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Anklage im Fall Walter Lübcke
Vorwurf: Mord aus rechtsextremistischen Motiven

Elf Monate nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage. Juristisch wie politisch weist der Fall weit über sich hinaus. Weitere dem Angeklagten E. zugeschriebene Taten und Verbindungen zum NSU-Komplex werden Hessens Richter und Politiker noch länger beschäftigen.

Von Ludger Fittkau |
Ein gerahmtes Porträtfoto des erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) steht auf einem Platz einer Ehrentribüne
Sein Platz bleibt leer - Foto des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU), der im Juni 2019 auf seiner Terrasse erschossen wurde (picture alliance / Swen Pförtner)
Wolfhagen-Istha, 23 Kilometer westlich der Kasseler Innenstadt gelegen. Es ist der 2. Juni 2019, im Dorf gibt es ein Volksfest. Auf der Terrasse seines Wohnhauses lässt der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke den Tag bei einer Zigarette ausklingen. Doch dann wird er aus nächster Nähe erschossen.
"Unser Vater fehlt uns allen sehr: Man kann kaum ermessen, was einem angetan wird, wenn der eigene Ehemann, der eigene Vater und Opa, erschossen wird", sagt Jan-Hendrik Lübcke, der Sohn des ermordeten Politikers und Geschäftsführer eines Solarunternehmens.
Die Tat liegt ein halbes Jahr zurück, als er diese Worte bei einer Ehrung seines Vaters in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden spricht.
Sohn Jan-Hendrik Lübcke bei der posthumen Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille an seinen Vater
Sohn Jan-Hendrik Lübcke bei der posthumen Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille an seinen Vater (picture alliance / dpa / Andreas Arnold)
Jan-Hendrik Lübcke geht auch auf den Moment ein, der seinen Vater womöglich das Leben gekostet hat.
Es ist der 14. Oktober 2015 in Lohfelden, einer 14.000-Einwohner-Gemeinde unmittelbar vor den Toren Kassels. Rund 800 Bürgerinnen und Bürger sind zu einer Versammlung gekommen, in der Walter Lübcke als zuständiger Regierungspräsident über eine geplante Flüchtlingsunterkunft informieren will. Jan-Hendrik Lübcke:
"Wie wir alle wissen, gab es auch kritische Stimmen und Meinungen zur Flüchtlingspolitik. Auch hier war es seine Aufgabe zu reagieren, die Ängste in der Bevölkerung anzuhören und diese durch Aufklärung zu nehmen. Dies gehörte ebenso zu seinem Selbstverständnis, wie sich hasserfüllten Äußerungen entschieden entgegenzustellen und demokratische Werte zu verteidigen. So auch bei der Veranstaltung in Lohfelden im Herbst 2015. Bei dieser wurde ein Halbsatz unseres Vaters aus dem Kontext gerissen. Vorangegangen waren provozierende und verächtliche Zwischenrufe zur Flüchtlingspolitik gegen den deutschen Staat, gegen die Demokratie und gegen sein Handeln. Die eindeutige Positionierung gegenüber den Störenden wurde ihm schlussendlich zum Verhängnis."
Der Journalist und Autor Christian Fuchs, aufgenommen am 14.11.2013 nach einer Pressekonferenz in Hamburg mit seinem Buch "Geheimer Krieg".
"Auf jeden Fall eine Mitschuld der Neuen Rechten"
Zwischen dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke und dem Verhalten der AfD gebe es direkte Zusammenhänge, sagte der Terrorexperte Christian Fuchs im Dlf. Die Partei habe nie klare Kante gegen extremistische Äußerungen und direkte Morddrohungen gezeigt.
"Aus dem Kontext gerissener Halbsatz unseres Vaters"
Die Stimmung im Saal ist schnell aggressiv, schildern Zeugen später. Walter Lübcke reagiert auf Zwischenrufe mit einem Dank an ehrenamtliche Flüchtlingshelfer und mit der Aussage, dass es sich lohne, in diesem Land zu leben und für Werte einzutreten. Dann fällt der Satz, der gefilmt und ins Internet gestellt wird: "Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist."
Jan-Hendrik Lübcke: "Der aus dem Kontext gerissene Halbsatz unseres Vaters, diese bewusst verkürzte Darstellung seiner Aussage, führte nicht nur zu falschen inhaltlichen Interpretationen und Bewertungen, sondern wurde instrumentalisiert, um gegen ihn zu hetzen, ihn zu beleidigen und ihn zu denunzieren. Aus Worten wurden Taten - die unbegreifliche Ermordung unseres Vaters."
