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Amerika und der Westen
Eine Idee bröckelt

Viel zu lange sei man von einer organischen Beziehung zwischen den USA und Europa ausgegangen, sagte der US-Historiker Michael Kimmage im Dlf - eine Beziehung, die es so nie gegeben habe. Die Idee des Westens als Wertegemeinschaft und normatives politisches Leitbild bröckele schon seit einer Weile.

Michael Kimmage im Gespräch mit Sibylle Salewski | 29.04.2018
    Die EU-Flagge und die der USA im Wechsel.
    In den Geistes- und Politikwissenschaften wird über die kolonialistischen und imperialistischen Eigenschaften des Westens diskutiert. In den USA hat man sich nicht nur in der akademischen Welt auf seine multikulturellen Wurzeln besonnen. Der westliche Kanon, einst unangefochten, gehört nicht mehr zur Standardlehre an den Universitäten. Was aber tritt an die Stelle des Westens, wenn dieser nicht mehr als politischer, moralischer und kultureller Leitstern taugt?

    Das Interview in voller Länge:
    Sibylle Salewski: Wenn ich Westen höre, dann ist mein erster Gedanke nicht, in welcher Beziehung stehen die USA zum Westen, sondern die USA sind für mich fester Bestandteil des Westens. Westen, das ist für mich Europa oder vielleicht genauer Westeuropa und dann eben die USA als stolzer Vorreiter dieser westlichen Welt. Kann man das so sagen?
    Michael Kimmage: Das kann man natürlich so sagen, aber es gibt eine lange Geschichte mit diesem Begriff, und es dauert eine lange Zeit, bevor die USA diesen Begriff wirklich akzeptiert und einen wichtigen Teil der Außenpolitik davon macht. Das ist der eine Teil der Geschichte. Und es ist auch so, dass das Verhältnis im Moment immer dünner ist, würde ich sagen, also Untergang des Abendlandes ist vielleicht ein bisschen melodramatisch, aber es gibt auf jeden Fall diese Tendenz. Es gibt eine Geschichte zu erzählen und die will ich in meinem Buch erzählen.
    !Salewski: Die Geschichte vom Niedergang des Westens?
    Kimmage: Niedergang des Westens und auch der erste Teil dieser Geschichte, wie hat die USA diesen Begriff entdeckt und wie hat das auch politisch und besonders außenpolitisch funktioniert. Und das hat von ungefähr 1890 bis zu den 50-ern gedauert, bevor man wirklich den Westen als ein Leitmotiv der amerikanischen Außenpolitik gefunden hat.
    "Der Westen an sich ist ein Symbol der Freiheit"
    Salewski: Der Westen als Leitmotiv, sagen Sie. Bevor wir da einsteigen in die Anfänge, wo das begonnen hat: Es gibt ja ganz viele Verwendungen des Begriffs des Westens, also man kann unter Westen eine Kultur verstehen oder eine Tradition, eine Wertegemeinschaft oder vielleicht auch ein politisches Bündnis. Wenn Sie von Westen oder westlich reden, was meinen Sie damit?
    Kimmage: Ich meine ein Freiheitsnarrativ. Es ist auf jeden Fall richtig, dass dieser Begriff viele, viele Definitionen hat, und die sind nicht zusammenzubringen, aber für mich am wichtigsten ist ein Narrativ der Freiheit. Der Westen an sich ist ein Symbol der Freiheit, Europa und die USA haben eine gemeinsame Verpflichtung, die Freiheit politisch weiterzubringen, und die USA haben besonders eine außenpolitische Rolle, die Freiheit zu verteidigen, zu verkörpern und weiterzubringen. Für dieses Narrativ ist '45 bis ungefähr '70 die Hauptphase, die goldene Zeit sozusagen. Und es ist auch wichtig, dass im Moment man dieses Narrativ fast gar nicht in Donald Trumps Außenpolitik sieht. In diesem Sinne kann man wirklich über einen Untergangs des Westens in den USA sprechen.
