So beobachtet es die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulić und verfasst einen Essay, in dem die Frage gestellt wird, warum Frauen so selten über das Alter schreiben.
Slavenka Drakulić, geboren 1949 in Rijeka, ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Kroatiens, ihre Romane und Sachbücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Sie schreibt als Journalistin für internationale Tageszeitungen und Zeitschriften, darunter auch für die Süddeutsche Zeitung. Sie lebt in Zagreb, Stockholm, Wien und Berlin. 2002 wurde sie für ihr Buch Kriegsverbrecher aus dem ehemaligen Jugoslawien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zusammen mit Nikolai von Koslowski (Regie) mit dem Robert-Geisendörfer-Preis in der Kategorie Hörfunk ausgezeichnet.
Diese Sendung wurde erstmals am 18. Mai 2014 ausgestrahlt.
Was auf die einsame Insel mitnehmen, damit es nie langweilig wird? Wie wäre es mit „Die Dinge des Lebens“, dem Essay-, Hörspiel- und Featureprogramm für den Sommer? In 13 Kapiteln geht es hier um alle großen Lebens-Themen: um Kindheit, Liebe, Drogen, Familie, Sex, Reisen und zuletzt auch um den Tod. Um Anfänge und Abschiede. Und um alles, was dazwischen passiert. „Die Dinge des Lebens“ ist eine Sendereihe in Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur von Anfang Juli bis Ende September 2023.
„Tatsächlich ist die Todesverleugnung in dieser Kultur teilweise eine erhebliche Ausweitung der Kategorie Krankheit als solcher."
(Susan Sontag, Krankheit als Metapher, 1978)
(Susan Sontag, Krankheit als Metapher, 1978)
Ich werde älter, wir alle altern, auch wenn die meisten von uns das nicht wahrhaben wollen. Weil ich aber nicht zu den Menschen gehöre, die vor etwas - neutral formuliert - so wenig Überraschendem die Augen verschließen, möchte ich mehr über das erfahren, was auf mich zukommt. Zumal, da wir nun einmal ausnahmslos und unentrinnbar auf das Alter zusteuern.
Machen Sie die Reise, die Sie schon immer unternehmen wollten.
Lernen Sie Fallschirmspringen.
Flirten Sie mit einem Unbekannten.
Zeigen Sie mit geschlossenen Augen auf die Landkarte und fahren Sie an diese Stelle.
Lernen Sie Fallschirmspringen.
Flirten Sie mit einem Unbekannten.
Zeigen Sie mit geschlossenen Augen auf die Landkarte und fahren Sie an diese Stelle.
Nichts gegen Humor oder Optimismus: Es wird durchaus Menschen geben, die in ihren Sechzigern, Siebzigern oder sogar in ihren Achtzigern so leben. Aber sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach eine verschwindend kleine Minderheit. Man kann die eben zitierten Empfehlungen natürlich alle in die Tat umsetzen, sofern man genug Geld hat, was bei den meisten Leuten nicht gegeben sein wird, und sofern man nicht unter hohem Blutdruck oder anderen Beschwerden leidet, was bei den meisten Leuten in diesem Alter ganz bestimmt der Fall ist. Wir Menschen leben heutzutage länger denn je zuvor, aber erwarten wir vom Alter wirklich einen Sprung mit dem Fallschirm oder einen Flirt? Und was kommt später, jenseits der 80? Ich denke, dass der unvermeidliche Verlust unserer geistigen und körperlichen Fähigkeiten sicher nichts ist, worauf wir uns freuen können - und allem Anschein nach ist es auch nichts, worüber man schreiben will.
Ich bin selbst über 60 und mache mir wenig aus lebensgefährlichen Unternehmungen, wozu ich sowohl das Flirten mit einem Unbekannten wie das Fallschirmspringen zähle. Ich muss gestehen, dass ich die Beschäftigung mit Literatur vorziehe, mit Literatur über das Altern des weiblichen Körpers und den Unterschied zwischen der inneren und äußeren Wahrnehmung dieses Prozesses. Meine Recherche zu diesem Gebiet begann, paradoxerweise, bei männlichen Schriftstellern.
