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Asyldebatte
"Wenn NRW mehr Flüchtlinge aufnimmt als Frankreich, stimmt was nicht"

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft fordert kürzere Bearbeitungszeiten für Asylanträge. In der zuständigen Behörde müssten mehr Stellen mit "Entscheidern" geschaffen werden, sagte sie im DLF. Kraft kritisierte die ungleiche Verteilung der Flüchtlinge in der EU. "Wenn Nordrhein-Westfalen mehr Flüchtlinge aufnimmt als Frankreich, dann stimmt da irgendwas nicht."

Hannelore Kraft im Gespräch mit Moritz Küpper | 23.08.2015
    Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) gibt eine Pressestatement am 30.06.2015 nach dem Besuch in der Kindertageseinrichtung Rechenacker 77 in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen). Kraft besuchte das Landesprojekt "Kein Kind zurücklassen".
    Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Moritz Küpper: Frau Ministerpräsidentin, angesichts Tausender von Flüchtlingen, die jeden Tag nach Deutschland kommen, die versorgt werden wollen, um die sich gekümmert werden soll, fühlen Sie sich als Politikerin da manchmal überfordert?
    Hannelore Kraft: Nein, ich fühle mich nicht überfordert. Das ist keine einfache Situation, aber was ich feststellen kann ist, dass es unglaublich viel Unterstützung gibt in den Kommunen, bei denen, die hauptamtlich mit dem Thema zu tun haben und beispielsweise auch in den Bezirksregierungen, an den Schulen, in den Kitas, aber auch bei den vielen, vielen ehrenamtlich Tätigen. Das ist fantastisch, was hier in Nordrhein-Westfalen da passiert.
    Küpper: Man hat in der Öffentlichkeit manchmal den Eindruck – medial, aber auch aufseiten der Politik –, dass schon eine gewisse – Überraschung ist vielleicht zu viel gesagt, aber schon eine Extremsituation herrscht.
    Kraft: Na ja, man muss ganz ehrlich sagen, es gab über Jahre sehr wenige Asylbewerber. Das heißt, die Städte, aber auch das Land, wir haben Einrichtungen zurückgebaut. Also alle haben nicht damit gerechnet, dass es noch mal eine so große Zuwanderungsbewegung geben wird. Und das ist jetzt der Fall, und die Zahlen steigen immer noch kontinuierlich. Im Moment haben wir mehr als 6.000, die jede Woche nach Nordrhein-Westfalen kommen, und die müssen wir versorgen und die wollen wir versorgen, die wollen wir Willkommen heißen. Und das bedeutet eben auch, dass wir zu allererst dafür sorgen müssen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben, und das ist organisatorisch nicht einfach zu bewältigen.
    Küpper: In den Kommunen herrscht mitunter Ausnahmezustand, mitunter sind Turnhallen belegt – das sind alle Interimslösungen natürlich, weil es schnell gehen muss. Ab wann haben Sie als Ministerpräsidentin gemerkt, dass das Ganze dann doch größer wird?
    Kraft: Wir sind mit dem Thema jetzt seit einigen Monaten sehr intensiv befasst. Wir haben ja auch schon selbst beim Haushalt reagiert, wir haben neue Lehrerstellen geschaffen, wir haben Kita-Plätze zusätzlich finanziert. Also, es war uns schon klar. Wir sehen ja mit Blick auf die Welt, was dort an Kriegen im Moment im Gange ist, welche großen Ströme sich bewegen. Es war uns schon klar, dass das jetzt auch etwas ist, was länger anhält. Aber dennoch, ich sage mal, eine neue Erstaufnahmeeinrichtung, mit vielleicht 1.000 Plätzen aus dem Boden zu stampfen, das geht nicht innerhalb weniger Tage oder Wochen. Sie müssen sich vorstellen: Dafür müssen Gebäude gesucht werden, da muss man sich vor Augen halten, dass 1.000 Leute auch entsprechende sanitäre Einrichtungen brauchen, dass es Kanäle und Zuwegungen geben muss. Die Auswahl und die Entwicklung solcher Standorte, das dauert ein bisschen deshalb. Die Zahl wurde immer größer und dann wird es natürlich auch immer schwieriger. Aber das eigentliche Nadelöhr ist die Dauer der Verfahren, weil theoretisch geplant ist – so ist es beabsichtigt auch zwischen Bund und Ländern –, dass wir innerhalb von drei Monaten mit den Verfahren jeweils durch sind. Und im Moment ist die Dauer bei weit über siebeneinhalb Monaten. Und das bedeutet, dass die Menschen lange hier sind, keine Sicherheit haben. Weder diejenigen, die aus Syrien kommen, von denen wir davon ausgehen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben werden, auch lange bleiben werden, vielleicht immer bleiben werden, noch diejenigen, von denen wir davon ausgehen können, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie bleiben können, dass einen wirklich triftigen Asylgrund haben, gering ist, selbst die haben keine Gewissheit. Und das erschwert uns und auch den Kommunen die Lage.