    Woodrow Wilsons ehrgeizige Vision des Westens
    Salewski: Sie sagen, der Westen, das ist ein Narrativ für Sie, also eine Erzählung, an der sich eine Gemeinschaft orientiert, die Sinn stiftet, die vielleicht eine gemeinsame Grundlage schafft, um die eigene Position in der Welt zu verstehen und dann eben auch auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Lassen Sie uns mal historisch in die Anfänge gehen: Wo beginnt das, seit wann orientieren sich amerikanische Kulturen, amerikanische Politik an diesem Narrativ des Westens?
    Kimmage: Es fängt wirklich mit Präsident Woodrow Wilson an. Er sieht, dass der Erste Weltkrieg für die USA wichtig war, und es war seine Entscheidung, in diesen Krieg reinzugehen, und danach wollte er eine neue internationale Ordnung schaffen. Und diese Ordnung war für Woodrow Wilson eine demokratische Ordnung. Es war europäisch auf der einen Seite und amerikanisch auf der anderen Seite, also ein gemeinsames Projekt, und das europäische Erbe ist für die USA wichtig, ohne dieses Erbe hat man keine Demokratie für Woodrow Wilson, keine Western Civilization, aber für Woodrow Wilson ist es auch sehr wichtig, dass die USA eine außenpolitische Rolle in Europa spielt. Deswegen bewahren die USA im Ersten Weltkrieg Woodrow Wilsons Meinung nach und sollte in Europa bleiben. Aber das war eine Vision, Woodrow Wilsons Vision, die die USA eigentlich an sich nicht unterstützt hat. Er ist zurück nach Washington gegangen nach dem Versailler Vertrag und hat dem US Congress seine Vision abgesagt, und es ist durchgefallen.
    Salewski: Was heißt, der ist durchgefallen, was ist da passiert?
    Kimmage: Der US Congress hat nicht für seine Ideen gestimmt, also League of Nations, seine frühe Idee der UNO hat keine politische Unterstützung in den USA selbst, also kann man wirklich über eine isolationistische Stimmung in den USA sprechen in den 20ern und zu Woodrow Wilsons Zeit. Und seine sehr ehrgeizige Vision des Westens hat nur einen ganz kleinen Teil der amerikanischen Elite auch gehabt. '45 ist diese Vision dann zurückgekommen. Und dann, nach '45 im Nachkriegseuropa und auch mit dem Kalten Krieg hat man eine sehr starke Anknüpfung an den Westen in der amerikanischen Außenpolitik. Das ist die goldene Phase für dieses Narrativ, Freiheitsnarrativ, auch für eine sehr intensive amerikanische Involvierung in Europa - Marshallplan, NATO, Allianz und so weiter.
    "Für das amerikanische Volk waren diese Ideen weit weg"
    Salewski: Aber am Anfang scheint das, nachdem, was Sie jetzt sagen, nicht so einfach gewesen zu sein. Also Woodrow Wilson hatte diese Vision von der USA als Teil des Westens und auf die Rückbesinnung auf die europäischen Wurzeln, aber Sie sagen, der Kongress war da ganz anderer Meinung. Heißt das, schon damals gab es so einen Unterschied oder eine Diskrepanz zwischen dem, was vielleicht die politische Elite gedacht hat, die sich fest im Westen verortet hat, und der allgemeinen Stimmung in den USA, die sich vielleicht gar nicht als westlich begriffen haben?
    Kimmage: Auf jeden Fall. Woodrow Wilson ist der erste amerikanische Präsident, der promoviert hat und auch der einzige amerikanische Präsident, der promoviert hat. Er war Teil der Bildungselite, hat Europäische Geschichte und Philosophie studiert, besonders Kant, der für Woodrow Wilson außenpolitisch wichtig war, eine aufgeklärte Idee des Westens. Aber für das amerikanische Volk waren diese Ideen weit weg und die waren auf jeden Fall elitär. Also ein populistischer Nationalismus war ziemlich stark in den 20ern, in der Migrationspolitik, aber auch in der Außenpolitik, und die Präsidenten, die nach Woodrow Wilson gekommen sind, ihre Hauptthese war "the business of the United States is business", also was man alleine zu Hause macht, ist viel wichtiger, als Kriege in Europa zu führen.