Vor einigen Jahren fiel mir auf, dass bedeutende Schriftsteller wie Philip Roth, 80 Jahre, und J.M. Coetzee, 73 Jahre, in ihren Büchern Jedermann, Zeitlupe und Tagebuch eines schlimmen Jahres Romane über das Alter schrieben; so, wie Männern es erleben.
Und während der überwiegende Teil der von ihnen geschilderten Erfahrungen Männer wie Frauen gleichermaßen betrifft - Einsamkeit, Ausgeschlossensein und das damit einhergehende Gefühl der Demütigung - gibt es doch auch Unterschiede. Auf der körperlichen Ebene zum Beispiel. Es soll an dieser Stelle genügen, auf das Nachlassen der Libido hinzuweisen, eines der Hauptthemen von Jedermann, das - meiner vorwiegend theoretischen Kenntnis zufolge -, Frauen weniger beschäftigt, wenn überhaupt. Kurz gesagt, wenn Sie Roth und Coetzee lesen, fällt es Ihnen als Frau schwer, sich vollkommen mit der hier gebotenen Darstellung des Alters zu identifizieren.
Selbstverständlich bin ich davon ausgegangen, vergleichbare Bücher von Frauen zu finden, vor allem von Frauen meiner Generation, die ja schon über alle anderen Aspekte des weiblichen Lebens und der weiblichen Erfahrung geschrieben haben. Oder über fast alle.
Feministische Schriftstellerinnen, angefangen mit Simone de Beauvoirs Klassiker Das Alter, (den meine Tochter mir zum 41. Geburtstag geschenkt hat), über Betty Friedan, Nancy Friday, Shere Hite und später dann Naomi Wolf, befassen sich meist mit dem Alter, indem sie aus einer historischen, soziologischen oder psychologischen Perspektive über Frauen schreiben, die in einer patriarchalischen Gesellschaft leben.
Wechseljahre, ein wichtiges Buch von Germaine Greer, endet genau an diesem Punkt. Aber was kommt dann? Sterben die Frauen? Oder werden sie vollkommen unsichtbar? So will es jedenfalls scheinen, wenn Sie nach einem allumfassenden Buch über das Altern suchen. Aber natürlich leben Frauen auch nach der Menopause weiter, und sie brauchen Identifikationsfiguren, die ihnen helfen, über diese Lebensphase zu sprechen.
Nun ist es ja nicht so, als müssten „normale“ Frauen vollkommen ohne Vorbilder auskommen: Als Gloria Steinem, eine der Ikonen des amerikanischen Feminismus, ihren 70. Geburtstag feierte, veröffentlichte die amerikanische Presse ein Foto der bildschönen Frau mit der Unterzeile: „Das Antlitz der Siebzig!“
Als ein Journalist nach ihrer Beziehung zu Männern fragte, sagte sie:
„Ich interessiere mich nicht für Partnersuche. Ich habe mich für einen Kreis von Wahlverwandten entschieden, dem auch ehemalige Liebhaber angehören, die Freunde geworden sind. Das ist herrlich. All die Gehirnzellen, die früher vorwiegend auf Sex gepolt waren, können sich jetzt mit anderen Dinge befassen.“
Ehrlich gesagt kommt es mir eher so vor, als seien von Anfang an gar nicht so viele Gehirnzellen auf Sex gepolt gewesen, vielleicht war es sogar genau umgekehrt. Doch davon einmal abgesehen, spricht die Tatsache, dass eine 70-jährige Frau überhaupt nach ihrer Beziehung zu Männern gefragt wird, Bände über unsere Gesellschaft und die Kultur, in der wir leben. Stimmt, sie sieht aus wie 50 und soll als role model für das Alter herhalten, das den Sex ja nicht ausschließt. Verbirgt sich hinter dieser anspielungsreichen Frage vielleicht die Logik, dass, wenn Steinem es noch kann, jede Frau es kann? Doch Gloria Steinem ist eine seltene Schönheit, und wie viele von uns können das von sich behaupten? Dennoch steckt in dieser Vorstellung, oder besser: in dieser Propaganda (ja, ich verwende das hässliche Wort absichtlich), vielleicht der Gedanke, dass Sie - auch wenn Sie nicht mehr jung sind, doch zumindest so aussehen sollten, weil alt auszusehen in unserer Gesellschaft nicht akzeptabel ist, einer Gesellschaft, die immens fixiert ist aufs Aussehen, auf Jugendlichkeit, Produktivität, Aktivität und Sexualität.