    "Müssen erkennen, dass Flüchtlingsfrage eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist"
    Küpper: Das klingt alles gerade sehr kontrolliert und es ist natürlich auch klar, dass jeder Teil der Gesellschaft sein Bestmögliches tut. Dennoch, man hat schon den Eindruck, dass momentan eher nur reagiert wird und nicht richtig agiert wird.
    Kraft: Ja, also ich sage mal, wir sind nicht in einem idealtypischen Zustand. Das betrifft aber nicht nur Nordrhein-Westfalen, das betrifft alle Länder und ja auch selbst alle Länder in Europa. Wir versuchen, uns diesem Zustand zu nähern, das heißt, mehr Personal, das heißt organisatorisch aufzubauen. Wir haben Pensionärinnen und Pensionäre angeschrieben – Gott sei Dank, haben sich weit über 300 schon gemeldet, die tatkräftig mithelfen wollen. Wir haben aus allen Ministerien Abordnung vorgenommen, auf freiwilliger Basis, für mehrere Monate. Da ist viel guter Wille auch unterwegs, und das macht mich eigentlich zuversichtlich, dass wir diese Herausforderung auch meistern können.
    Küpper: Das spricht auch für einen Ausnahmezustand. Wie lange wird dieser Ausnahmezustand Ihrer Meinung nach andauern?
    Kraft: Na ja, wenn ich so außenpolitisch auf die Welt schaue, dann sage ich mal, ich habe nicht die Hoffnung, dass es morgen vorbei sein wird – da müssen wir realistisch sein. Wenn ich auf den Westbalkan schaue – da kommt ja auch ein großer Teil der Asylsuchenden her –, dann glaube ich, müssen wir in Europa stärker darüber reden: Was müssen wir und können wir in diesen Ländern unterstützend tun, damit der Druck zurück geht, dass man das Land verlassen muss.
    Küpper: Sie sprechen die Ursachen an – da sind Sie als Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen natürlich jetzt nicht in erster Linie gefragt, Sie sind viel mehr da gefragt, wo die Menschen momentan ankommen. In dieser Woche gab es eine aktuelle, eine neue Prognose für Deutschland, da ist jetzt die Rede von 800.000 Flüchtlingen. Ist das eine realistische Zahl?
    Kraft: Ich bin mir nicht ganz sicher. Also ich glaube, die 800.000, die sind sehr wahrscheinlich, aber vielleicht werden es auch noch mehr. Auch da, glaube ich, dürfen wir den Menschen keinen Sand in die Augen streuen. Normalerweise haben wir immer noch mal einen Zuwachs in den letzten Jahren in den Monaten September/Oktober gehabt. Vor dem Winter gibt es noch mal eine Welle, die kommt, und dann könnte die Zahl auch noch darüber liegen.
    Küpper: Wurde in dieser Frage den Menschen bisher Sand in die Augen gestreut?
    Kraft: Nein, wir haben seit Monaten dem Bund immer wieder gesagt: Diese Zahlen, die da seit Anfang des Jahres auf dem Tisch lagen, die sind nicht mehr realistisch; wir haben gebeten, dass sie angepasst werden.
    Küpper: Warum hat das so lange gedauert, weil das ist ja subjektiv schon lange?
    Kraft: Das müssen Sie den Bundesinnenminister fragen. Die Debatten haben wir übrigens auch in der Runde der Ministerpräsidenten gemeinsam mit der Kanzlerin erörtert und haben auch dort darauf hingewiesen, dass wir andere Zahlen erwarten – aber es dauert immer etwas, bis solche Anpassungen dann geschehen. Und ich glaube, darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass wir erkennen müssen, dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und dass es nicht allein Aufgabe der Länder und der Kommunen ist, sondern dass der Bund hier mit ins Boot muss. Und das hat er zugesagt in den letzten Gesprächen – das war ja nicht immer so. Er hat erkannt, dass er hier strukturell und dauerhaft auch den Kommunen helfen muss. Und das muss jetzt dringend auf den Weg gebracht werden!
    Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat zu wenig Personal - "Wir brauchen dort Entscheider"
    Küpper: Sie haben schon mehr Geld gefordert – wenn wir jetzt mal die einzelnen Möglichkeiten durchgehen –, Sie haben auch gesagt, es könnten möglicherweise mehr als 800.000 Menschen sein, die kommen. Gibt es politisch gesehen Instrumente, wie man das vielleicht ein wenig eindämmen könnte? Es werden ja verschiedene Szenarien diskutiert: Von Taschengeldkürzungen, sprich, das nicht so attraktiv zu machen, bis hin zu getrennten ...
    Kraft: Ich habe ja versucht, die Lebensumstände zu beschreiben, aus denen Menschen zu uns kommen, und ich glaube, das hat mit Attraktivität nichts zu tun. Das sind alles so Rand- und Scheindebatten, die da gerade geführt werden. Die eigentliche Aufgabe ist, die Verfahren so schnell wie möglich abzuwickeln, und da ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefordert. Die haben schlicht und einfach zu wenig Leute – wir brauchen dort Entscheider. Und warum? Ich glaube, alle haben mehr davon – sowohl Land, als auch Kommunen, als auch der Bund, als auch die Betroffenen –, wenn sie schnell wissen: Was geschieht mit mir? Kann ich bleiben oder kann ich nicht bleiben? Das ist gut für diejenigen, die beispielsweise aus Syrien kommen, weil sie dann schneller in die Kommunen können und dort dann die eigentliche Integration direkt in Angriff genommen werden kann. Das heißt Sprachkurse, das heißt Integration in den Arbeitsmarkt, Anerkennung von Berufsabschlüssen und alles, was damit verbunden ist, Kita, Schule, damit man sie wirklich auch aufnehmen kann. Und bei denen, die mit hoher Wahrscheinlich nicht bleiben können, auch da ist es wichtig, dass es da schnell die richtige Entscheidung gibt. Denn wenn man dann nicht hierbleiben kann, dann muss man sich auch darauf einstellen. Und ich glaube, dass das das größte Manko ist, was wir beseitigen müssen. Alles andere sind Randdebatten, die zum Teil auch geführt werden mit so einem populistischen Einschlag – das gefällt mir nicht. Man darf die Augen nicht zumachen: Viele die kommen, wissen auch, dass sie nicht bleiben können, aber wenn das nach kurzer Zeit entschieden ist, dann sind sie auch wieder weg und dann ist es vielleicht auch nicht mehr ganz so interessant, sich überhaupt auf den Weg zu machen.
    Küpper: Diese beschleunigten Verfahren, beziehungsweise dass dies das Nadelöhr ist, das ist ja schon länger bekannt, das haben Sie auch schon seit längerer Zeit gesagt. Dennoch, diese Erkenntnis, warum ist sie im Grunde genommen immer noch nicht umgesetzt worden, wenn das, laut Ihrer Sicht, der entscheidende Punkt ist?
    Kraft: "Entscheider" heißt: Wir brauchen qualifiziertes Personal beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Das muss seinen Weg gehen, da müssen Stellen geschaffen werden. Das hat der Bund getan mit den letzten Haushaltsentscheidungen. Die müssen auch entsprechend besetzt werden. Ja, wir haben frühzeitig darauf hingewiesen – es wird wahrscheinlich auch nicht ausreichen, wenn jetzt die Zahlen nach oben korrigiert werden. Auch der Bund wird natürlich Pensionäre vielleicht anschreiben müssen, wird auch Abordnungen vornehmen müssen. Also alles das, was wir als Länder schon längst tun, muss auf der Bundesseite auch geschehen. Und ich glaube, dass es gehen kann, aber im Moment schaffen die 200.000 Anträge dieses Jahr – so ist es im Moment angekündigt. Und wenn sie sagen 800.000 ist jetzt die korrigierte Zahl, bei der es dann vielleicht bleibt – man weiß es nicht –, dann zeigt sich schon die neue Lücke – und das kann so nicht bleiben.