    Salewski: Aber das heißt, Woodrow Wilson, der promovierte Präsident, der einzige promovierte Präsident der USA hat diese Idee des Westens aus den Universitäten mitgenommen. Das heißt, dort hat sie eine große Rolle gespielt.
    Kimmage: Auf jeden Fall. Was für die Universitäten am wichtigsten ist, ist diese Western Civilization Curricula, und das fängt zur Zeit des Ersten Weltkrieges an, dass man diese neuen Curriculums geschaffen hat - Columbia University hat das am Anfang gemacht, ungefähr 1915/16, und dann haben viele andere Universitäten diese Programme kopiert. Am wichtigsten ist die University of Chicago - Great Books Programs, Western Civilization Programs, und dann geht es auch weiter an anderen Universitäten. Und 1963, das wichtigste Fachbuch für Geschichte war "The Rise of the West" von William McNeill, ein sehr optimistisches Narrativ, dass der Westen innovativ ist und stark und kreativ, USA gehört dazu. Das kann man als Höhepunkt dieser Tendenz nennen, also USA und Europa zusammen im Westen, ein gemeinsames Erbe und auch das ein Rahmen für William McNeill 1963.
    Salewski: Sie haben das jetzt sehr schön klargemacht, wie stark dieses westliche Curriculum an amerikanischen Universitäten gelehrt und vertreten wurde, aber gleichzeitig haben Sie gesagt, das traf nicht auf die gesamte Bevölkerung zu, das war eher ein elitäres Konzept, dieses Narrativ.
    Kimmage: Was Amerikas Werte in den USA sind, ist, wie intensiv der Blick auf Europa war, und das war fast eine postkoloniale Situation. Gebildet sein bedeutet, was anderes zu studieren, nicht unsere Tradition, unsere Literatur, unsere Kunst, aber die Kunst Europas. Amerika kann wählen - entweder machen wir das global oder vielleicht machen wir das Amerikanische, aber wir können auch entscheiden, Europa zu studieren als unsere Tradition. Und das haben sie für die ersten sechs oder sieben Jahrzehnte im 20. Jahrhundert gemacht, und dann sind die Tendenzen anders geworden.
    Andere Sicht auf Europa - imperialistisch und rassistisch
    Salewski: Was ist da passiert, was hat sich da geändert?
    Kimmage: Zuerst gibt es in den 60er-Jahren die Rights Revolutions, also verschiedene kulturelle Revolutionen, wo man die ganze Gesellschaft neu konzipiert hat. Und das hat mit Männern und Frauen, also mit Gender zu tun, es hat mit Schwarzweiß in den USA zu tun, es hat auch mit Migration und den verschiedenen Gemeinschaften zu tun und es war viel schwieriger zu sagen nach diesen Revolutionen, dass die USA einfach europäisch ist, dass das europäische Erbe unkompliziert auch das amerikanische Erbe ist.
    Es gibt andere Seiten der Gesellschaft, und zum Beispiel mit African-American Studies, die in den 60ern anfängt, war fast ein Versuch, weg von Europa zu kommen oder Europa anders zu studieren, Europa als imperialistisch, Europa als eine Quelle für den amerikanischen Rassismus. Und diese Änderungen konnte man nicht so denken, wie man früher gedacht hat. Man musste anders denken und man musste die Gesellschaft anders sehen. Das war eine positive Entwicklung für die USA, das kann man nicht anders sehen. Es war eine nötige und positive Entwicklung, aber es hat natürlich große Konsequenzen für Bildung. Und letztendlich kann man sagen, dass es in den 60ern den Vietnamkrieg gab und Hauptburg der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg war in den Universitäten.
