Am 5. Oktober 2000 ziehen in Belgrad Zehntausende Demonstranten zum Parlamentsgebäude. Sie protestieren friedlich gegen Slobodan Milošević, den Präsidenten Jugoslawiens. Sie machen seine sozialistische Regierung verantwortlich für die sogenannten Bruderkriege gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina und für die Bombardements ihres Landes durch Nato-Flugzeuge wegen des Kosovo-Krieges, sie wehren sich gegen Wahlfälschungen und beklagen ihre desolate soziale Lage.
Die Übersetzerin Drinka Gojkovic ist unter den Demonstranten: "Ich spürte diese Spannung in der Bevölkerung seit einem Jahr. Schon nach der Beendigung von Bombardierung war klar, dass eine neue Stimmung in der Bevölkerung entstanden ist, nämlich, dass man eingesehen hat, was für Übel Milošević in dieses Land reingebracht hat."
Die Provinz setzt das Fanal
Es ist vor allem ein Volksaufstand der Provinz. Am Morgen des 5. Oktober machen sich Zehntausende in den Dörfern und Kleinstädten mit Pkw- und Lkw-Konvois auf den Weg, auf den Lastwagen Steine und Gewehre; mit Bulldozern und Baggern, um Straßensperren der Polizei zu durchbrechen, erinnert sich Drinka Gojkovic: "Man konnte nicht im Voraus wissen, dass alle diese Leute aus der serbischen Provinz nach Belgrad kamen, fest entschlossen, nicht in ihre Städte zurückzugehen. Die wollten Milošević weg von der Szene."
Die Demonstration, es sind am Ende wohl Hunderttausende auf der Straße, beginnt in gelöster Stimmung, angeführt von Menschen mit Trommeln, dahinter ein Meer von bunten Fahnen und den Flaggen Serbiens und Jugoslawiens, aber auch Transparente mit der Losung "Tod oder Freiheit". Steine fliegen, Polizisten in Kampfmontur verschießen Tränengas- und Blendgranaten. Im Parlamentsgebäude gehen Fensterscheiben zu Bruch, Vorhänge brennen.
Erinnerungen an die Nacht, als die Mauer fiel
Der Bauunternehmer Ljubisav Djokic fährt mit einem Bagger vor das Parlament und erinnert sich: "Ich sagte, Leute, steigt in die Baggerschaufel. Ich hob sie hoch bis zum ersten Stock. Dann haben sie auch dort Feuer gelegt. Dann fuhr ich zurück und sah, wie sich die Polizei zurückzog." Soldaten einer gefürchteten Anti-Terror-Einheit werfen Waffen und Schlagstöcke weg, es kommt zu Verbrüderungsszenen, die Polizei zieht sich aus dem Stadtzentrum zurück.
"Dies ist ein großer Moment in der Geschichte, guten Abend, befreites Serbien", ruft der Oppositionsführer Vojislav Koštunica den jubelnden Massen vor dem Belgrader Rathaus zu. Er ist aus der Präsidentenwahl vom 24. September als Sieger hervorgegangen, doch das Milošević-Regime hat das Ergebnis nicht akzeptiert. Das Geschehen in Belgrad erinnert an Bilder, wie man sie ein Jahrzehnt zuvor in Prag, Bukarest oder Ost-Berlin gesehen hat.
Medien verbreiten die Meldung, Slobodan Milošević sei nach 13-jähriger Herrschaft geflohen und habe sich in den Regierungsbunker nach Bor zurückgezogen. Kurz darauf meldet sich in Deutschland Bundesaußenminister Joschka Fischer zu Wort: "Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es eine Dynamik gibt, einer revolutionären Demokratie, wie wir sie vor zehn Jahren auch in Deutschland erlebt haben. All diejenigen, die damals die Zeit bewusst miterlebt haben, werden sich in dieser Nacht erinnert fühlen an die Nacht, als die Mauer fiel. Es ist eine ähnliche Dynamik, die von unten, von der Demokratie her kommt."
"Ein Aufstand, keine Revolution"
Unter den Demonstranten des 5. Oktober sind viele junge Menschen, darunter Milja Jovanovic, Gründerin der serbischen Studentenbewegung "Otpor!", auf Deutsch Widerstand. Sie urteilt Jahre später: "Ich denke, es war ein Aufstand, keine Revolution, denn es war im Großen und Ganzen friedlich, keine Toten. Und das ganze System, wie Politik funktioniert, ist nicht sehr verändert worden."
Nach dem Sturz Miloševićs wird Vojislav Koštunica neuer Präsident. Aus der Republik Jugoslawien wird nach der Unabhängigkeit Montenegros der Staat Serbien. Das Land begibt sich auf den schwierigen Weg von einem sozialistischen Regime zu einer marktwirtschaftlich orientierten Demokratie und einem Beitrittskandidaten der EU. Im April 2001 lässt die neue Regierung Slobodan Milošević festnehmen und an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausliefern, wo ihn vor dem Kriegsverbrechertribunal eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erwartet. Er stirbt jedoch 2006 vor dem Abschluss des Verfahrens.