Diese Veranstaltung in Lohfelden nennt der Hauptverdächtige Stephan E. in seinem - später widerrufenen - ersten Geständnis der Mordtat gegenüber Ermittlern als Tatmotiv. Er sei empört gewesen und habe es nicht fassen können, so sein Anwalt, "dass ein Politiker weiten Teilen der Bevölkerung nahelegt, das Land zu verlassen, weil sie anderer Meinung sind zu dieser Thematik".
Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird nach einem Haftprüfungstermin zu einem Hubschrauber gebracht. Foto: Uli Deck/dpa
Stephan E. ist vorbestraft und war schon vor der Tat zwischenzeitlich unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz (picture alliance / dpa / Uli Deck)
Als Stephan E. laut eigener Aussage an dieser Bürgerversammlung in Lohfelden teilnimmt, die seinen Hass auf Walter Lübcke weckt, ist er 42 Jahre alt. Doch bereits als Jugendlicher hat er sich gewaltbereit gezeigt, von rassistischem Hass getrieben.
Gewaltbereit und von rassistischem Hass getrieben
Als Fünfzehnjähriger vergießt er Benzin im Keller eines Hauses, in dem überwiegend Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte leben. Es entsteht Sachschaden, verletzt wird niemand. Sechs Jahre später baut Stephan E. eine Rohrbombe, platziert sie in einem Auto vor einer Flüchtlingsunterkunft im hessischen Taunus. Er setzt den Wagen in Brand, die Bewohner können ihn löschen, wodurch die Bombe nicht zündet.
Stephan E. wird gefasst, bekommt sechs Jahre Jugendstrafe. Seit diesem Anschlag wird er vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist beobachtet. Später verschwindet er wieder vom Radar des Inlandsgeheimdienstes, so Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz:
"Zehn Jahre war er praktisch aus unserer Wahrnehmung. Damit ist nicht gesagt, dass nichts war, aber in unserer Wahrnehmung unauffällig. Insofern wurde er von uns aktuell nicht mehr schwerpunktmäßig bearbeitet."
So fielen auch weitere schwere Straftaten nicht auf, die Stephan E. jetzt angelastet werden. So hat er möglicherweise im Jahr 2003 einen weiteren Mordanschlag auf einen Kasseler Lehrer begangen. Ein Schuss von außen in die Privatwohnung des gegen Rechtsextremismus engagierten Lehrers hatte den Kopf des damals 48 Jahre alten Mannes nur knapp verfehlt. Die Lübcke-Ermittler fanden laut NDR und "Spiegel" auf einem Rechner Stephan E.s ein Dossier über das Opfer sowie ein Foto.
Vor mehr als zehn Jahren soll Stephan E. außerdem die Kasseler Synagoge als mögliches Anschlagsziel ins Visier genommen haben – das berichtete der "Spiegel" Mitte April 2020. Ein USB-Stick mit entsprechenden Aufzeichnungen sei erst im Zuge der Ermittlungen im Fall Lübcke an seinem Wohnort entdeckt worden. Auch Namenslisten von Kommunalpolitikerinnen und -politikern, die für Anschläge in Betracht gezogen wurden, seien in Wohnräumen des Stephan E. gefunden worden.
Außerdem soll Stephan E. im Januar 2016 in der Nähe seines Wohnhauses den irakischen Asylbewerber Ahmad E. niedergestochen haben. Der Iraker wurde schwer verletzt. Er war damals erst wenige Wochen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Lohfelden untergebracht, die Thema der bewussten Bürgerversammlung im Oktober 2015 mit Walter Lübcke gewesen war.
Kundgebung der Neonazi-Partei "Die Rechte" für die verurteilte und inhaftierte Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck am Jahrestag der Nazi-Reichpogromnacht am 9. November in Bielefeld.
Rechte Gewalt als Konstante deutscher Geschichte
Rassistisch oder nationalistisch motivierte Gewalt ist als Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte noch kaum erforscht. Aber auch die Geschichte von Solidarität und Gegenwehr der Opfer ist erst lückenhaft dokumentiert. Der "Zeithistorische Arbeitskreis Extreme Rechte" versucht eine Bestandsaufnahme.