    Und dann hat man die Außenpolitik anders verstanden, also nicht als eine rein positive Sache, die wunderbare amerikanische Außenpolitik nur ein Freiheitsnarrativ, aber eine potenziell sehr hässliche Sache und vielleicht auch europäisch in schlechtem Sinn, in europäischem Sinne von Imperialismus und Rassismus. Für die amerikanische Linke war das alte Freiheitsnarrativ fast als eine Lüge verstandene Propaganda. Und diese Stimmung bleibt bis heute auf jeden Fall an vielen amerikanischen Universitäts-Campussen.
    "Ost-West-Unterscheidung als ein Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit"
    Salewski: Jetzt haben wir das goldene Zeitalter ja fast übersprungen, also nach '45 die Zeit: Der Zweite Weltkrieg und die Zeit danach, der Kalte Krieg, das ist eine ganz entscheidende Phase für das Selbstverständnis von den USA und von Europa als Westen. Können wir da noch mal hin zurück? Was ist da passiert nach '45? Da war Amerika doch die westliche Führungsmacht, viel stärker Westen als es Europa war.
    Kimmage: Der Kalte Krieg spielt eine sehr große Rolle und ist perfekt eigentlich für dieses Freiheitsnarrativ. Die Sowjetunion war aus dieser Perspektive nicht westlich - sie war autoritär, es war säkular, kein westliches Erbe, und es war auch östlich. Auf der anderen Seite gibt es die USA und Westeuropa - demokratisch, christlich und sehr in dieses westliche Erbe involviert, davon geschaffen und auch geografisch westlich. Geografie, politische Situation, militärische Situation, aber auch die kulturelle Situation, die waren alle eigentlich perfekt für eine Ost-West-Unterscheidung und diese Unterscheidung als ein Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit zu verstehen. Also viele, viele Tendenzen kommen zusammen in diesen Jahren, und die Landschaft ist fast perfekt für ein Freiheitsnarrativ mit den USA in Führungspositionen. Und so haben Truman und Eisenhower und Kennedy rhetorisch und politisch agiert, als ob sie da sein würden als amerikanische Präsidenten, den Westen zu führen und den Westen weiter in die Freiheit zu bringen.
    Kennedys Botschaft: Wir sind zusammen im Westen
    Salewski: Ich spreche mit dem amerikanischen Historiker Michael Kimmage über das Selbstverständnis der USA als Teil des Westens, und wir tun das und sitzen beide gerade eigentlich im Zentrum dieses Themas. Sie sitzen in einem Studio in Washington D.C., der Hauptstadt der USA, der ja vielleicht ehemaligen Führungsmacht des Westens, ich sitze hier in Berlin im Gebäude des ehemaligen RIAS, des Rundfunks im amerikanischen Sektor, der nach dem Zweiten Weltkrieg von der US-amerikanischen Militärverwaltung gegründet wurde. Und der RIAS ist in Sichtweite vom Rathaus Schöneberg, auf dessen Balkon John F. Kennedy 1963 eine Rede gehalten hat, und diese Rede spielt in Ihrem Buch eine zentrale Rolle.
    Kimmage: Das stimmt. Kennedy hat das am besten gemacht. Dieses Freiheitsnarrativ hat kein anderer amerikanischer Präsident so gut gemacht wie John F. Kennedy und das war rhetorisch brillant von ihm, also nicht nur dieses berühmte "Ich bin ein Berliner", er hat vor dem Rathaus Schöneberg gesagt, "civis Romanus sum", und das ist eine sehr interessante Botschaft an ein deutsches Publikum im Sommer '63. Das bedeutet, wir sind hier zusammen, wir stehen in denselben Traditionen und wir führen zusammen den Kalten Krieg.
    Aber es war auch ein Versuch, Deutschland wieder in den Westen zu bringen. Man könnte eine ganz andere Rede da halten in Berlin, es gibt eine schlechte Geschichte hinter uns - diese Nazizeit, Zweiter Weltkrieg hat John F. Kennedy gar nicht erwähnt. Wir sind jetzt zusammen im Westen, und das ist, was wirklich wichtig ist. Für mein Buch ist genau das das Zentrum, dass Kennedy so argumentieren konnte, dass er so sprechen konnte, und wenn man in Videos das deutsche Publikum sieht, es gab einen großen Enthusiasmus in Westberlin für seine Botschaft - nicht nur, dass er das rhetorisch gut gemacht hat, aber es hat auch politisch funktioniert.
