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ARD-"Millionenspiel" vor 50 Jahren
Erst kommt die Quote, dann die Moral?

Würde sich kommerzielles Fernsehen in seiner Quotengier eine moralische Grenze setzen? Eine Antwort lieferte die überspitzte TV-Satire "Das Millionenspiel". Am 18.Oktober 1970 wurde sie gesendet - und sorgte für einen lehrreichen TV-Skandal.

Von Hartmut Goege | 18.10.2020
    Briefmarke Deutsche Post: Deutsche Fernsehlegenden Briefmarke Deutsche Post *** Deutsche Post German stamp TV legends stamp Deutsche Post
    Jörg Pleva als Bernhard Lotz in "Das Millionenspiel". Der Sendung widmete die Deutsche Post eine Sonderbriefmarke (imago stock&people)
    "Trans-Europa-TV begrüßen Sie zum letzten Spieltag des ‚Millionenspiels‘ und weisen noch einmal auf das große öffentliche Finale am heutigen Abend mit dem Schlusseinlauf unseres Kandidaten hin."
    Es ist Sonntagabend, der 18. Oktober 1970 in der ARD zur besten Sendezeit kurz nach der Tagesschau. Es könnte ein normaler Fernsehabend werden.
    "Sollte der Kandidat jedoch vorzeitig den Tod finden, so erwartet Sie ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm mit vielen beliebten Künstlern."
    Dieter Thomas Heck beglaubigt die Fiktion
    Die folgenden 90 Minuten aber sollten als visionäre Mediensatire im Deutschen Fernsehen für Furore sorgen. Vor allem Showmaster Dieter Thomas Heck sorgte bei vielen Zuschauern von Beginn an für Irritation, weil er der Fiktion eine täuschend echte Fassade lieferte. Er präsentierte "Das Millionenspiel" wie seine damals populäre "ZDF-Hitparade": "Guten Abend, meine Damen und Herren, und herzlich willkommen zur 15. Folge des Millionenspiels!"
    Adaption einer Robert-Sheckley-Kurzgeschichte
    Genau auf diese Wirkung hatten Regisseur Tom Toelle und Autor Wolfgang Menge spekuliert. Im "Millionenspiel", nach einer Kurzgeschichte von Robert Sheckley, mimt Heck den Showmaster Thilo Uhlenhorst, der live im großen Sendesaal eine Menschenjagd moderiert. Der Leverkusener Bernhard Lotz, gespielt von Jörg Pleva, hat sich verpflichtet, sich als Kandidat eine Woche lang von drei Killern, der "Köhler-Bande", durchs Rheinland jagen zu lassen. "Oder", fragt Showmaster Thilo Uhlenhorst, "ist er vielleicht bereits längst von den Köhlers geschnappt worden? Ist es ihm so gegangen wie acht seiner Vorgänger? Das können wir Ihnen noch nicht sagen. Aber wie gesagt, wir hoffen, Ihnen im Laufe des Abends ein gutes Showdown zu servieren."
    "Was soll man machen? Das ist Fernsehen!"
    Begleitet wird Kandidat Lotz von zahlreichen Kamerateams, die ständig mit der Regie in Kontakt stehen. Erreicht er das Ziel im Live-Studio, bekommt er eine Million, wird er erschossen, erhält der Killer 120.000 Mark. Mit Blick auf Zuschauerquoten sollte das möglichst vor laufender Kamera geschehen:
    "Vielleicht komme ich doch noch hier weg." "Nicht durch den Keller, da sind keine Kameras. Wenn er schon draufgehen muss, dann locken Sie ihn wenigstens ans Fenster." "Denken Sie an den Vertrag, Lotz!" "Sie meinen, ich soll aus dem Fenster springen? Aus dieser Höhe?" "Wenn er sich am Fenster zeigt, ist es aus! Dann wird er sofort abgeknallt." "Dann ist er wenigstens im Bild!"