"Völkisch-nationalistische Grundhaltung"
Das Geständnis, das Stephan E. zum Mordfall Lübcke im Sommer 2019 ablegt, widerruft er nach fünf Monaten Untersuchungshaft Anfang 2020. Er belastet nun seinen alten Neonazi-Freund H.
Frank Hanning, der Anwalt von Stephan E., kurz nach dem Jahreswechsel:
"Der Herr E. hat den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs heute darüber unterrichtet, dass er am 1.6.2019 gemeinsam mit einem Bekannten, dem bereits mitbeschuldigten Markus H., zum Grundstück des Herrn Lübcke gefahren ist, wo, wie Herr E. glaubt, der Herr H. den Herrn Dr. Lübcke versehentlich erschossen hat."
Anfang März 2020 teilt der Bundesgerichtshof mit, dass die Ermittler im Fall Lübcke trotz dieser geänderten Aussage Stephan E. weiterhin für den Täter halten. Das sei "nach wie vor hochwahrscheinlich", heißt es in der Erklärung des Gerichtes.
So sei an der Tatwaffe und der Munition ausschließlich DNA von Stephan E. gefunden worden. Gegen eine versehentliche Tötung spreche überdies der bei der Obduktion festgestellte Verlauf des Schusskanals. Dieser deute darauf hin, dass der Täter sich Lübcke unbemerkt genähert habe. Dazu passe auch, dass Lübcke laut einem Zeugen nach der Tat noch seine Zigarette in der Hand gehalten hat.
Walter Lübcke spricht bei einer Pressekonferenz. Foto: Uwe Zucchi/dpa
Lübcke habe gegenüber Feinden der Demokratie kein Blatt vor den Mund genommen, sagt sein Sohn (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
Jetzt hat der Generalbundesanwalt Anklage gegen den Hauptverdächtigen Stephan E. wegen Mordes und versuchten Mordes erhoben. Außerdem wird er wegen Verstößen gegen das Waffengesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz angeklagt. In der Anklageschrift heißt es: "Ausschlaggebend für die Tat war die von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragene völkisch-nationalistische Grundhaltung von Stephan E."
Gemeinsame Schießübungen mit Mitangeklagtem
Der 43 Jahre alte Rechtsextremist Markus H. wird wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Markus H. sei zwar nicht in die konkreten Anschlagspläne eingeweiht gewesen, heißt es in der Anklageschrift: "Er jedoch hielt es spätestens ab Juli 2016 für möglich, dass Stephan E. aus seiner rechtsextremistischen Weltanschauung heraus einen politischen Entscheidungsträger töten würde. Markus H. nahm dies dabei ebenso billigend in Kauf wie die Umstände, dass er durch die gemeinsamen Unternehmungen Stephan E. in seinem Willen zur Begehung eines solchen Anschlags bestärkte."
Bestärkt haben soll Markus H. den Stephan E. in seinem Willen, Lübcke zu töten, auch durch gemeinsame Schießübungen oder die Teilnahme an politischen Demonstrationen. Auch ihm wird ein Verstoß gegen das Waffengesetz vorgeworfen.
Innenminister Peter Beuth: "Kein innenpolitisches Ereignis hat das Jahr 2019 so sehr geprägt wie der grausame Mord an unserem Regierungspräsidenten Doktor Walter Lübcke. Weil die strafrechtlichen Ermittlungen sofort mit Hochdruck eingeleitet wurden, und dank der besonderen Expertise der hessischen Polizei in der DNA Analysetechnik sowie der akribische Ermittlungsarbeit kann der Prozess gegen den Tatverdächtigen jetzt bald beginnen."
Michael Brand, CDU, aufgenommen im Rahmen der Bundespressekonferenz.
"Direkte Linie der Hetze von Höcke und Co. zu Gewalt und Mord"
Hass und Hetze der letzten Jahre hätten den Mord an Walter Lübcke möglich gemacht, sagte der CDU-Politiker Michael Brand wenige Wochen nach der Tat im Dlf. Er bezog sich damit auch auf den rechten Flügel der AfD.