    Salewski: Es gab den Enthusiasmus in Berlin, gab es diesen Enthusiasmus auch in den USA?
    Kimmage: Auf jeden Fall, Kennedys Stimmung war auch die Stimmung in den Universitäten, grob gesagt, aber auch, denke ich, für das amerikanische Publikum im Jahr '63 waren die USA als Führer des Westens attraktiv. Es war spannend, es war inspirierend, und Kennedy konnte das mit seiner Jugend und seiner Energie ziemlich gut verkörpern. Also es hat in Deutschland politisch funktioniert, es hat in den USA politisch funktioniert, und das ist auch sehr, sehr wichtig.
    "Der Westen fast als Gegenteil vom Freiheitsnarrativ"
    Salewski: Ihr Buch hat ja den Titel "Der Niedergang des Westens - eine amerikanische Geschichte". Woran machen Sie das fest, was ist der Niedergang jetzt in dieser Zeit nach der Kennedy-Rede, nach dem goldenen Zeitalter?
    Kimmage: Was in den USA passiert, ist nicht, dass der Westen verschwindet, aber es wird immer konservativer in den 80ern. Ronald Reagan hat immer für den Westen gekämpft, es war genauso wichtig für Ronald Reagan wie für John F. Kennedy. Also der Begriff in den USA wird immer konservativer und nach dem Kalten Krieg fängt ein neues Kapitel an. Und was die USA versuchen und auch Bill Clinton und auch unter George W. Bush, ist, mehr eine globale Politik zu führen. Es ist nicht, dass man gegen den Westen ist und auf jeden Fall nicht gegen Europa, aber weniger und weniger zentral und vielleicht weniger und weniger wichtig. Und auch für Barack Obama - man muss wirklich suchen, bevor man den Westen findet. Er hat nicht über den Westen gesprochen und Freiheit ist vielleicht für Barack Obama auch viel weniger spannend, als das für John F. Kennedy war. Also andere Narrative kommen nach vorne und was wir jetzt haben mit Donald Trump, ist fast auch ein neues Kapitel. Und der Westen als Narrativ oder als Begriff ist nicht die Brücke zwischen den USA und Europa im Moment.
    Salewski: Stimmt das tatsächlich, also gibt es nicht gerade auch wieder einen Aufstieg des Westens als kulturellem Begriff, und zwar in einer dunkleren und hässlicheren Version, nämlich der Westen im Prinzip als kultureller Kampfbegriff, als Begriff, um sich abzugrenzen und um auszugrenzen, zum Beispiel gegenüber dem Islam, gegenüber nicht-europäischen Emigranten vonseiten rechter Populisten zum Beispiel. Ist das nicht gerade wieder ganz stark, dieses Verständnis von Westen?
    Kimmage: Das stimmt. Also in den 90ern ist eine euphorische, universalistische Stimmung und dann gibt es drei spätere Entwicklungen, die den Westen neu zu uns bringen. 11. September in den USA und ein Diskurs Islam gegen den Westen hat George W. Bush immer sich davon distanziert, also es ist nicht ein Krieg gegen eine Religion, nicht ein Krieg gegen den Islam, aber andere, viele andere haben das als einen Krieg zwischen Islam und dem Westen verstanden. Und dann, 2014, mit dem Konflikt zwischen Russland und der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, sieht man wieder auf jeden Fall einen Diskurs des Westens und das ist im Rahmen des Kalten Krieges. Putins Russland als autoritär, aggressiv, eine Bedrohung vom Osten und Brüssel und Berlin und Paris und Washington kämpfen für die Freiheit, für die Demokratie, und die tun das als westliche Mächte, die machen das für den Westen. Das ist ein kleiner Kalter Krieg, so könnte man es nennen. Und das dritte Ereignis ist, dass man diesen neuen Populismus hat. Es ist nicht ein antiwestlicher Populismus in Deutschland, in den USA, Frankreich, Polen, Ungarn, es ist eigentlich ein westlicher Populismus, aber der Begriff des Westens ist wieder was Neues. Es ist antiislamisch, nationalistisch, christlich und teilweise reaktionär, also es nicht das Freiheitsnarrativ, das für mich im Kalten Krieg am wichtigsten war, es ist fast das Gegenteil.