    Sintflut an Beschwerden
    Dieser Zynismus wurde von sensationslüsternen Fernsehzuschauern verfolgt, es hagelte aber auch tausende von wütenden Telefonanrufen und Beschwerdebriefen über die Macher, die offensichtlich "abartig" seien oder in die "Klapsmühle gehörten". Regisseur Toelle inszenierte die Show konsequent dokumentarisch, ließ Mitglieder der Killerbande von bekannten Sportjournalisten wie Heribert Faßbender interviewen:
    "Vorsicht, nicht gerade mir die Mündung ins Gesicht! Maschinenpistole, großes Magazin. Herr Hänsel, für wieviel Personen würde das notfalls ausreichen?" "Na, für 20 langt es dicke!"
    Oder er schaltete Passanten-Interviews mit sogenannten Außenreportern in die Live-Jagd ein, um so die Scheinrealität weiter zu unterstützen. "Wissen Sie, wer Bernhard Lotz ist?" "Ja sicher, aus dem Millionenspiel, der Gejagte!" "Was denken Sie von diesem Spiel, finden Sie das geschmacklos, finden Sie es menschlich?" "Ist ziemlich hart, aber was soll man machen, das ist Fernsehen!"
    Lehrstück über Manipulierbarkeit
    Tom Toelle erinnert sich: "Wir haben, glaube ich, drei Komparsen genommen und jeweils einen richtigen Reporter. Und mit diesen drei Komparsen haben wir das sozusagen angefüttert. Die wussten Bescheid. Denen habe ich gesagt, was sie reden sollen. Und dann blieben Leute stehen. Und die haben über dieses Produkt, das es nicht gibt, geredet. Und da ist mir klargeworden, wie manipulierfähig Menschen sind."
    Dass viele die Sendung für bare Münze nahmen und teilnehmen wollten, hatte nicht nur Regisseur Tom Toelle irritiert. Er habe, sagt Toelle, "stapelweise Bewerbungen bekommen von Leuten, die da mitmachen wollten bei der nächsten Folge."
    Magersucht und Suizid in Netflix-Formaten - Therapieeffekt für die Gesellschaft
    Der Streamingdienst Netflix will mit neuen Produktionen vor allem jungen Erwachsene erreichen. Eines der ersten Formate war die Serie "Tote Mädchen lügen nicht" über den Selbstmord einer Schülerin. Bisher erntet Netflix dafür vor allem Kritik.
    Auch der damals noch unbekannte Darsteller des Chefs der Köhler-Bande, Dieter Hallervorden, wunderte sich: "Volkes Stimme war im Allgemeinen: Mensch, wenn du schon mitmachst, warum hast du nicht getroffen? Und wieviel Geld gibt´s denn für sowas? Und kann man sich da auch bewerben? Und was hat der Mann denn wirklich bekommen. Also, die Leute haben es ernst genommen, und das war für mich eigentlich erstaunlich."
    Dschungelcamp - Versuchsstation für Menschlichkeit
    Eine Reality-Show inmitten von Buschbränden – ein Skandal? Macht euch locker, rät unser Kolumnist Orzessek. Für ihn ist die Sendung ein zähes Ringen um zivilisatorischen Fortschritt gegenüber den Anfängen solcher Shows.
    Nie zuvor hatte eine Sendung zu derart bizarren Reaktionen geführt. Immerhin, Bernhard Lotz überlebte das Spiel, stellte der fiktive Showmaster enttäuscht fest:
    "Und das scheint danebengegangen zu sein. Lotz ist angeschlagen, war es ein Streifschuss, war es ein echter Schuss? Nein. Er bewegt sich."
    Damals sollte die Sendung mit einem Seitenblick auf das privatwirtschaftliche US-Fernsehen eine überspitzte Form der Satire sein; verbunden mit der Frage, ob es moralische Grenzen für rein kommerzielles Fernsehen gibt, wenn nur noch Zuschauerquoten zählen. Als Reality-Show und konkrete Utopie hat "Das Millionenspiel" bis heute nichts an Aktualität verloren und 50 Jahre Fernsehgeschichte mit manch‘ zweifelhaften Trends vorweggenommen.