So der hessische Innenminister Peter Beuth im Februar 2020 in einer Regierungserklärung zur inneren Sicherheit in Hessen im Wiesbadener Landtag. Er steht unter Druck, denn es gibt eine Verbindung vom Lübcke-Mord zum NSU-Komplex. Beuth musste bereits im Herbst zuvor einen Konnex zwischen dem ehemaligen hessischen Verfassungsschützer Andreas Temme und dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan E. einräumen. Temme sei mit dem Rechtsextremisten Stephan E. "dienstlich befasst" gewesen, erklärte der CDU-Innenminister im Innenausschuss des hessischen Landtags auf eine gezielte Nachfrage von SPD-Abgeordneten.
Untersuchungsausschuss in Wiesbaden angestrebt
Andreas Temme war als Verfassungsschützer 2006 am Tatort in Kassel, als Halit Yozgat, der Betreiber eines Internet-Cafés, vom Nationalsozialistischen Untergrund – kurz NSU – ermordet wurde. Um kaum eine Figur hat sich im Zuge der Aufklärungsarbeiten zum NSU solch eine Menge an Fragen aufgeworfen, was mögliche Verstrickungen der Behörden in den rechten Terror angeht. Temme bestreitet zwar, den Mord beobachtet oder in dem kleinen Internet-Café überhaupt etwas von ihm mitbekommen zu haben. Doch viele Abgeordnete des Wiesbadener Landtags – sowohl aus Regierungs- als auch aus Oppositionsfraktionen – hegen bis heute den Verdacht, dass Temme mehr weiß.
Die Wiesbadener Parlamentarier wollen genauer wissen, wie eng die Verbindung des Lübcke-Mordverdächtigen Stephan E. und Temme wirklich war. Nach Begutachtung der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft gegen Stephan E. soll im Landtag dazu ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden.
Ungarische Aktivisten der Neonazigruppe Blood and Honour halten ein Banner. Budapest 9.2.2013  
Verbindungen zwischen NSU- und Lübcke-Mord
Rund um Kassel hat sich ab 1990 eine Neonazi-Szene etabliert, die nun wieder aktiver wird, sagen hessische Rechtsextremismus-Experten. Der NSU-Mord an Halit Yozgat 2006 sei aus denselben Kreisen unterstützt worden wie nun der Mord an CDU-Politiker Lübcke. Die Behörden hätten Spuren nicht weiter verfolgt.
Günter Rudolf, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion im hessischen Landtag, will dort vor allem nach dem Umgang der Sicherheitsbehörden mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan E. und dem möglichen Mittäter Markus H. fragen:
"Und das ist eine der zentralen Fragen, die nicht beantwortet sind: Warum konnten solche Personen jahrelang agieren, ohne dass sie nicht im Fokus und auf dem Schirm der hessischen Sicherheitsbehörden waren? Auch das ist eine Frage, die wir hier zu diskutieren haben."
Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Linken im hessischen Landtag, fragt überdies, warum Akten über Stephan E. gelöscht worden sind, obwohl er als gefährlich galt:
"Die Personenakten des oder der mutmaßlichen Lübcke-Mörder, die im Verfassungsschutz intern gelöscht wurden, obwohl die als Neonazis über Jahrzehnte hinweg aktiv waren. Die Rechtfertigung des Landesamtes für Verfassungsschutz lautet noch immer: Die waren über fünf Jahre nicht auffällig, die sind abgekühlt. Diese Aussage verhöhnt nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch den seinerzeitigen Verfassungsschutzpräsidenten Eisvogel, der Stefan E. noch Ende 2009 in einem internen Vermerk als brandgefährlich bezeichnete. Ich frage mich: Was haben da gemacht danach in diesem Amt? Haben die das beiseitegelegt, 'interessiert uns nicht', so kommt es mir gerade vor."
Haben Behörden und Regierung die Gefahr verkannt?
Die schwarz-grüne Regierungskoalition in Hessen betont heute: Sie habe insbesondere nach dem Mord am CDU-Regierungspräsidenten Lübcke die Bekämpfung des Rechtsextremismus ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Günter Rudolph verweist darauf, dass dies vor wenigen Jahren gerade bei der CDU noch ganz anders war:
"Weil - da erinnere ich mich noch an Aussagen im Untersuchungsausschuss NSU in 2014: 'In Nordhessen gibt es keine rechtsextreme Szene.' Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gab es 2006, die gab es auch nach 2011."