    Küpper: Das heißt, der Bund hat nicht früh genug auf die Länder gehört, die diese Probleme konkret vor Ort über ihre Kommunen ja dann auch gespürt haben?
    Kraft: Na ja, von "gehört" bis "das wird haushalterisch umgesetzt" und "alle sind im Boot", das dauert leider in der Politik manchmal zu lange. Aber der Innenminister, glaube ich, hat die Dimension erkannt, der Finanzminister wurde ins Boot geholt und die Gespräche mit der Kanzlerin waren von dieser Seite auch immer gut, aber manches dauert mir schlicht und einfach zu lange. Da ging es jetzt natürlich auch in den letzten Monaten mehr um Griechenland; ich glaube, jetzt müssen wir mal wieder auch innenpolitisch hier schauen, dass wir diese Situation miteinander gestemmt bekommen.
    Küpper: Das ist – Sie haben es eingangs ja auch gesagt – ein Problem Europas. Wenn man da jetzt die anderen Länder sieht, ist die EU, ist die Europäische Union in dieser Frage noch solidarisch?
    Kraft: Ich glaube, es gibt dort wirklich großen Gesprächsbedarf, nicht nur mit Blick auf Nordrhein-Westfalen, sondern wir alle schauen ja uns die Bilder von Kos an, wir sehen, was dort in Calais am Tunnel los ist. Also ich glaube, hier muss es dringend neue Vereinbarungen in Europa geben. Offensichtlich funktioniert das System nicht so, wie es geplant ist. Und ich finde, Europa ist eine große Solidargemeinschaft und muss auch weiter solidarisch sein. Wenn Nordrhein-Westfalen mehr Flüchtlinge aufnimmt als Frankreich, dann stimmt da irgendwas nicht.
    "Wir haben eine andere Ausgangssituation als andere Bundesländer"
    Küpper: Spüren Sie dieses Gegeneinander, diese fehlende Solidarität auf europäischer Ebene, spüren Sie die auch innerhalb Ihrer Kommunen in Ihrem eigenen Land?
    Kraft: Nein. Wir machen das ja geordnet. Nach einem Schlüssel werden die Flüchtlinge verteilt – das ist auch gut so –, übrigens auch zwischen den Ländern. Das funktioniert auch. Es ist natürlich immer so ein Ausgleichsmechanismus. Das heißt, wir nehmen erst mal mehr auf und geben dann wieder an andere Bundesländer ab, und wir verteilen dann innerhalb Nordrhein-Westfalens in die Kommunen hinein. Das ist für die Kommunen eine riesige Herausforderung. Und so viele – ich sage das noch mal –, so viele engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den Kommunen vor der Situation stehen: Sie kriegen einen Anruf: 'Ich muss für morgen irgendwie Platz schaffen für 50, 100 Flüchtlinge', was die dann da alles hinkriegen in kürzester Zeit: Hochachtung und Respekt und Dank! Mehr kann ich an dieser Stelle nicht sagen. Dass die natürlich auf uns schimpfen, als Land, und sagen: Die schicken uns plötzlich einfach Busse und die können gar nicht sagen, wer da drin sitzt und was das für Leute sind – ja, wir wissen das auch nicht. Die stehen auch plötzlich vor unseren Erstaufnahmeeinrichtungen; die werden durch Schleuser um die Ecke abgesetzt und dann stehen plötzlich 70, 80, 90 Leute vor der Tür, und wir müssen dafür sorgen, dass da keine Obdachlosigkeit entsteht und dass die Menschen gut versorgt sind. Und wir sind ein starkes Land und das können wir auch, wenn alle zusammenstehen. Und im Moment habe ich den Eindruck, dass das in Nordrhein-Westfalen vorbildlich geschieht.
    Küpper: Sie sprechen es an: Integration ist das große Thema oder ein großes Thema, wenn man das vor allem perspektivisch sieht, perspektivisch denkt. Wie kann das gelingen? Weil es wurde viel darüber diskutiert, dass das, wenn wir die erste Gastarbeitergeneration nehmen zum Beispiel, nicht so gut gelungen ist. Und auch Nordrhein-Westfalen, als das bevölkerungsreichste Bundesland, ist dort ja eines der Bundesländer, was von dieser Integration, von diesen Wellen einzeln lebt.
    Kraft: Na ja, erstmal muss man sagen: Wir haben eine andere Ausgangssituation, als andere Bundesländer – Gott sei Dank. Wir sind ein Land, was immer Zuwanderung gehabt hat. Ich komme aus dem Ruhrgebiet – allein schon wegen Kohle und Stahl hatten wir Zuwanderungswellen aus Polen, aus Spanien, aus Italien. Am Anfang wurden Sie "Gastarbeiter" genannt, bis irgendwann klar wurde: Sie bleiben. Und jetzt wissen wir mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen, die aus den Kriegsgebieten zu uns kommen, deren Asylwunsch auch anerkannt wird, dass die lange bleiben werden, wahrscheinlich für immer bleiben werden. Wir haben auch dazu gelernt. Wir wissen heute um die Bedeutung von Sprachförderung; wir beginnen früher; wir beschleunigen gemeinsam – Bund und Länder – mit den Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern die Anerkennung von Berufsabschlüssen; wir versuchen Direktmaßnahmen auf den Weg zu bringen, damit das alles diesmal besser gelingt; wir schaffen sofort Kita-Plätze – jedes Flüchtlingskind hat dann auch einen Anspruch auf einen Kita-Platz, genauso wie ein anderes nordrhein-westfälisches Kind am Ende. Am Ende sind es alle Nordrhein-Westfalen. Und wir haben, gerade auch bei unseren beiden Flüchtlingsgipfeln, ich persönlich auch, eine Menge dazu gelernt. Und ich glaube, wir müssen einfach deutlich dazu stehen, dass das gut investiertes Geld ist.
    "Innenpolitisch ist bei Merkel das noch eine Menge Luft nach oben"
    Küpper: Aber sind die politischen Rahmenbedingungen schon geschaffen für eben diese Perspektive, für diese Integration? Da sind wir dann wieder bei den Asylverfahren.
    Kraft: Die Verfahren – gehen wir mal davon aus, wir schaffen es, die schon schnell ablaufen zu lassen, dass das in drei Monaten in jedem Fall entscheiden ist, dann geht das alles schon. Das müssen wir erreichen, das muss unser Ziel sein, und zwar schnellstmöglich.
    Küpper: Sie hören das Interview der Woche. Zu Gast ist Hannelore Kraft, die Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen und stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD. Frau Kraft, wir haben ausführlich über das Thema „Flüchtlinge" gesprochen. Ein weiteres politisches Thema, was diese Woche hoch auf der Agenda stand, war die Situation in Griechenland, die Hilfen für Griechenland. Wie haben Sie diese Debatte verfolgt?
    Kraft: Na ja, das ist keine einfache Debatte. Ich glaube, wer sich ein bisschen intensiver damit beschäftigt hat, da gibt es auch da keine schwarz-weiß-Diskussionen. Und ich warne auch davor, so verkürzte Debatten zu führen, sondern man muss da sehr in die Details blicken. Klar ist, wer Hilfen braucht, muss dafür auch bestimmte Gegenleistungen bringen, Maßnahmen auf den Weg bringen. Wir dürfen kein Interesse daran haben, dass ein Land sich nicht fortentwickeln kann. Ziel ist, dass Griechenland wieder aus eigener Kraft sich auch wirtschaftlich nach vorne bringen kann. Und das alles übereinander zu bringen in solchen Verhandlungen, ist nicht einfach. Und auch da ist kein Raum für populistische Verkürzungen.
    Küpper: Ihre Partei, die SPD, hat mehr oder weniger geschlossen für dieses dritte Paket gestimmt. Bei der CDU in der Union sieht das ein wenig anders aus. Es gibt schon Stimmen, die von der "Götterdämmerung der Kanzlerin" sprechen.
    Kraft: Was erwarten Sie, was ich dazu jetzt kommentiere? Ich meine, ich bin etwas überrascht ...
    Küpper: Sie selbst haben gesagt über Angela Merkel: "Niemand ist unschlagbar!".
    Kraft: Ja, dabei bleibe ich auch. Aber ich habe das eigentlich mehr – offen gesagt – stärker noch gesagt, mit dem Blick auf die Innenpolitik. Weil der Fokus in der öffentlichen Debatte in den letzten Jahren, nach meiner Wahrnehmung, immer eher auf die Außenpolitik gerichtet war, und ich finde, innenpolitisch ist da noch eine Menge Luft nach oben.