Sollten Sie nicht so schön sein wie Gloria Steinem und in ihren Siebzigern nicht fantastisch aussehen, wenden Sie sich vertrauensvoll an Amazon. Wenn Sie hier Bücher über das Altern suchen, finden Sie weitaus mehr als Sie erwartet hätten: eine lange Liste von Publikationen über Schönheit und wie man sie erhält. Sie erfahren alles über Hormoneinnahmen und den wirksamen Einsatz von Knoblauch. Unter der Rubrik „Bestseller über das Altern“, finden Sie die Anti-Aging Schönheitsbibel und den Titel Altern, ohne alt zu werden. Ich war fasziniert von der Tatsache, dass die Suchmaschine Ihnen genau das Gegenteil von dem anbietet, das Sie suchen. Die Vorstellung, dass Sie nicht altern wollen, ist bereits fest im Algorithmus verankert.
Vielleicht sind nur die Amerikaner gesegnet mit einem Optimismus bezüglich des Alters; diesem Optimismus, der es einem erlaubt, selbst im Alter von 70 oder 80 Jahren mit einem Unbekannten zu flirten oder - wer weiß -, vielleicht auch noch mit 90. Problematisch an der Sache ist nur, dass sie dem Rest der Welt ihren Optimismus aufdrängen.
Es gibt eine gigantische Schönheitsindustrie, die Frauen dabei hilft, dieses Ziel zu erreichen. Egal, ob emanzipiert oder weniger emanzipiert: Frauen sind leicht zu beeinflussen von der Mode-, Kosmetik-, Bodyshaping- und Ernährungsindustrie, und sie wissen, dass sie heutzutage nicht alt aussehen müssen. Unzählige Produkte stehen ihnen zur Verfügung, sie müssen nur zugreifen und bezahlen. Tatsächlich war es noch nie so leicht wie heute, Ihr Alter zu verbergen.
Schauen Sie sich ein weiteres Vorbild an: Jane Fonda: richtige Ernährung, Spezialgymnastik und -kosmetik (ganz zu schweigen von einem little bit of plastic surgery - und jede 76-gjährige Frau kann 20 Jahre jünger aussehen. Das heißt: Sie kann sich noch sehen lassen, ohne sich schämen zu müssen. Und darum gibt es auch keinen Grund, so alt auszusehen, wie Sie sind. Im Gegenteil: Es ist unanständig, sich „gehen zu lassen“. Nicht unhöflich, sondern anstößig, so als würde man in der Öffentlichkeit auf den Boden spucken oder Schlimmeres.
Die vorherrschende Ideologie der ewigen Jugend (und der immerwährenden Gesundheit, was wiederum ein anderer Ausdruck ist für Ewigkeit) legt nahe, dass es mithilfe der Wissenschaft nicht nur möglich ist, gut auszusehen, sondern auch, jede Krankheit zu überwinden und dabei auch noch lange zu leben. Die neuesten Forschungszweige der Biologie, die Stammzellenforschung und die Glykobiologie, sind im Kampf gegen das Alter bereits zum Einsatz gekommen. Ein auf Glykanen basierendes Kosmetikprodukt heißt anspielungsreich: „Forever Youth Liberator“ - etwa: Befreier der ewigen Jugend.
