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Juden in Berlin
Leben zwischen Klischees und Antisemitismus

Fast jeden Tag kommt es in Deutschland zu antisemitischen Übergriffen und Schmierereien. Antisemitismus zeigt sich aber auch an anderer Stelle: Wenn beispielsweise Medien judenfeindliche Klischees bedienen - wie jüngst der "Spiegel" mit dem Cover eines Sonderheftes. Berliner Juden zeigen sich überrascht bis empört.

Von Sebastian Engelbrecht |
Zwei gelbe Davidsterne sind an eine Stele am Marx-Engels-Forum in Berlin geschmiert
Antisemitische Schmierereien am Marx-Engels-Forum in Berlin (Imago)
Freitagabend in einer Synagoge in Berlin-Wilmersdorf: Rabbiner Yehuda Teichtal hat zum Solidaritätsgebet eingeladen. Er singt aus Psalm 121. Es geht um Solidarität mit Teichtal selbst. Zwei Männer hatten ihn 14 Tage zuvor auf der Straße bespuckt und auf Arabisch beleidigt. In der ersten Reihe betet Außenminister Heiko Maas mit.
"Wir stehen hier zusammen, und zwar auch im übertragenen Sinne, weil das, was vor zwei Wochen Rabbi Teichtal widerfahren ist, so unglaublich und auch unerträglich ist, dass ich nicht will, dass er damit alleine ist. Und er weiß, dass es in Deutschland ganz viele Menschen gibt, die an seiner Seite stehen."
09.08.2019, Berlin: Rabbiner Yehuda Teichtal, aufgenommen vor Beginn eines Solidaritätsgebets. Der Rabbiner war Ende Juli in Begleitung eines seiner Kinder von zwei Männern auf Arabisch beschimpft und bespuckt worden. 
Rabbiner Yehuda Teichtal vor Beginn eines Solidaritätsgebets. Der Rabbiner war Ende Juli in Begleitung eines seiner Kinder von zwei Männern auf Arabisch beschimpft und bespuckt worden.  (dpa / picture alliance / Jörg Carstensen)
Der Rabbiner reagiert auf die Attacke mit einer Predigt voller Hoffnung. Er reiche auch den muslimischen Verbänden im Lande die Hand, sagt er.
"Wir können sagen: Wir machen aus der Dunkelheit Licht und aus dem Hass Liebe. Wir können sagen, dass wir dieses negative Ereignis umwandeln werden auf einem positiven Weg."
Der Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Michael Szentei-Heise
Antisemitismus in Deutschland
"Verlorengegangen ist der Respekt vor dem anderen"