    "Ich würde gerne einen anderen Westen verteidigen im Moment"
    Salewski: Das, was Sie gerade zeigen, zeigt, wie schwierig das ist, sich diesem Begriff auch zu nähern, wie viel unterschiedliche Bedeutungen da mitschwingen.
    Kimmage: Das stimmt.
    Salewski: Sollten wir uns da nicht einfach vielleicht überhaupt von diesem Begriff des Westens oder von diesem Narrativ des Westens verabschieden? Also wenn ich einerseits über Freiheit, über Demokratie, über Bürgerrechte sprechen will, dann kann ich es ja einfach sagen. Warum müssen die noch dieses Label, dieses Etikett Westen haben - und der Westen als kultureller Kampfbegriff, der ausgrenzend ist, ist auch kein Konzept, mit dem ich mich anfreunden kann. Sollten wir das nicht einfach sein lassen, diese Rede vom Westen?
    Kimmage: Ich fürchte, dass wir diese Macht nicht haben. Man kann sagen, das ist widersprüchlich, das ist philosophisch fast ohne Bedeutung, weil es zu viele Bedeutungen gibt, aber es wird immer weitergehen - wenn es nicht nur ein Teil unseres Erbes ist, es ist auf jeden Fall ein Teil unseres politischen Diskurses. Und ich meine, unser politischer Diskurs in Deutschland und in den USA wird mit uns bleiben.
    Aber es gibt andere Gründe, warum man fast immer über den Westen reden und denken sollte, und das ist nicht nur, dass es zu unserer Gesprächskultur gehört und zu unserer Politik gehört - Außenpolitik, Innenpolitik -, aber es gibt auch andere politische Kulturen und Mächte, die beständig über den Westen sprechen. Also in der Türkei gibt es eine sehr wichtige Debatte über den Westen, gehört die Türkei dazu, sollte es nach Westen oder nach Osten gehen, und in Russland hat man diese Debatte seit den letzten 200, 300 Jahren, und Putin hat seine Meinungen dazu, spielt eine sehr große Rolle in Russland. Sogar wenn wir noch nicht an den Westen glauben, glauben viele andere, dass wir der Westen sind, und das ist ziemlich wichtig zu verstehen.
    Aber auch, wenn man über Kampfbegriffe spricht und Polemik und so weiter, kann man nicht gegen Populismus kämpfen, wenn man das will - ich würde das gerne machen -, aber man kann nicht gegen Populismus kämpfen und sich nicht an den Westen erinnern. Donald Trump ist im Sommer 2017 nach Warschau gegangen, hat seine Europarede da gemacht und hat über den Westen gesprochen, und das war ein Westen vom Islam bedroht und ein ethno-nationalistischer Westen, also kann man nicht ein Gegner Donald Trumps sein und nicht über den Westen denken. Ich würde gerne einen anderen Westen verteidigen im Moment und einen kosmopolitischen Westen, der mit Demokratie verbunden ist und mit Rechtsstaat verbunden ist, und es gibt ein historisches kulturelles Erbe. Es ist nicht nur künstlich, und es ist vielleicht ein Kern unserer gegenwärtigen Debatte.
    "Ich habe Schwierigkeiten, die USA im Moment als selbstbewusstes westliches Land zu beschreiben"
    Salewski: Plädieren Sie dann dafür, dass man an den Universitäten in den USA wieder verstärkt ein Curriculum lehrt, das sich am Westen orientiert?