Das bestreitet auch Hessens Innenminister Beuth von der CDU heute nicht mehr. Er schilderte im Landtag einen weiteren Anstieg rechtsextremer Straftaten nach dem Lübcke-Mord:
"Der feige Mord an Walter Lübcke hat im vergangenen Jahr zu zahlreichen weiteren Straftaten in der rechtsextremistischen Szene in Hessen geführt. Mehr als 900 rechtsmotivierte Delikte wurden polizeilich registriert. Dies ist ein Anstieg von 50 Prozent. Ein Großteil dieser Taten waren Propagandadelikte, die sich wiederum oft im Internet abspielten. Sie zielten auf den Regierungspräsidenten selbst ab, aber es wurden auch fast 50 politische Amts- und Mandatsträger Opfer von Hass, Hetze, Beleidigung und zum Teil von konkreten Bedrohungen durch Rechtsextremisten. Besonders betroffen macht mich die Tatsache, dass 78 antisemitische Fälle registriert werden mussten, die fast alle rechtsmotiviert waren."
Grablichter und Blumen im hessischen Kesselstadt, wo in der Nacht auf Donnerstag tödliche Schüsse fielen
Einer der Tatorte der Anschläge von Hanau (AFP / Thomas Lohnes)
Einen ähnlichen Anstieg vor allem hasserfüllter Beleidigungen und Bedrohungen durch Rechtsextremisten im Internet registrieren die hessischen Ermittlungsbehörden aktuell auch wieder nach dem rassistisch motivierten Mordanschlag in Hanau am 19. Februar 2020. Neun Menschen starben, bevor sich der Täter selbst richtete, acht Opfer hatten eine Migrationsgeschichte. Nur wenige Wochen vor dem Anschlag in Hanau erinnerte Innenminister Beuth im Landtag auch das rassistische Attentat auf einen Flüchtling aus Eritrea in Wächtersbach bei Hanau:
"Nicht zuletzt der Mord an Walter Lübcke und die rassistisch motivierte Tat in Wächtersbach haben eine Entwicklung überdeutlich offenbart: die Verrohung von Sprache und die teils vollkommen enthemmter Hetze im Internet. Allein im Zusammenhang mit dem Mord an unserem ehemaligen Kollegen registrierten die Ermittler mehr als 7.000 Hasskommentare. Über 130 dieser Posts wurden von Polizei und Staatsanwaltschaft auf Strafbarkeit geprüft. Wir setzen mit unserer neuen Meldestelle 'Hessen gegen Hetze' ein Stoppsignal gegen Hass und Hetze im Internet. Bis heute sind bereits rund 250 Meldungen eingegangen, denen wir mit aller Konsequenz in jedem Einzelfall nachgehen."
Menschen in Hanau zünden Kerzen an und legen Blumen nieder.
Nach Hanau: Neue Strategien gegen Rechtsextremismus
Der rechtsextremistische Terror stellt Sicherheitsbehörden vor ein massives Problem. Laut BKA seien 50 Prozent der Täter vorher nicht polizeibekannt. Darauf müssten sich die Sicherheitsbehörden einstellen – und mehr Befugnisse zur Gefahrenabwehr erhalten, fordern Landespolitiker.
Aufstockung einer Cyber-Ermittlungseinheit
Nach dem Mord an Walter Lübcke hat das Land Hessen eine starke personelle Aufstockung einer besonderen Ermittlungseinheit beschlossen – der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität, kurz ZIT, der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Die ZIT-Staatsanwälte waren bis zum Lübcke-Mord gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden auf Ermittlungen im sogenannten "Darknet" spezialisiert. Nun kümmern sie sich auch um strafbare Hass-Kommunikation im gesamten Internet.
Eva Kühne-Hörmann, die hessische CDU-Justizministerin: "Wir merken in der Praxis, dass die Postings zunehmen und dass natürlich auch in diesem Bereich eine erhebliche Masse an Hass-Kommentaren und Posts vorhanden ist. Und deshalb ist es richtig, dass die ZIT sich jetzt diesem Schwerpunkt auch widmen soll, mit zusätzlichem Personal und natürlich auch mit dem Auge darauf, mit anderen Partnern zusammenzuarbeiten, um an die Hassmails und an die Hass-Posts heranzukommen, sie gleich bewerten zu lassen von der Staatsanwaltschaft, ob es strafrechtlich relevant ist, und dann eben auch die Täter zu ermitteln."
