, die mögliche altersbedingte Defizite nicht nur ausgleichen, sondern in bestimmten Situationen sogar von Vorteil sein können.
    Unser Bild vom Alter oder den Alten ist also verzerrt. Grund dafür ist unter anderem, dass wir Stereotypen über das Alter unbewusst schon unser ganzes Leben lang mitbekommen. Sätze wie beispielsweise „Die Oma ist vergesslich, sie ist halt alt“, oder Aussagen, die etwa Rückenschmerzen mit dem Alter in Verbindung bringen, prägen uns. Denn als Kinder oder jüngere Menschen hinterfragen wir diese Botschaften nicht, weil sie uns nicht betreffen.
    „Und irgendwann kommt dann der Moment, wo wir selber alt werden. Und dann müssen wir Ereignisse interpretieren. Wir sagen dann: Es gibt eine Ursache für Ereignisse, zum Beispiel für Rückenschmerzen“, erläutert die Psychologin Christina Ristl. Aufgrund der bekannten Stereotypen, werden die körperlichen Schmerzen dann nicht etwa Bewegungsmangel zugeschrieben, sondern dem Alter. Die Schlussfolgerung: „Ich bin halt alt.“
    Das heißt: Die negativen Altersstereotypen verändern, wenn wir irgendwann älter werden, die Sicht auf uns selbst. Die Psychologie nennt das Stereotype-Threat. Das passiert auch, wenn uns jemand anderes als alt bezeichnet oder uns das Gefühl gibt, alt zu sein.
    Das bedeutet: Man ist also nicht alt, man wird alt gemacht. Oft geschieht das sehr subtil, kann sich aber sogar lebensverkürzend auswirken. „Das haben jetzt schon mehrere Studien gezeigt“, berichtet die Psychologin Ristl. „Man sagt so, dass positive Altersbilder einem sieben Jahre mehr schenken.“

    Wie wir Altersstereotypen überwinden können

    Dass Altersbilder so starke Auswirkungen haben sollen, klinge oft wie ein Zaubertrick, sagt die Wiener Psychologin Ristl und verrät die Lösung, sich ihrem Bann zu entziehen: „Wie so ein Zaubertrick verlieren die quasi ihre Kraft, wenn man sie kennt.“ Heißt: Der erste Schritt negativen Altersstereotypen zu überwinden, ist, sie sich bewusst zu machen.
    Beispiel Rückenschmerzen: Wenn ich denke, dass körperliche Probleme eine Folge des Alters sind und zu dem Schluss komme, dass ich deshalb nichts dagegen tun kann, bleibe ich auf dem Sofa sitzen und werde meine Rückenschmerzen möglicherweise nicht mehr los. Mit einem positiven Altersbild dagegen werde ich eher anfangen, etwas dagegen zu tun, also mich wieder mehr zu bewegen.
    Wie aber lassen sich diese negativen Altersstereotypen ganz grundsätzlich abbauen? Aus der Sicht von Altersforscher Wahl ist es dafür wichtig, dass sich die verschiedenen Altersgruppen wieder mehr begegnen, als das in unserem Alltag derzeit üblich ist. Denn dann werden Stereotypen einem Realitätscheck unterzogen und man merkt, dass man vielleicht sogar voneinander profitieren und gemeinsam gestalten kann.
    Statt Alte als Belastung zu sehen, können sie dann als Bereicherung wahrnehmbar werden, die der Gesellschaft und damit uns allen noch eine Menge zu geben haben. Zumal wir immer älter werden und im besten Fall nach dem Arbeitsleben noch viele gute Jahre vor uns haben, ist es eine verschenkte Chance, diesen Lebensabschnitt vor allem negativ zu sehen.
    Die Lösung wäre also: Mehr Durchmischung, mehr Kontakt miteinander, auf der gesellschaftlichen Ebene. Und jeder für sich mehr Augenmerk darauf, welche Bilder vom Alter wir wahrnehmen und vor allem reproduzieren. Damit sich die negativen Stereotypen gar nicht erst festsetzen.

    Radiotext: Kathrin Kühn und Bettina Köster
    Onlinetext: ww