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Aufstand der Abgehängten?
"Es ist halt nicht schick, mit den Leuten zu reden"

Der Soziologe Rolf Heinze, Professor an der Ruhr-Universität Bochum, hat an Politik und Wissenschaft appelliert, genauer hinzuschauen, wo in Deutschland sich die Menschen frustriert und abgehängt fühlten. Es sei eine "gewisse Art der Elitenbildung, dass man sich da nicht drum kümmert", sagte Heinze im DLF. Wie Donald Trump in den USA bekämen deshalb auch in Europa die Rechtspopulisten Zulauf.

Rolf Heinze im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 12.11.2016
    Demonstration von Rechtspopulisten und rechten Gruppierungen unter dem Motto "Merkel muss weg" in Berlin
    Demonstration von Rechtspopulisten und rechten Gruppierungen unter dem Motto "Merkel mus weg" in Berlin (Imago/ Seeliger)
    Rolf Heinze: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Heinze, mal Erstes so die provozierende Frage: Droht uns auch ein Aufstand der Abgehängten – das ist ja eine Überschrift, die wir in diesen Tagen häufiger lesen für die Vereinigten Staaten?
    Heinze: Zunächst glaube ich nicht daran, dass wir das in dem gleichen Ausmaß erleben werden. Denn wir haben in Westeuropa, speziell in Deutschland, ein ausgebautes soziales Sicherungssystem, das natürlich weitaus besser auch Krisen abpuffern kann. Dennoch gibt es auch in Deutschland Regionen, Stadtteile, in denen eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht und in denen in den letzten Jahren auch zunehmend Menschen in Resignation geraten sind. Also von daher würde ich sagen, wir müssen in Westeuropa sehr genau hinschauen, wo liegen diese Quartiere, wo liegen diese Regionen, die sich auch potenziell in eine ähnliche Richtung entwickeln können, obwohl der Unterschied des Sozialstaates schon, glaube ich, etwas ausmacht.
    "Plötzlich artikulieren sich diese Leute"
    Zurheide: Wie hat sich denn bei uns Gesellschaft verändert? Ich glaube, Sie als Soziologen beobachten da ja auch neue Phänomene – welche beobachten Sie?
    Heinze: Zunächst muss man sagen, dass wir in den letzten Jahren einen sehr rapiden sozialen Wandel erlebt haben. Ich glaube, die Geschwindigkeit des Wandels ist sehr viel größer geworden als früher, und ich glaube auch, dass manche Verunsicherung daher kommt, dass dieser Wandel so rasch geschehen ist. Man kann das sehr schön diskutieren am Beispiel der Digitalisierung. Man kann es aber auch anhand der Globalisierung diskutieren. Das sind Schübe, die früher sich über mehrere Jahrzehnte hingezogen haben, und jetzt kommen die mit einer Wucht auf sehr viele Menschen zu, und sie führen zu Verunsicherung. Ich glaube, es ist ganz wichtig zu sehen – das zeigt sich auch in den USA: Dort, wo die Menschen keine ökonomischen Chancen für sich sehen, geraten sie in Verbitterung, und – und das ist schon überraschend – es kommt dann wieder so etwas zurück, was ja auch im Zusammenhang mit den Trump-Wählern diskutiert wird: Man ist stolz darauf, Weißer zu sein. Man fühlt sich irgendwie überrollt von der Diversifizierung, man versteht manchmal schon gar nicht mehr, was alles an neuen Begriffen da auf die Leute zukommt. Und all diese Phänomene, vor allen Dingen die Geschwindigkeit des Wandels, haben, glaube ich, auch eine tiefe Verunsicherung hinterlassen. Jetzt kommt sozusagen die Luft raus, wenn man so will. Früher sind diese Leute nicht wählen gegangen. Viele, auch wir in den Wissenschaften, sind davon ausgegangen – übrigens auch die Wahlforscher –, dass diese Leute sich zurückhalten. Jetzt erleben wir: Diese Leute fühlen sich von Leuten wie Trump –, aber auch in Westeuropa gibt es ja ähnliche rechtspopulistische Proteste und einzelne Personen, die diese Proteste schüren, siehe Brexit in Großbritannien. Plötzlich artikulieren sich diese Leute. Sie fühlen sich plötzlich stark, indem sie aufzeigen können, wir haben doch auch noch so etwas wie Macht. Gerade weil sie ökonomisch keine Macht haben sozusagen, kommt es zu einem Drift in diese Richtung.