Der Frankfurter Generalstaatsanwalt Helmut Fünfsinn wird nach dem Anschlag in Hanau überdies der Opferbeauftragte des Landes: "Und deshalb hat die Zentralstelle es auch übernommen, in Schulveranstaltungen auf dieses Phänomen hinzuweisen und auch Tipps zu geben, wie die Dinge abzuarbeiten sind und wie man sich schützen kann, das ist eine extrem wichtige Aufgabe."
Die hessische Polizei richtete beim Landeskriminalamt in Wiesbaden nach dem Mord an Walter Lübcke außerdem eine sogenannte "Besondere Aufbauorganisation" ein, um den Druck auf die rechtsextreme Szene und rechte Straftäter zu erhöhen. Hessenweit besteht diese Polizeieinheit aus 140 Ermittlern. Innenminister Peter Beuth (CDU):
"Wir haben den Druck auf Rechtsextremisten in Hessen deutlich erhöht und werden ihn auch 2020 weiter hochhalten."
"Wir merken schon, dass die Worte roher werden"
Auch für Hartmut Linnekugel ist das enorm wichtig. Er ist Bürgermeister von Volkmarsen, einem Nachbarort von Wolfhagen, wo Walter Lübcke lebte. Hartmut Linnekugel war am Rosenmontag 2020 Zeuge einer Autoattacke auf den Rosenmontagszug seiner Stadt mit vielen Verletzten. Noch sind die Motive des Täters von Volkmarsen unklar – doch Bürgermeister Hartmut Linnekugel sieht eine Verbindung zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten:
"Doktor Walter Lübcke - eine Tat, die unbeschreiblich ist. Und jetzt trifft es kleinere Orte - wo wir alle mal vielleicht vor ein, zwei Jahren gedacht haben, dass diese Ereignisse wie in Berlin nicht auf das flache Land kommen. Das heißt, wir merken schon, dass die Worte roher werden. Die werden auch gegenüber Kommunalpolitikern entsprechend angewandt, ehrenamtlicher und hauptamtlicher Art. Und ich denke, wir sind, müssen alle gewappnet sein, hier zielgerichtet mit demokratischen Mitteln gegen vorzugehen."
Der Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein (CDU)
Diskussion: Wer schützt Kommunalpolitiker vor Hass und Hetze?
1.241 politisch motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger verzeichnete die Polizei allein im Jahr 2019. Hinzu kommen Bedrohungen und Hassmails, denen sich Kommunalpolitiker ausgesetzt sehen. Längst fordern die Betroffenen ein entschlossenes Entgegentreten. Doch wie kann das aussehen?
Jan-Hendrik Lübcke, der Sohn des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten, sagt:
"Besonders uns und unserer ganzen Familie fällt es schwer zu sehen und zu verstehen, wie der Extremismus wieder Raum in Deutschland findet und die Extremisten ihr verirrtes Denken ungeschönt in die Öffentlichkeit gröhlen. Nicht weniger schlimm waren und sind die Kommentare und Statements, die im Geheimen und in aller Öffentlichkeit nach der Tat und sogar noch heute gesagt, gepostet, geteilt wurden und werden."
Das Konterfei von Walter Lübcke (CDU) ist hinter einem Bundeswehrsoldaten am Sarg bei einem Trauergottesdienst in der Martinskirche zu sehen. Foto: Swen Pförtner/dpa-POOL/dpa
Trauerfeier für Lübcke am 13. Juni 2019 (dpa-POOL)
Auch Jan-Hendrik Lübcke fordert die Gesellschaft noch einmal eindringlich auf, besonders gegen Hass und Hetze im Internet entschlossener vorzugehen als bisher:
"Im Sinne unseres Vaters ist es unser aller Auftrag, diesem schrecklichen Ungeist entgegenzuwirken. Die Unkultur der Hetze und Diffamierung darf sich nicht verfestigen. Wir sind alle aufgefordert, demokratische Werte zu verteidigen, die schlimme Verrohung der Sprache zu stoppen, damit die jetzige Generation und nachfolgende in Frieden und Freiheit leben können. Also heißt es, sich erinnern, hinschauen, nicht wegsehen, das Gespräch suchen, sich einmischen und mitreden. Die Angst vor politischem Engagement darf sich nicht verfestigen. Gemeinschaftlich müssen wir dieser Angst entgegentreten. Verbale und körperliche Gewalt dürfen nicht toleriert werden. (…) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit."