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Auschwitz-Gedenken
Raus aus der Betroffenheitsspirale

Für junge Jüdinnen und Juden in Deutschland ist die Schoah allgegenwärtig - durch Gespräche über die eigene Familie, aber auch durch die Erinnerungskultur. Gegen Antisemitismus helfe jedoch kein Weinen und kein Händchenhalten, sagt der jüdische Aktivist Michael Groys, sondern nur konkretes Handeln.

Von Carsten Dippel | 27.01.2020
Rote Rosen liegen am 27.01.2015 auf einem Stein des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Am 27.1.1945 befreite die Sowjetarmee das NS-Vernichtungslager Auschwitz.
Rote Rosen auf einem Stein des Holocaust-Mahnmals in Berlin: Der Jahrestag der Auschwitz-Befreiung am 27. Januar 1945 ist Holocaust-Gedenktag (picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
"Wir sind nie wieder naiv angesichts von Bedrohungen. Und wir warten nicht auf irgendeine höhere Macht, die uns beschützen wird, sondern nehmen selbst in die Hand und ergreifen klare Maßnahmen. Ich glaube, dass diese Erkenntnis dessen, dass wir nie wieder darauf warten können, dass man uns abschlachtet, sehr tief in der jüdischen DNA sitzt."
Sagt Michael Groys. Er sieht sich als jüdischer Aktivist. Er wurde in der Ukraine geboren und kam als 7-Jähriger 1998 mit seinen Eltern als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Hier hat er Politologie studiert und ist in die SPD eingetreten. In seiner Familie gab es zahlreiche Opfer der Shoah. Die Schoah, so sagt er, begleite ihn beinahe täglich.
"Das Thema ist omnipräsent"
Groys sagt: "Ich habe mit meinem Opa sehr viel darüber gesprochen. Er war im Ghetto Megalot Podolski an der Grenze zwischen der Ukraine und dem heutigen Moldawien. Ein Ghetto, das bekannt war, wo große Deportationen auch nach Auschwitz gingen. Er hat dort überlebt. Auch meine beiden anderen Omas, waren auch beide in Ghettos, insofern ist das ganze Thema omnipräsent. Das hat mich sehr geprägt für mein ganzes Leben."
Angesichts eines erstarkten Rechtsextremismus und wachsenden Antisemitismus fragt er sich aber auch: Wann ist es heute eventuell zu spät, um sich noch zu wehren?
"Haben wir Juden, junge Juden in Deutschland eine Zukunft? Tatsächlich eine Zukunft? Für wen bauen wir hier die Synagogen, die Stolpersteine? Wird man sie morgen noch putzen und die Synagogen besuchen? Diese Fragen sind omnipräsent und sie übertragen die historische Erinnerung an die Shoah in die Gegenwart."
Für Doron Rubin, der als Richter an einem Berliner Bezirksgericht arbeitet und ehrenamtlich die orthodoxe Gemeinde Kahal Adass Jisroel leitet, stehen nicht die Gedenktage im Vordergrund, wenn es um das Erinnern geht. Vielmehr sei die Shoah, auch wenn man nicht täglich daran denke, im Bewusstsein.
"Ich würde das als einen Grundton des Lebens hier beschrieben. Das betrifft sowohl mich persönlich, dass, wenn man mal anfängt, innezuhalten, das natürlich sofort präsent wird, über die Familie nachzudenken oder überhaupt hier über uns in Deutschland nachzudenken", sagt Doron Rubin.
Doron Rubins Großmutter floh als 11Jährige nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 aus Antwerpen nach England. Dort hat sie seinen Großvater kennengelernt, der mit einem der letzten Kindertransporte entkam. Die andere Seite der Familie lebte in Polen und Litauen. Doron Rubin kennt Familienbilder aus der Vorkriegszeit, wo gut und gern 400 Personen zusammenkamen. Nach dem Krieg waren es noch 40. Das Erinnern habe im Judentum eine lange Tradition.
"Wir sind, wer wir waren".
Rubin sagt: "Ich sage Kaddish an dem Tag, also das Trauergebet, an dem Tag, wo eben meine Urgroßeltern in der Shoah umgekommen sind. Ich glaube, dass die jüdische Tradition schon sehr stark darauf basiert, dass wir eben zu einem Großteil auch sind, wer wir waren. Und ich habe das Gefühl, dass die jüdische Religion das auf einem sehr tiefen Level sehr gut verstanden hat, weswegen die Erinnerung auch so einen großen Wert hat."