    Kimmage: Ich denke schon, aber das kann man nicht machen, wie man das früher gemacht hat, also diese andere Seite, die nicht europäische Seite der Gesellschaft muss natürlich da sein und muss sehr präsent sein. Es ist auch so, dass wenn man den Westen wiederbringt in den Universitäten, muss man nicht so optimistisch sein. Es muss nicht "The Rise of the West" sein, es kann viel kritischer sein, aber es wäre gut, mehr Westen zu haben - die Vergangenheit zu verstehen, aber auch die Werte, die im Moment unter enormem Druck sind, diese Werte am besten zu verstehen. Und natürlich sind westliche Werte schwierig zu definieren, aber die Trennung von Kirche und Staat gehört auf jeden Fall dazu und auch eine Idee von Macht, von begrenzter Macht, Separation of Powers sagt man auf Englisch, dass man Executive Power im Rahmen haben kann, das würde ich eine westliche Idee nennen. Nicht, dass andere Traditionen diese Idee nicht haben, aber es ist eine wichtige westliche Idee, und das ist gegenwärtig ziemlich prägend und ziemlich wichtig.
    Salewski: Wie ist das denn, wie schätzen Sie das ein, heute, 2018, also begreifen sich die USA - nicht nur in den Eliten, sondern grundsätzlich - als westliches Land?
    Kimmage: Ich bin nicht so sicher. Es gibt Druck auf dieses Bild, USA als westliches Land, von beiden Seiten der politischen Kultur. Trump ist ein stolzer Nationalist, also America First, und hat keine Ahnung von westlicher Tradition, und es stört ihn gar nicht. So wie John F. Kennedy zu sprechen in Berlin, "civis Romanus sum", "ich bin ein Berliner", das kann Donald Trump nicht, das will er nicht und sein nationalistischer Populismus ist auch in der praktischen Politik oft ziemlich antieuropäisch, antideutsch. Sein Verhältnis zu Deutschland ist viel kritischer als sein Verhältnis zu Russland. Auch auf der linken Seite gibt es ziemlich wenig Enthusiasmus für den Westen. Das ist seit dem Vietnamkrieg mit Imperialismus verbunden, es ist auch für die Linke elitär. Entweder hat man einen einheimischen Multikulturalismus oder man sollte einen globalen Blick haben, aber westlich ist zwischen altmodisch und rassistisch. Es gibt eine ganz kleine Gruppe, die vielleicht diesen klassischen Westen in den USA verteidigt und daran glaubt, und langsam muss man akzeptieren, dass, wie es früher war, ist es nicht mehr. Ich habe Schwierigkeiten, die USA im Moment als selbstbewusstes westliches Land zu beschreiben.
    "Eine Außenpolitik ohne Kultur ist keine Außenpolitik"
    Salewski: Warum reicht es nicht, global zu denken, universalistisch zu denken, Freiheit und Demokratie zu verteidigen? Braucht man da dieses Narrativ vom Westen, wo Sie sagen, es ist nur noch eine ganz kleine Gruppe und es ist altmodisch geworden?
    Kimmage: Ich denke, aus zwei Gründen braucht man diesen Westen. Der erste ist, dass diese Geschichte nicht künstlich ist, diese Geschichte ist nicht unwahr, das ist eine Geschichte, die durch die amerikanische und die französische Revolution geht, zurück zur frühen Moderne und zur antiken Ideengeschichte, politische Geschichte, und man kann es als Geschichte des Westens beschreiben. Also diese Geschichte ist da, und es ist nur ein Verlust, wenn man das nicht studiert oder wenn man das vergisst. Aber das ist ein bisschen abstrakt.
    Was prägender ist, für mich mindestens, ist, dass das transatlantische Bündnis, das unter Druck steht im Moment, nicht nur ein Sicherheitsbündnis und nicht nur ein wirtschaftliches Bündnis ist, das sagen viele, es ist eine Wertegemeinschaft. Diese Werte gegenwärtig zu machen, mächtig zu machen, die müssen auch kulturelle Werte sein. Und wenn sie kulturell sind, ist es nicht global oder rein universalistisch. Die haben eine kulturelle Tradition hinter sich und diese kulturelle Tradition ist eine westliche Tradition, also NATO und das transatlantische Bündnis heute zu verteidigen. Man muss jetzt versuchen zu sehen, wie man das kulturell machen kann, und das ist enorm schwierig. Aber wenn wir das nicht machen können kulturell, dann wird das Bündnis langsam verschwinden, denke ich. Ich würde den Westen im Moment verteidigen, das transatlantische Bündnis zu verteidigen.
    Salewski: Das heißt, um dieses transatlantische Bündnis auf politischer Ebene, auf Sicherheitsebene aufrechtzuerhalten, sagen Sie, brauchen wir irgendwie ein gemeinsames kulturelles Verständnis, das uns bindet, und das war bisher der Westen und ist jetzt problematisch geworden.
    Kimmage: Genau. John F. Kennedy, als er nach Berlin gekommen ist '63, hat nicht nur über Sicherheit an sich gesprochen und hat gar nicht über Wirtschaft gesprochen. Es war das, was Gemeinsames ist und eine lange Geschichte vielleicht: "Civis Romanus sum", eine Art Freundschaft, "Ich bin ein Berliner", aber auch eine gemeinsame Attraktion zur Freiheit. Ich meine nicht, dass man John F. Kennedy einfach wiederholen und sein Rezept jetzt benutzen sollte, aber was für mich wichtig ist: Er hat wirklich kulturell argumentiert. Eine Außenpolitik ohne Kultur ist keine Außenpolitik. Entweder findet man kulturelle Grundrisse für dieses Verhältnis, US-deutsch-Verhältnis, transatlantisches Verhältnis, oder man benutzt vielleicht ein bisschen die alte westliche Idee, das zu tun. Aber das muss man tun oder es wird langsam einfach verschwinden.
    "Jetzt stehen wir vor einem sehr großen Wendepunkt"
    Salewski: Was heißt das denn ganz konkret, also was verbindet uns hier in Deutschland kulturell mit den USA, heute, 2018, nicht zu Kennedys Zeiten?
    Kimmage: Unter Donald Trump ist es keine einfache Frage. Donald Trump hat keine Zuneigung zur Freiheit, hat kein großes Interesse an Europa. Mit Demokratie und Freiheit wird es kein Ende in den USA haben, weil es eine innere Sache ist, und Verfassung und Abraham Lincoln und die großen Reden Martin Luther Kings junior, aber das bleibt als Tradition und wird immer bleiben. Aber dieser transatlantische Westen und der transatlantische Westen mit einem großen europäischen kulturellen Erbe hinter sich, dafür braucht man eine sehr gute Beziehung zu Europa. Woodrow Wilson hat versucht, das zu schaffen, Franklin Roosevelt hat das geschafft, die Kalter-Krieg-Präsidenten haben das mehr oder weniger geschafft und sogar Barack Obama, wenn er nicht romantisch an den Westen geglaubt hat, Barack Obama hat wunderbar mit Angela Merkel gearbeitet und Europa war immer wichtig. Jetzt stehen wir vor einem sehr großen Wendepunkt und wenn die amerikanische Außenpolitik sich von Europa begrenzt - und vielleicht will Donald Trump das -, und wenn das klappt, würde ich sagen, dass die USA vom Westen rausgegangen ist. Kein Westen in den USA ohne Europa - entweder als Erbe oder als eine lebendige Beziehung, die auf Werten basiert.
    Salewski: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kimmage!
    Kimmage: Vielen Dank von meiner Seite!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Michael Kimmage ist Professor für Geschichte an der Catholic University of America in Washington D.C. und war Policy-Berater für das U.S. Department of State. Er schreibt für die Washington Post, New York Times, FAZ und New Republic und hat zwei Bücher veröffentlicht: "The Conservative Turn: Lionel Trilling, Whittaker Chambers and the Lessons of Anti-Communism" und "In History’s Grip: Philip Roth’s Newark Trilogy". Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über Amerikas Verhältnis zum Westen.