Könnte dieser soziale Druck auf ältere Menschen, vor allem auf ältere Frauen, vielleicht der Grund dafür sein, dass Frauen keine literarischen Werke über ihr persönliches Älterwerden schreiben? Der Grund dafür, dass sie speziell bei diesem Thema so zurückhaltend sind? Der Grund dafür, dass das Altern in der Privatsphäre verhaftet bleibt und nicht öffentlich verhandelt wird?
Für die weiblichen Generationsgenossinnen von Philip Roth und J.M. Coetzee scheint die Erfahrung des Alterns als literarischer Gegenstand jedenfalls nicht besonders interessant zu sein. Das ist merkwürdig, um nicht zu sagen, ausgesprochen bizarr. Es entsteht ja geradezu der Eindruck, als sei das weibliche Leben zuende, sobald der Alterungsprozess einsetzt, oder zumindest, als hörte es auf, darstellungswürdig zu sein.
Eine weitere Auffälligkeit ist in diesem Zusammenhang interessant: Die weibliche Literatur zu diesem Thema erschöpft sich fast vollkommen im Verfassen von Memoiren. Die bekanntesten Werke dieses Genres sind Diana Athills Irgendwo ein Ende - Vom guten Leben im Alter, Jane Millers Die magischen Jahre. Im Alter beginnt ein neues Leben und Carolyn Heilbruns, nicht ins Deutsche übersetzte Buch The Last Gift of Time - Life Beyond Sixty. Doch das ist noch nicht alles. Sie schreibt:
„Als ich sechzig wurde, schaffte ich meine High Heels ab.”
Sehr interessant! Aber genau da, wo sie aufhört zu schreiben, würde ich gerne weiterlesen. Mit diesem einzigen Satz deutet sie eine ganze Serie von Geschichten an: dass sie jahrelang in ihren High Heels litt, bis sie mit der Zeit nur noch langsam und unsicher gehen konnte und ständig einen dumpfen Schmerz im Rücken spürte. Wie sich ihre Füße verformten, sodass sie kaum noch ein Paar passende Schuhe finden konnte, und wie erlösend es später für sie war, endlich bequem laufen zu können. Von dieser reichhaltigen Palette an Erfahrungen tupft sie nur einen einzigen Satz hin. Den Rest müssen ihre Leserinnen sich denken. Im Übrigen hat Heilbrun sich mit 77 Jahren das Leben genommen. Vielleicht hat sie den Druck nicht mehr ausgehalten, der mit dem Altern einhergeht, vielleicht hatte sie Angst vor dem, was auf sie zukommen würde, oder vielleicht hat sie nur die Entscheidung getroffen, den Zeitpunkt ihres Endes selbst zu bestimmen. Entgegen aller anderslautenden Propaganda scheint das Alter eher keine lustige Angelegenheit zu sein, bei der sich besonders oft die Gelegenheit bietet, mit einem Unbekannten zu flirten.
Vor kurzem hat die deutsche Autorin Bascha Mika das Sachbuch Mutprobe geschrieben, das sich mit der Diskriminierung älterer Frauen befasst. Obwohl also Memoiren, Biografien und Tagebücher als konventionelle Formen des Schreibens über das Älterwerden und das Alter verstanden werden, bleibt der Körper auch hier eher im Hintergrund.
Betrachten wir das Beispiel der amerikanischen Lyrikerin May Sarton: In ihren Tagebüchern At Seventy, After the Stroke, Endgame notiert sie zwar sorgfältig, was jeden Tag passiert, ihre Stimmungsschwankungen und dergleichen, aber mit weitaus größerer Sorgfalt beschreibt sie die Veränderungen jeder einzelnen Rose oder Tulpe in ihrem Garten. Über die Veränderungen ihres Körpers: nichts. Natürlich lesen wir schon auch, dass sie müde ist, nicht schlafen kann, keine Energie hat - aber sie äußert sich darüber nur sehr, sehr sparsam. Dabei ist der Körper nun einmal keine welkende Blume: Hier sind die Symptome ein wenig komplizierter, individueller, schmerzhafter.