Was das Erbe der Shoah auf persönlicher Ebene bedeutet, wie weit die Prägungen reichen, das spiele noch immer eine erstaunlich geringe Rolle, selbst in der Forschung, sagt Marina Chernivsky. Sie werde bei ihrer Arbeit in der politischen Bildung und Antisemitismusprävention oft mit diesen Fragen konfrontiert.
Chernivsky: "Was wir oftmals nicht wissen, ist das, was dieser gewaltige Bruch hinterlassen hat für alle anderen Beteiligten. Für die Nachkommen. Die Kinder und Enkel der Überlebenden haben nicht die Wahl, ob sie sich damit beschäftigen oder nicht beschäftigen. Sondern sie sind damit unausweichlich durch die Familienbiografien, durch das kollektive Gedächtnis, in welcher Form auch immer, konfrontiert und stellen sich irgendwann in ihrem Leben diesen Fragen. Spätestens, wenn sie Kinder bekommen."
Ihre Heimatstadt Lemberg hatte einst einen stolzen Klang in der jüdischen Welt. Heute erinnern nur wenige Spuren an dieses Erbe. Marina Chernivsky wanderte mit ihren Eltern 1989 nach Israel aus. Sie leistete dort ihren Militärdienst, studierte und kam 2001 nach Deutschland. Ein Teil der Familie ihrer Großmutter wurde in Babi Jar ermordet. Andere Familienmitglieder wurden nach Sibirien evakuiert oder kämpften als Soldaten der Roten Armee gegen Nazideutschland. So wichtig das ritualisierte Gedenken sei, es berge auch die Gefahr der Entlastung.
Chernivsky: "Diese Gleichzeitigkeit ist bemerkenswert. Zwischen dem intensiven Erinnern über die Stolpersteine, über die Präsenz von Erinnerungsorten, durch Gedenktage oder diesen einen Gedenktag auf der einen Seite und auf der anderen Seite sowas wie Geschichtsvergessenheit, gewisse Amnesie, Empathieverweigerung.
Mirna Funk: "Jüdischen Stimmen endlich zuhören"
Rund um Gedenktage wird das Thema der Judenvernichtung nicht zuletzt medial breit aufbereitet. Doch wer erinnert dabei wie und woran? Der in der DDR geborene Autor Max Czollek spricht in diesem Zusammenhang von einem "Gedächtnistheater", in dem Juden allzu oft eine ihnen zugewiesene Rolle einnähmen. Auch die in Ost-Berlin geborene Schriftstellerin Mirna Funk erlebt diese Art des "Gedächtnistheaters", wenn sie dieser Tage etwa auf Podien sitzt. Für sie als Jüdin sei es aberwichtig, an den Debatten teilzunehmen.
Portrait von Max Czollek, Autor, im Haus für Poesie in Berlin.
Max Czollek (imago / gezett)
Funk sagt: "Der Ausschluss von jüdischen Stimmen innerhalb der Debatten, ob das Antisemitismus oder jüdisches Leben in Deutschland oder Erinnerungskultur ist, der hat ja jetzt 75 Jahre lang enorm stattgefunden. Ich finde es viel wichtiger, diesen jüdischen Stimmen endlich zuzuhören."
In der orthodoxen Gemeinde von Doron Rubin im Berliner Prenzlauer Berg leben viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Hier wächst mittlerweile die vierte Generation der Nachkommen von Überlebenden heran. Antisemitismus habe er schon als Jugendlicher in Baden-Württemberg erfahren. Sorge bereite der Gemeinde die Frage, wie gut es heute möglich sei, sichtbar jüdisch zu leben.
Rubin sagt: "Aber ich glaube, dass es zur Geschichte in Deutschland vielleicht auch dazugehört, dass man noch entschiedener und noch bewusster sagt: Antisemitismus ist ein Problem der Juden und wir helfen den Juden, mit dem Problem umzugehen, hin zu: Antisemitismus ist ein Problem unserer deutschen Gesellschaft, das wir vor dem Hintergrund unserer Geschichte so unerträglich finden, dass wir mit aller Entschiedenheit dagegen vorgehen."