    "Da kommen sehr viele Emotionen rein"
    Zurheide: Sind es übrigens nur die ökonomisch Abgehängten, oder sind es nicht vielmehr auch solche, die fürchten, abgehängt zu werden, weil die Geschwindigkeit, wie von Ihnen beschrieben, so hoch ist, dass sie sagen, ich bin zwar jetzt noch nicht der Verlierer, aber ich könnte es morgen, übermorgen sein?
    Heinze: Das ist absolut richtig. Vor allen Dingen kommt jetzt noch eins hinzu, was man ja auch diskutiert eher in intellektuellen Kreisen als das postfaktische Zeitalter. Was heißt das? Ich halte diesen Begriff auch für überdehnt. Aber wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass zum Beispiel eine statistische Veränderung: Nehmen wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland, die war noch nie so niedrig in den letzten 20 Jahren, nur viele Leute, die dauerarbeitslos sind, nehmen das nicht wahr. Es ist denen egal, ob die Arbeitslosigkeit von acht auf sechs Prozent statistisch im Durchschnitt zurückgegangen ist, sie fühlen sich abgehängt, sie sehen sozusagen den Wohlstand auf der anderen Seite. Deshalb kommen sehr viele Emotionen rein. Ich finde es interessant, auch wenn ich mit meinen Studenten spreche – oft erzählen die mir, wenn sie mit ihren Großeltern sprechen, viele von denen sind ja sozial abgesichert, wir hatten noch nie eine solch gut abgesicherte ältere Generation, aber viele von denen haben jetzt plötzlich Angst, wie es weitergeht, obwohl sie eigentlich abgesichert sind. Daran erkennt man, da kommen sehr viele Emotionen rein, Verunsicherung rein. Und erlauben Sie mir noch einen Punkt auch zu erwähnen: Das ist die Digitalisierung und die neue Mediennutzung. Man hat ja das Gefühl, gerade junge Leute wiederum hören ja auch Nachrichten eher in eigenen Blogs. Sie gehen sozusagen in die Kanäle rein, in denen sozusagen ihre Meinung gesagt wird. Das heißt, ich setze mich ja gar nicht mehr intensiv mit anderen Meinungen auseinander. Und das trifft auch übrigens für die Trump-Wähler zu, auch wenn die nicht technologisch immer sozusagen auf dem neuesten Stand sind, aber sie verkehren sozusagen nur noch in ihren eigenen Gruppen. Und das ist natürlich schwierig für eine Gesellschaft, wenn im Grunde genommen nur noch die eigene Meinung bestätigt werden soll. Man fühlt sich einfach beleidigt, man fühlt sich irgendwie von den anderen Menschen, die vielleicht Aufstieg erleben können, gerade auch, wenn die aus anderen Nationen kommen – siehe USA. Wenn Sie sehen, an der Ostküste oder Westküste, ins Silicon Valley kommen sehr viele Asiaten, die sind erfolgreich. Und sie hängen in den runtergekommenen Städten, weil dort keine Industrie mehr ist. Und das in Kopplung mit der Digitalisierung kann auch solchen Frust sozusagen steigern.
    "Wir haben in diese Gebiete nicht reingeschaut"
    Zurheide: Haben auch Sie als Wissenschaftler vielleicht viel zu wenig hingeschaut in diese Bereiche, dass wir noch mal anfangen müssen, uns ernsthaft damit auseinanderzusetzen, denn die Probleme, die Sie artikulieren, durch diese Wahl sind ja erst mal real. Man kann dann sagen, ist vielleicht nicht die kluge Antwort, die Sie geben, aber die Etablierten haben bisher keine Antwort gefunden. Ist die Beobachtung richtig?
    Heinze: Absolut. Ich habe gestern noch auf einer Tagung in Berlin mit Wahlforschern gesprochen und genau über dieses Phänomen. Man muss ja sagen, es ist eine Blamage für die Wahlforschung. Es gab nur ganz wenige Kollegen in den USA, die das prognostiziert haben. Warum? Weil wir, glaube ich, auch zu sehr darauf vertrauen, wir rufen Leute an, fragen, wen sie wählen. Wir haben ganz vergessen, dass viele Leute auch einfach sagen, weil es nicht schick war zu sagen, ich wähle Trump, haben sie gesagt, ich wähle gar nicht oder ich wähle Clinton. Das Gleiche gilt für Deutschland. Gucken Sie sich den Brexit an in Großbritannien, aber es gilt auch in den Niederlanden, auch in Dänemark, wir haben ja überall die starken rechtspopulistischen Parteien, und die sind oft von der Wahlforschung auch nicht adäquat erkannt worden. Und ich muss auch sagen, es ist natürlich auch eine Kritik an nicht nur uns Wissenschaftlern, sondern generell auch an anderen Intellektuellen: Wir haben in diese Gebiete nicht reingeschaut.
    "Und dann kommen die Ängste hoch"
    Zurheide: Es heißt dann schlicht, die sind dumm, und damit abgehakt – das geht nicht, ne?
    Heinze: Exakt, das ist sogar gefährlich. Wir sehen es jetzt sozusagen, jetzt kommt plötzlich ein Protest wieder hoch, den wir eigentlich gar nicht mehr einkalkuliert hatten, dass plötzlich auch Rassenkonflikte wieder hochkommen in dem Sinn, dass die Weißen sagen, wir fühlen uns nicht mehr zu Hause in unserem eigenen Land. Wir haben nicht hingeschaut, und gerade in den USA hat man nicht hingeschaut. Es ist ja nicht ein neues Phänomen. Wenn man schon vor 20 Jahren durch die USA fuhr, sah man ja auch sehr genau die sozialen Disparitäten in den einzelnen Regionen, einzelne Dörfer verschwanden. Meine Sorge ist, dass wir auch in Deutschland zunehmend solche Kleinregionen bekommen. Das wird allerdings sehr heterogen werden, und das macht die Sache auch so schwierig. Ich habe nicht mehr einen Ost-West-Gegensatz, ich habe nicht mehr einen Stadt-Land-Gegensatz. Es gibt Städte, denen geht es sehr gut – in manchen Städten ist es sogar so, ich hab eine Spaltung in der Stadt. Deshalb muss ich sehr genau in die Quartiere schauen, ich muss sehr genau in die Dörfer schauen. Es gibt Dörfer, auch in Nordrhein-Westfalen, schauen Sie sich Dörfer an um Münster herum, in Ostwestfalen, im Rheinland, denen geht es wunderbar. Anderen Dörfern droht die Gefahr, dass Industriearbeitsplätze verschwinden, Firmen eventuell verkauft werden, und dann kommen die Ängste hoch. Also von daher müssen wir viel genauer reinschauen, viel genauer auch mit den Menschen reden. Es ist auch eine gewisse Art der Elitenbildung, dass man sich da nicht drum kümmert. Es ist halt nicht schick, mit den Leuten zu reden.
    Zurheide: Geben Sie uns kurz einen Hinweis – was heißt hingucken, wer muss was besser machen?
    Heinze: Eindeutig alle politischen Eliten, das trifft alle politischen Parteien, es trifft auch die großen Verbände, auch die Kirchen, auch die Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften. Sie alle müssen stärker sozusagen in den sozialen Nahraum schauen und sich dort dem Nahraum stellen und den Problemen vor Ort. Von daher trifft es uns als Wissenschaftler, wir müssen genauer dort reingehen, aber alle politischen Institutionen müssen das ebenfalls tun.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.