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Antisemitismus
Aus Drohungen werden Taten

Juden sind in Berlin zunehmend Opfer von Übergriffen und Beschimpfungen. Eine Recherche- und Informationsstelle zählte 2018 täglich drei judenfeindliche Vorfälle in der Hauptstadt. Von einer zunehmenden Verrohung ist die Rede.

Von Claudia van Laak | 17.04.2019
Mehrere Teilnehmer der Solidaritätskundgebung «Berlin trägt Kippa» der Jüdischen Gemeinde zu Berlin tragen eine Kippa. Anlass ist der Angriff auf einen Mann mit Kippa in Prenzlauer Berg.
Teilnehmer einer Solidaritätskundgebung "Berlin trägt Kippa" der Jüdischen Gemeinde zu Berlin tragen eine Kippa (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
Der Kioskverkäufer ruft "Verpiss Dich, Du Judenschlampe", als er den Schlüsselanhänger mit dem Davidstern sieht. Dann bewirft er die Kundin mit Kronkorken und Müll. So geschehen am 8.September letzten Jahres in Neukölln.
Nur einer von mehr als 1.000 dokumentierten antisemitischen Vorfällen aus dem letzten Jahr in Berlin. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus zählte 2018 täglich drei judenfeindliche Vorfälle in der Hauptstadt.
Projektleiter Benjamin Steinitz: "Die wichtigsten Ergebnisse sind, dass wir nicht nur einen Anstieg um 14 Prozent haben, sondern wir haben vor allem einen Anstieg in den Deliktsarten, die für die Betroffenen eine besondere Bedrohung darstellen."
Alltäglicher Antisemitismus
Die Hemmschwellen seien gesunken, aus verbalen Bedrohungen seien Taten geworden, beklagt Steinitz, er spricht von einer zunehmenden Verrohung. In vielen Fällen könnten die Betroffenen den Angriffen und Bedrohungen nur schwer aus dem Weg gehen: "In ihrem eigenen Wohnumfeld, wo es langfristig ihr eigenes Sicherheitsgefühl beeinträchtigen kann. Oder auch im öffentlichen Nahverkehr, wo viele Zufallsbegegnungen stattfinden, wo man entweder auf den Bus oder die U-Bahn verzichten muss, oder große Umwege und sehr viel Aufwand in Kauf nehmen muss, um dem grundsätzlich aus dem Weg zu gehen."
Seit vier Jahren legt die Recherche- und Informationsstelle - eine Nicht-Regierungs-Organisation - ihren jährlichen Bericht für Berlin vor. Finanziert wird die Arbeit von der Justizverwaltung, die vor Kurzem auch eine Antisemitismusbeauftragte in der Generalstaatsanwaltschaft benannt hat.
Berlin sei Vorbild für andere Bundesländer, sagt Bianka Klose vom Zentrum Demokratischer Kulturen, dem Trägerverein der Recherchestelle Antisemitismus. Im letzten Jahr wurde ein entsprechender Bundesverband gegründet.
"Der Ansatz dieses Bundesverbandes ist es, in allen Bundesländern Registerstellen zum Thema Antisemitismus aufzubauen und zivilgesellschaftlich zu organisieren. Um auch dort ein dichtes Bild zum Thema alltäglicher Antisemitismus zu erhalten."
"Man nimmt eine verstärkte Bedrohungslage wahr"
Bayern ist bereits dem Berliner Vorbild gefolgt, weitere Recherchestellen in Brandenburg und Schleswig-Holstein sind in Vorbereitung. Wichtig sei es, auch Vorfälle zu erfassen, die jenseits der strafrechtlichen Relevanz lägen, ist Sigmount Königsberg überzeugt, der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Wir Juden sitzen nicht auf gepackten Koffern, sagt er, aber:
"Man schaut noch nach, wo sind die Koffer. Man geht schon die Szenarien durch. Man nimmt eine verstärkte Bedrohungslage wahr, man überlegt, werden meine Kinder hier in Berlin, in Deutschland leben können. Sind sie da sicher? Diese Fragen stellt man sich. Also die Sicherheit, die lange Jahre gegeben war, die ist heute nicht mehr gegeben."
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus hat sich auch mit den politischen Hintergründen der Täter beschäftigt. Ihre Analyse: Knapp 20 Prozent seien rechtsextrem motiviert. Fast zehn Prozent bezeichnen sie als israelfeindliche Aktivisten. Islamistischer Antisemitismus sei vergleichsweise selten anzutreffen – nur zwei Prozent der Vorfälle werden diesem Bereich zugeordnet.