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"Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen"
Ehrung für "Netzpolitik.org"

Die Affäre um die Ermittlungen gegen die Betreiber von "Netzpolitik.org" zieht immer weitere Kreise. Gleichzeitig wurde der Blog jetzt als "Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen" geehrt - samt Urkunde mit Unterschrift des Bundespräsidenten. Chefredakteur Markus Beckedahl spricht von "Schizophrenie".

Von Wolfgang Noelke | 06.08.2015
    Markus Beckedahl und Andre Meister halten eine gläserne Auszeichnung zwischen sich in die Kamera
    Markus Beckedahl und Andre Meister wurden für "Netzpolitik.org" als "Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen" geehrt (dpa/picture alliance/Rainer Jensen)
    "Wir haben uns das nicht ausgesucht, dass wir auf einmal staatlich geprüfte Landesvertreter im Anfangsverdacht sind - (Zwischenruf "Verräter") - Ach, Verräter (Publikum lacht). Ich musste auch erst mal meine Mutter beruhigen, dass ich jetzt nicht ins Gefängnis komme, so, wie es theoretisch möglich wäre. Wir gehen auch davon aus, dass die Ermittlungen auch irgendwann fallen gelassen werden."
    Im Dachgeschoss der zum modernen Bürohaus ausgebauten alten Fabrik, nahe dem Berliner Fernsehturm, richten sich Kameras und Mikrofone auf den wohl zur Zeit bekanntesten deutschen Chefredakteur, Markus Beckedahl. Details zur vom Verfassungsschutz geplanten Massenüberwachung des Internets, die Beckedahl und sein Kollege André Meister veröffentlichten, sollen angeblich "Landesverrat" sein, - ein Delikt, dessen Existenz bis vor Kurzem selbst unter Juristen wenig bekannt war, das aber mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr geahndet wird. Die Redakteure von Netzpolitik.org fühlten sich wie in einem schlechten Film, als sie erfuhren, parallel zum strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geehrt zu werden, als "Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen".
    "Es ist natürlich ganz lustig, wenn man von der einen Seite des Staates im erweiterten Sinne eine Urkunde bekommt, eine Auszeichnung bekommt, und auf der anderen Seite des Staates wird man als Landesverräter verfolgt. Also, das zeigt vielleicht irgendwie die Schizophrenie unseres derzeitigen Redaktionsalltages."
    Der sich normalerweise seit fast elf Jahren um technische und gesellschaftliche Probleme des Internets dreht, also um Netzpolitik. Die im Internet aufbereiteten Texte dürften für Politiker aller Couleur inzwischen zur täglichen, mehr oder weniger geliebten Pflichtlektüre gehören. Genau wegen dieser Kontinuität wurde die Seite von einer gemeinsamen Initiative aus Politik und Wirtschaft mit dem Prädikat "Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen" geehrt. Die vom Bundespräsident unterzeichnete Urkunde übergab die Geschäftsführerin dieser Initiative, Ariane Derk:
    "Wir denken, das, was Sie tun, das, was Sie mit Ihrem Blog schon seit zehn Jahren tun, durchaus etwas ist, was wichtig ist, für die Gesellschaft, einfach um in der Breite zu informieren. Und deswegen auch diesen Preis, in diesem besonderen Rahmen, heute für Sie!"
    Beckedahl: "Damit der Verfassungsschutz Tritte gegen das Knie bekommt"
    Um weiterhin - im Sinne dieser Auszeichnung - "Wichtiges für die Gesellschaft" leisten zu können, fordert Markus Beckedahl jetzt vonseiten der Politik eine Rücknahme aller Vorwürfe:
    "Wir fordern erst mal eine Einstellung sämtlicher Ermittlungen gegen uns. Wir fordern Transparenz und Aufklärung und Klarheit, wer involviert war, wer sich dafür eingesetzt hat, dass diese Ermittlungen wegen Landesverrats in unsere Richtung gestartet wurden. Wir erwarten Klarheit darüber, ob Überwachungsmaßnahmen gegen uns, als Privatperson und unserer redaktionellen Arbeit gemacht worden sind. Wir erwarten, wenn das so passiert ist, eine Löschung von allem, nachdem uns Kopien mitgegeben worden sind und wir fordern, dass Verantwortliche klar benannt werden und im Idealfall diese auch politische Verantwortung übernehmen."
    Nach Markus Beckedahls Auffassung ist das Ermittlungsverfahren nicht nur gegen ihn und seinen Redakteur gerichtet, sondern indirekt an die Adresse potenzieller Hinweisgeber:
    "Wir gehen davon aus, dass die Intention war, ein Einschüchterungsversuch in unsere Richtung, als kritische Journalisten, aber auch in Richtung potenzieller Quellen. Und insofern ein Angriff auf die Pressefreiheit. Aber dass wir eventuell als Sieger aus dieser ganzen Auseinandersetzung herausgehen, indem halt klar wird, dass diese ganzen Anschuldigungen gegen uns wie ein Kartenhaus zusammenfallen, indem klar wird, dass wir massive Spendensolidarität erfahren und quasi unser investigatives Rechercheteam noch ausbauen können, kann das natürlich sein, dass unsere "Jetzt-erst-recht"- Stimmung jetzt auch auf unsere Quellen rüberschwappt - und die halt motivierter sein werden, mehr Dokumente in Richtung investigativer Journalisten weiterzugeben, damit dieser Verfassungsschutz mal einen Tritte gegen das Knie bekommt."