    Küpper: Dennoch ist das Ihr Koalitionspartner in Berlin, und es kann Sie ja auch nicht kalt lassen, wenn da irgendwie die Union dann bald mit zwei Zungen spricht.
    Kraft: Ja, ich glaube, dass da noch eine Menge Arbeit zu leisten ist, auch Überzeugungsarbeit zu leisten ist. Die Debatten in der SPD sind deshalb nicht einfacher – das sage ich auch mal. Auch da gibt es immer wieder viele Fragen: Können wir ein solches Paket machen? Wenn ja, im welchem Umfang? Welche Maßnahmen sind richtig, welche sind nicht richtig? Die Frage auch immer: Wer geht mit ins Boot? Was ist mit dem Internationalen Währungsfonds? Das, beispielsweise, sind auch Debatten, die wir in der SPD geführt haben. Nur für uns war immer eines klar: Wir sind in Europa, wir profitieren von Europa und Europa ist auch ein Raum der Solidarität.
    "In der medialen Berichterstattung wird jeder Diskussionsprozess bei der SPD hochgejazzt"
    Küpper: Dann ist es nicht gerade solidarisch von der Union, an der Stelle mit so einer großen Masse dagegen zu stimmen?
    Kraft: Mich überrascht das, weil ja die CDU und CSU – und die CDU eigentlich noch mehr – sich immer als Europa-Partei dargestellt haben und da, finde ich, dieses Image leidet im Moment. Und ich möchte gerne ein starkes Europa. Ich finde manches in Europa durchaus überarbeitungswürdig. Ich glaube, dass wir auch viele wichtige Debatten dringend führen müssen in Europa. Wir haben gerade über das Thema "Flüchtlinge und Solidarität" gesprochen, das gilt auch in anderen Themenfeldern. Demokratisierung von Europa haben wir immer wieder zum Thema gemacht, auch bei der letzten Europawahl. Aber Europa ist wichtig. Ich meine, ich möchte gerne meinem Sohn und der Generation und auch den nachkommenden Generationen auch so viele Jahre Frieden hinterlassen. Und da darf man immer wieder daran erinnern, dass Europa es geschafft hat, über den europäischen Integrationsprozess, eine sehr lange Friedensdauer sicherzustellen, das war ja über Jahrhunderte nicht so.
    Küpper: Wenn so viele Abgeordnete der Kanzlerin nicht folgen, ist das für Sie ein Problem aus Ihrer Sicht oder ist Angela Merkel so unumstritten, dass das im Grunde genommen auch egal ist?
    Kraft: Ich glaube, das ist eher ein Problem der Kanzlerin und des Fraktionsvorsitzenden. Das ist ja auch in den letzten Tagen und Wochen diskutiert worden. Ich spreche keinem Abgeordneten ab, dass er das Recht hat, abweichend abzustimmen, das nehmen ja auch bei uns Abgeordnete in Anspruch. Aber ich glaube, die inhaltlichen Debatten, die muss man dann vielleicht noch intensiver führen. Bei uns sind die inhaltlichen Debatten ja gerne auch Gegenstand von Berichterstattung. Da heißt es: "Die SPD streitet gerne". Ja, das ist so. Wir haben eine harte Debatte zur Vorratsdatenspeicherung geführt; wir diskutieren hart zum Thema TTIP, aber am Ende finden wir eine gemeinsame Position. Und ich glaube, das muss das Ziel sein.
    Küpper: Sie haben die SPD angesprochen. Sigmar Gabriel, der Vorsitzende, ist – so scheint es mir zumindest – unumstritten, und zwar aus der einfachen Begründung, weil es keine Alternativen gibt.
    Kraft: Ja, ist er unumstritten, weil er auch eine gute Arbeit leistet. Also ich möchte das mal auch in aller Deutlichkeit sagen.
    Küpper: Sie sind restlos zufrieden?
    Kraft: Wir arbeiten in der Spitze der SPD sehr intensiv zusammen. In der medialen Berichterstattung wird jeder Diskussionsprozess bei uns, ich nenne das immer "hochgejazzt", während die Diskussionen in der CDU ja offensichtlich in der Intensität gar nicht stattfinden. Ich frage mich: Was ist dann besser? Streit, Auseinandersetzung gehört zur Demokratie.