Antisemitismus im Gewand der Israelkritik
Vielfach ist die Erinnerung für jüdische Menschen, die in Osteuropa geboren oder aufgewachsen sind eine andere als in Deutschland. Die Erfahrungen der Sowjetzeit haben diese Familien zutiefst geprägt und nicht selten überlagern sie das Erinnern an Krieg und Shoah. Eli Zaidmans Vater durfte das angestrebte Studium nicht beginnen – weil er Jude war. Vor drei Jahren kam Eli Zaidman nach Deutschland. Viele Freunde ihrer Eltern sind bereits in den 1970er Jahren nach Israel ausgewandert. Die junge Studentin trägt, selbstbewusst, einen Davidstern um den Hals. Sie weiß ihn aber auch zu verbergen, wenn es unangenehm wird. Antisemitismus habe sie zu Hause in Moldawien in seiner Urform erlebt.
Zaidman: "Einfach täglich irgendwelche Verschwörungstheorien über Juden gehört, oder wie Juden das Geld kontrollieren in der Welt oder die ganze Macht übernommen haben oder so. In Deutschland ist das natürlich anders. In Deutschland erlebe ich das meistens unter dem Begriff 'Israelkritik'. Was manchmal gar nicht Israelkritik ist, sondern absolut antisemitische Äußerungen."
In der Sowjetunion gab es lange Zeit keine Anerkennung des jüdischen Leids. Juden waren nur eine Opfergruppe unter anderen, ein offizielles Gedenken blieb aus. Eine Leerstelle, die auch dem individuellen Erinnern wenig Raum gibt. Doch die Shoah, sagt Mirna Funk, ist für jemanden mit jüdischen Wurzeln nicht zu Ende, wenn die Zeitzeugen sterben.
Ständig Vorurteilen ausgesetzt
Sie meint: "Das ist ja Teil sozusagen der eigenen Identität. Deswegen braucht es auch nicht unbedingt so einen offiziellen Tag, an dem gedacht wird, das ist sozusagen Teil des Lebens, das findet ja immer irgendwie statt. Also man wird antisemitischen Vorurteilen ausgesetzt und zwar wöchentlich. Man muss sich irgendwie zu Israel verhalten, man fragt sich, ob die eigenen Ängste und die eigenen Macken in irgendeiner Weise mit alten Traumatisierungen der Vorfahren zu tun haben."
Mirna Funk lehnt an einer Hauswand und blickt freundlich in Richtung des Betrachters.
Die Schriftstellerin Mirna Funk in den Straßen von Berlin. (Doris Spiekermann-Klaas / tagesspiegel / imago-images)
Für Michael Groys bleibt das Erinnern wichtig. Gedenktage wie der 27. Januar oder der israelische Yom Ha-Shoah, der an den Aufstand im Warschauer Ghetto anknüpft und nicht nur das Leiden in den Blick nimmt, sondern auch den jüdischen Widerstand, hätten ihre Funktion. Und dennoch gehe es heute um die Frage des konkreten Tuns angesichts eines mehr und mehr gefährdeten jüdischen Lebens.
Groys: "Wer Juden helfen will, muss konkrete Maßnahmen tun. Still, klar und überzeugt. Ich habe das Gefühl, das ist immer so sehr eine Betroffenheitsspirale, Händchen halten und Kerzen zünden und soviel Zeit wird verwendet. Das sind alles Dinge, die den Antisemiten egal sind. Das müssen wir uns klar machen. Nicht empören, nicht weinen, nicht Anne Frank lesen, nicht Bagel essen, nicht Klezmer hören, sondern mit ganz konkreten nüchternen Handlungen. Weil: Die Bösen sind immer in der Minderheit. Sie werden erst dann erfolgreich, wenn die Mehrheit der Guten schweigt."
Die gut 200.000 zählende jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist heute sehr bunt und heterogen. Die Erinnerung an die Shoah ist in den unterschiedlichsten biografischen Hintergründen präsent. In der Wahrnehmung und Anerkennung der jüdischen Gegenwart sieht Marina Chernivsky die eigentliche Aufgabe der Gesellschaft.
Chernivsky sagt: "Die Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden als Opfer, auch zum Teil eine hohe Identifikation mit den Schicksalen von Ermordeten. Und gleichzeitig eine ausbleibende Identifikation mit den Juden, die heute hier leben und arbeiten und gestalten. Das ist interessant. Dahin müssen wir genauer schauen: Warum ist das so? Weil in diesem Spannungsfeld entstehen Fantasien, entstehen Gerüchte, auch Befremdungen. Und in diesem Spannungsfeld findet so etwas statt, wie ein antisemitisches Grundgefühl, ein diffuses Gefühl im Sinne von: Wie fasse ich das jetzt an und wer sind diese Menschen, wo sind sie?"