Eine Ausnahme im deutschsprachigen Raum ist vielleicht Silvia Bovenschen, die sich dem Thema in zwei Büchern nähert, dem Roman Nur Mut und der Autobiografie Älter werden, wobei sie den Körper und die Krankheit in den Blick nimmt.
Ist es so schwer, das Altern des eigenen Körpers zu beschreiben? Es muss schon etwas dran sein an dieser Annahme, denn unter all den Autoren, die Wayne Booth 1992 in seiner Anthologie The Art of Growing Older - Writers on Living and Aging versammelt hat, sind kaum einmal 20 Frauen vertreten - dabei umfasst das Buch der Kunst des Alterns die Zeitspanne von Sophokles bis heute.
Aber noch ist nicht alles verloren. Weitere Recherchen über das weibliche Schreiben zum „Altern“ ergaben dann doch ein anderes Bild. Es scheint, dass Frauen zwar nicht über ihr eigenes Altern schreiben, dass sie aber durchaus einen Weg gefunden haben, um aus einer anderen Perspektive davon zu berichten. Viele Autorinnen befassen sich nämlich indirekt mit dem Altern, indem sie über Krankheit schreiben, vor allem über Demenz- und Alzheimererkrankungen von Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld: Mütter, Ehemänner, Freunde und in ganz seltenen Fällen ist auch einmal ein Romanheld betroffen. Erstaunlicherweise greifen selbst Romanschriftstellerinnen bei diesem Thema auf das Genre Lebenserinnerung, Autobiografie und Tagebuch zurück. Auf der Amazon-Bestsellerliste wird die Literatur über Alzheimer und Demenz von Ratgebern angeführt, gefolgt von Biografien und Memoiren; nur ein einziger Roman ist dabei: Mein Leben ohne Gestern von Lisa Genova.
Zwei sehr bekannte Autorinnen, die französische Schriftstellerin Annie Ernaux mit Je ne suis pas sortie de ma nuit, und die amerikanische Schriftstellerin und Sachbuchautorin Mary Gordon mit Circling My Mother: A Memoir befassen sich mit diesem Thema, also der Alzheimer- und Demenzerkrankung ihrer Mütter. Gordons Aussage zufolge ist ihr Buch weder eine Lebenserinnerung, noch eine Autobiografie und ganz gewiss kein Roman. Das könnte man auch von Ernauxs Werk sagen. Sie schreibt eine Art Tagebuch, kein richtiges Tagebuch allerdings, denn es liest sich wie Literatur.
Sicher ist es kein Zufall, dass sich beide Autorinnen dafür entschieden haben, über Bewusstseinserkrankungen wie den Verfall ihrer Mütter zu schreiben, wie es auch kein Zufall sein wird, dass sie sich auf Demenz und Alzheimer konzentrieren, wie viele andere Schriftsteller auch, die meisten von ihnen Frauen.
Gedächtnisverlust ist schon immer mit dem Alter in Verbindung gebracht worden, doch Alzheimer ist eine neue Krankheit, die mit unserer neuerdings so hohen Lebenserwartung einhergeht. Die Menschen leben länger, sterben seltener an Herzinfarkten oder Infektionen, und viele leben lange genug, um dement zu werden.
Alzheimer entwickelt sich zu einem neuen „gesellschaftlichen Problem“, einer Epidemie, wie David Shenk es in seinem Buch Das Vergessen - Portrait einer Epidemie nennt. Vielleicht lässt sich das literarische Interesse ja am besten anhand der Symptome dieser Krankheit erklären: dem langsamen Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, dem Verlust der räumlichen Wahrnehmung, dem Verlust der Fähigkeit, sich auszudrücken und zu denken … Verluste über Verluste über Verluste.
Im Fall von Alzheimer und dem Alter im Allgemeinen verliert der Mensch seinen Körper und seinen Geist. Das Altern ist, wie die Demenzerkrankung, ein degenerativer Prozess, und es ist tatsächlich schwierig, das Alter und die Krankheit zu unterscheiden.