Michael Szentei-Heise von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf warnt vor einer neuen Qualität des Antisemitismus. Mitverantwortlich dafür sei die AfD, die als "geistiger Brandstifter" fungiere.
Vor und nach dem Gebet wird über anderes diskutiert: zum Beispiel über zwei Artikel im "Spiegel", die am 13. Juli und am 3. August erschienen. Darin geht es um die Lobbyarbeit des Nahost Friedensforums Naffo und der deutsch-jüdischen Werteinitiative beim Bundestag und bei der Bundesregierung. Die Autoren werfen den Vereinen "aggressive Lobbymethoden" vor. Sie spekulieren, der israelische Geheimdienst Mossad sei involviert – ohne Belege dafür zu liefern. Der "Verdacht" liege nahe, die beiden Organisationen gehörten zu den "Frontorganisationen" der israelischen Regierung in Berlin. Für den Antisemitismus-Beauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg, ist der Fall klar.
"Es rekurriert auf das Bild, dass Juden die Medien beherrschen, dass Juden das Geld beherrschen, das Juden die Regierung beherrschen. Es wird insinuiert: diese Verschwörungsmythen, die über Juden kursieren. Und das ist dann auch schon antisemitisch."
Engagement als Überlebensthema
Und was meint Elio Adler, Vorsitzender der Werteinitiative, in seiner Zahnarztpraxis in Berlin-Schmargendorf, wo sanfte Musik die Nerven beruhigt? Ihm wirft der "Spiegel" vor, er versuche, mit Spenden von Mitgliedern seiner Organisation die Entscheidungen von Bundestagsabgeordneten zu beeinflussen.
"Unser politisches Engagement ist nicht ein Luxus-Engagement. Es ist für uns ein Überlebensthema. Es fühlt sich für uns existenziell bedrohlich an, wie sich die Gesellschaft in Deutschland entwickelt. Und wenn wir uns engagieren, dann machen wir das aus dem egoistischen Interesse, eine jüdische Zukunft in Deutschland zu haben. Das sollte aber auch das Interesse der deutschen Mehrheitsgesellschaft sein."
Elio Adler sagt, bei den Spenden handle es sich um legale Wahlkampfspenden an Bundestagsabgeordnete, die die Werteinitiative unterstützen wolle. Sie seien steuerlich abzugsfähig.
"Wir waren natürlich vollkommen überrascht und aus allen Wolken gefallen, wie das Ganze dargestellt wird. Was wir tun, ist ein absolut normales zivilgesellschaftliches Engagement. Wir sind alle Bürger, die in unserer Freizeit etwas dafür tun wollen, dass eine freiheitliche Demokratie weiter funktioniert."
Beim "Spiegel" ist niemand zum Interview über die jüngsten Artikel bereit. Die Sprecherin des Verlags, Anja zum Hingst, verweist auf schriftliche Stellungnahmen.
Hat der "Spiegel" ein Problem mit Juden?
Nicht weit von Adlers Zahnarztpraxis klingeln wir bei Gabriela Hermer. Sie kocht gerade den Nachmittagskaffee.
Hermer ist Jüdin – und Redakteurin beim Rundfunk Berlin-Brandenburg. Auch sie hatte Anlass, sich über den "Spiegel" aufzuregen. Anfang August erschien das Sonderheft "Spiegel Geschichte" zum Thema "Jüdisches Leben in Deutschland – Die unbekannte Welt von nebenan". Unter dem Titel das Bild von zwei Juden mit Bärten und Hüten in orthodoxer Tracht – ein Foto von 1928.
Gabriela Hermer sieht hier zu viele Klischees versammelt. Sie veröffentlichte eine Reaktion auf Facebook – wo ihr Text fast 500 mal geteilt wurde und 800 Likes bekam.
"Liebe Spiegel-Redaktion, ich muss Euch enttäuschen. Ich habe keine krumme Nase und keine Glupschaugen. Weder mein Vater noch meine Großväter trugen Schläfenlocken. Ich esse für mein Leben gern Schweinefleisch. Meine Tochter ist blond. Gestatten: Die Unbekannte von nebenan: Jüdin."
Sie reicht ihren Kindern am Kaffeetisch den Kuchen – und fragt sich, warum der "Spiegel" ein "Problem mit den Juden" hat.
"Zu meinen Vorfahren zählen Patrioten und Zionisten, wohlhabende Großindustrielle und arme Kommunisten, Gläubige und Atheisten. So unterschiedlich ihre Biografien und Weltanschauungen auch waren – eines einte sie: Sie alle wurden in der Schoah ermordet, weil die Mehrheit sie als Unbekannte, als Fremde sah, die es auszulöschen galt.
Sehnsucht nach einer Gesellschaft von Toleranz und Miteinander
Die Diagnose des Antisemitismus-Beauftragten Sigmount Königsberg ist auch hier eindeutig. Er stimmt Hermer zu.
Sigmount Königsberg, Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde, aufgenommen am 13.10.2017 in Berlin. 
Sigmount Königsberg, Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde (dpa / picture alliance / Sophia Kembowski)
"Wenn man jemand als fremd, als unbekannt stigmatisiert, dann erklärt man ihn auch nicht als Teil dieser Gesellschaft, obwohl jüdische Menschen seit 1700 Jahren hier leben. Hier bedient der Spiegel‘ das Bild des Fremden, des ‚nicht Teil der deutschen Gesellschaft‘."
Rabbiner Teichtal formuliert seine Kritik zurückhaltender. "Ich habe auch dieses 'Spiegel'-Titelblatt gesehen, und sehr merkwürdig, sehr überrascht. Wir reden über eine Gesellschaft von Toleranz und Miteinander – und wenn man so was sieht, macht es natürlich ein sehr unbequemes Gefühl."