    Küpper: Aber die SPD fällt ja durchaus auch mit unkonventionellen Vorschlägen auf. Schleswig-Hosteins Ministerpräsident, Herr Albig, hat davon geredet, dass man gar keinen Kanzlerkandidaten stellen sollte. Dazu haben Sie sich klar positioniert, haben gesagt: "Das ist gar kein Thema", dennoch äußern Sie sich wenig zu überregionalen Themen als stellvertretende Bundesvorsitzende.
    Kraft: Na ja, jetzt muss man mal sehen, der Vorwurf kommt in den letzten Wochen häufiger. Ich meine, worüber haben wir auf der bundespolitischen Ebene in den letzten Monaten geredet? Da ging es um Griechenland, um Griechenland und noch mal um Griechenland.
    Küpper: Vielleicht haben wir zu wenig über die Flüchtlingsfrage gesprochen.
    "Kämpfe um neue Länderfinanzausgleich-Regelung, die zeigt, dass NRW ein großes Zahlerland ist"
    Kraft: Über Flüchtlingsfragen haben wir gesprochen; wir haben dazu auch mehrere Runden in Berlin gehabt. Da gab es auch Berichterstattung, da habe ich mich auch deutlich zu geäußert an verschiedenen Stellen. Meine Aufgabe ist es als Ministerpräsidentin, die Interessen Nordrhein-Westfalens zu vertreten. Und da gibt es im Moment eine Menge Entscheidungen, die so in der letzten Phase sind. Eine haben wir schon gut für uns entschieden – ich will es mal so bezeichnen.
    Küpper: Sie sprechen die Energiefrage an, die Braunkohle.
    Kraft: Energiefrage, sicherlich, ja, der Industriestandort, das ist für uns ganz wichtig gewesen. Da ist Sigmar Gabriel, da bin ich froh, dass er Wirtschaftsminister ist und dieses Chaos der Energiewende, was die Vorgängerregierung hinterlassen hat, endlich mal geordnet voran bringt.
    Küpper: ... Und Sie ihm sagen konnten, dass er seine Pläne wieder einkassieren kann.
    Kraft: Na ja, ich meine, das wäre jetzt ein längerer Punkt. Da ging es nicht darum, dass er was wieder einkassiert, sondern es musste ein Vorschlag auf den Tisch gelegt werden und anhand dieses Vorschlages kann man dann auch diskutieren. Es geht aber auch darum, dass wir beispielsweise die Interessen unserer Kommunen vehement nach Berlin getragen haben. Und der Erfolg ist ein kommunales Investitionspaket, was zu einem überproportionalen Teil nach Nordrhein-Westfalen fließt und ganz konkret bei uns in den Kommunen auch hilft, den Investitionsstau ein Stückchen weit zu beseitigen. Und die nächste große Entscheidung ist der Länderfinanzausgleich. Und auch da, sage ich jetzt mal, kämpfe ich wie eine Löwin darum, dass wir hier eine bessere Regelung bekommen, die Klarheit schafft, nämlich das Nordrhein-Westfalen ein großes Zahlerland ist. Das wird im Moment durch diese verschiedenen Stufen des Länderfinanzausgleichs verschleiert – hier brauchen wir Transparenz. Und wir wollen auch mehr von dem behalten, was hier von den Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet wird.
    Küpper: Sie sprechen den Länderfinanzausgleich an, da soll es Anfang September ja ein Treffen der Ministerpräsidenten geben, um das Thema dann vielleicht final zu regeln. Sind Sie da bereit – salopp formuliert –, "den Seehofer zum machen", sich einfach quer zu stellen, bis es dann in Ihrem Sinne entschieden ist?
    Kraft: Also, ich möchte nicht "den Seehofer machen", weil ich finde, da sind doch verschiedenste Vorschläge in der Vergangenheit in die Welt gesetzt worden, die ich so nicht akzeptabel fand. Aber ich glaube, unser Anliegen ist verstanden worden. Der Vorschlag, der im Moment diskutiert wird, hinter den hat sich ja auch der Bundesfinanzminister gestellt hat, damit könnten wir gut leben. Es gibt jetzt noch Diskussionen – man wird sehen, was am Ende rauskommt. Ich kann "das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er nicht erlegt ist", aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir unsere Position haben deutlich machen können. Und ich sage jetzt auch mal bewusst: Wir haben hart daran gearbeitet, auch über Argumentationslinien, die wir aufgebaut habe, wo ich meinem und unserem Finanzminister sehr dankbar bin, dass wir mit vielen konkreten Beispielen unsere Position untermauern konnten.