Neben den Symptomen des körperlichen Verfalls zählt der Gedächtnisverlust zu den packendsten Aspekten der Alzheimererkrankung: Die Vorstellung vom Verlust des Gedächtnisses macht uns Angst, weil sie zusammenhängt mit der Vorstellung vom Verlust der Identität. Aus diesem Grund hat Alzheimer auch Hochkonjunktur in der Literatur: Während von der Krankheit eines Menschen erzählt wird, geht es um den Identitätsverlust dieses Menschen. Insofern beschreiben Ernaux und Gordon die Symptome und die Selbstwahrnehmung des Alterns, während sie vordergründig den Verlauf einer entwürdigenden, tödlichen Krankheit beschreiben.
Ersetzt man in ihren Büchern das Wort „Alzheimer“ durch das Wort „alt“, wird das Bild schärfer - was übrigens für jedes andere Werk aus diesem Umfeld gilt.
1978 erschien Susan Sontags berühmter Essay Krankheit als Metapher. Darin analysiert die Autorin eine Gesellschaft und ihren Umgang mit Krankheit -Tuberkulose und Krebs - und die Art und Weise, wie Krankheit romantisiert wird, mit Moral behaftet, oder, wie die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sie mythologisiert (über Dickens und Stendhal zu Thomas Mann, Kafka, Gide, Auden und so weiter).
Die moderne Gesellschaft wird von der Vorstellung beherrscht, dass die Menschen für ihre Gesundheit und Lebensdauer selbst verantwortlich sind - auch wenn die Wirklichkeit nicht ganz mit dieser Vorstellung übereinstimmt. Über eine neue Krankheit zu schreiben, ist also eine elegante Art, sich mit dem Tod und dem Sterben zu befassen. Das gilt vor allem für unsere Kultur, die den Tod - so Sontag - als ein beleidigend bedeutungsloses Ereignis betrachtet. Allerdings, schreibt sie weiter, taugt nicht jede Krankheit zur Metapher. Herzkrankheiten sind Zeichen einer Schwäche, der Schwäche eines Menschen, der sich nicht um seine Gesundheit gekümmert hat, aber sie sind nicht abartig oder schändlich. Krebs, Tuberkulose und HIV sind abstoßend, schändlich und entwürdigend in ihren äußerlich wahrnehmbaren Symptomen.
Es will mir so scheinen, als sei Alzheimer nun die neue Krankheit, die sich zur Metaphernbildung und damit zur Aufnahme in den literarischen Themenkanon eignet: Was die Krankheit auslöst, ist immer noch rätselhaft, niemand ist immun gegen sie, der Patient trägt keine Verantwortung für seine Erkrankung, und es gibt noch kein Heilmittel.
Indem man über Krankheit schreibt, statt über Alter und Tod, ist es, Susan Sontag zufolge,
„leichter, sie zu begreifen und gleichzeitig weiter in die gefährliche Welt des Todes und der Zerstörung vorzudringen."
Damit ist gesagt, dass das Schreiben über Krankheit den Status eines legitimen Themas erreicht hat, hinter dem sich das Schreiben über Altern und Tod verbirgt. Es scheint also, als schrieben Frauen doch über das weibliche Altern, allerdings verschleiern sie den Alterungsprozess als „moderne“ Krankheit (Demenz, Alzheimer) und lassen ihn auftreten im Gewand des Nicht‑Literarischen. Um diese Bücher zu finden, musste ich den Begriff in meiner Suchmaske ändern und „alt“ durch „Alzheimer“ ersetzen. So öffnete sich eine Tür in eine Welt voller Leid und Verfall, Entbehrung und unermesslicher Einsamkeit, in der es kein Flirten mit einem Unbekannten gibt, es sei denn, der Unbekannte wäre ein Mensch im Spiegel des Badezimmers.
Aus dem Englischen von Gaby Hartel