    Küpper: Frau Kraft, zum Abschluss des Gesprächs – 2017 stehen zwei Wahlen an: Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, aber dann im Herbst die Bundestagswahl. Es gibt ein Papier Ihres hochgelobten Parteivorsitzenden: "Starke Ideen für Deutschland 2015" heißt es, und was so, wenn man es mal zusammenfasst, ein bisschen auffällt ist, dass es doch sehr stark in die Mitte, sehr stark auf die arbeitende Bevölkerung zielt. Ist das der richtige Kurs? Weil letztendlich müssen Sie ihn ja auch in Nordrhein-Westfalen ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl in Ihrem Wahlkampf vorleben.
    "Wir haben viele wichtige Punkte in der Koalition umsetzen können"
    Kraft: Also das ist ein Diskussionspapier und wir diskutieren das sehr intensiv – am Ende werden wir ja ein Wahlprogramm auflegen müssen. Wir können jetzt feststellen, ich glaube, die Wählerinnen und Wähler, die uns gewählt haben, sehen auch mit Vergnügen: Wir halten das, was wir versprochen haben. Wir haben viele wichtige Punkte in der Koalition umsetzen können. Es war nicht einfach für uns, in die Große Koalition als kleiner Partner zu gehen – ich glaube, das hat auch jeder gemerkt. Aber wir haben es getan, weil wir konkret Verbesserung für die Menschen realisieren konnten. Der Mindestlohn, das Thema Mietpreisbremse, die Regelung zur Rente, alles das ist richtig.
    Küpper: Da geht es um Bevölkerungsgruppen, die bedürftiger sind als andere. Jetzt das Papier, scheint ein wenig in eine andere Richtung zu zielen.
    Kraft: Na ja, hier geht es nicht nur um Bedürftigkeit. Also wenn Sie mal die kommunalen Hilfen sehen oder wenn Sie die Bildungsmittel nehmen, ich glaube, da ist die Breite der Gesellschaft drin. Insofern, solche Vorwürfe, wir denken nur an diejenigen, denen es nicht so gut geht: Ja, das tun wir, das ist sozialdemokratisch, alle in einer Gesellschaft mitzunehmen, und das wollen wir auch in Zukunft. Aber jetzt müssen wir darüber reden: Was kommt in das nächste Wahlprogramm? Was gibt es noch zu tun? Und da sind für mich ein paar sehr konkrete Themen, über die wir reden müssen. Ich begegne zum Beispiel, wenn ich durchs Land fahre, immer ganz vielen, die in befristeten Projekten tätig sind, diese "Projekteritis", nenne ich das immer. Die Frage ist, wird die SPD es schaffen, hier mal eine klare Position vorzulegen und auch deutlich zu sagen: Wir wollen das nicht! Wir wissen, dass viele, gerade in den sozialen Projekten auch unterwegs sind, die eine gute Arbeit leisten, aber die immer wieder nach zwei Jahren sich ein neues Projekt überlegen müssen und einen neuen Titel drauf setzen müssen, um dann ihre Stelle sozusagen auf Dauer wieder bewilligt oder für die nächsten Jahre wieder bewilligt zu bekommen. Wir werden hart diskutieren, und das kommt ins nächste Programm.
    Küpper: Glauben Sie, dass Sie durch diese halbes Jahr vor der Wahl, mit Ihrer Wahl hier in Nordrhein-Westfalen, dass Sie dadurch das Wahlprogramm der Bundes-SPD entscheidend mitprägen können oder liegt es allein auch an der Größe, die Nordrhein-Westfalen ohnehin einnimmt?
    Kraft: Na ja, das hoffen wir mal doch. Wir wollen gut vorlegen. Ich glaube, wir zeigen auch hier in Nordrhein-Westfalen, auch mit der rot-grünen Regierung, die arbeitet gut zusammen, und wir zeigen auch, dass wir das halten, was wir versprechen. Wir versprechen nicht viel, aber das, was wir versprechen, das halten wir auch. Und wenn wir hier gut vorlegen können, ist das sicherlich auch ein guter Hinweis für die Bundestagswahl.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.