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Autorenschwund bei Wikipedia

In Dornbirn, in Vorarlberg, trafen sich die Autoren der deutschsprachigen Wikipedia aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. "Wikicon" nennt sich diese alljährliche Veranstaltung. Das alles überschattende Thema war diesmal der Autorenschwund der Online-Enzyklopädie.

Von Achim Killer | 03.09.2012
    "Wir verstehen uns hier alle super. Und ich möchte es noch einmal betonen: Wikipedianer sind großartige Menschen, wirklich tolle Menschen. Ich kann nur empfehlen, lernen Sie Wikipedianer kennen. Aber online neigen Menschen tatsächlich nicht nur in der Wikipedia, sondern das ist eine Erfahrung aus ganz vielen Blogs, Foren etc., Kommentarfunktionen von Zeitungen oder Radios, da kennt man dieses Problem, dass Kommunikation im Netz häufig ruppiger ist."

    So Pavel Richter, Geschäftsführer der Wikimedia Deutschland, dem Verein, der die hiesige Ausgabe der Online-Enzyklopädie trägt. Ein oft rüder Umgangston bei der Diskussion der Artikel im Web und ein mittlerweile ausuferndes formales Regelwerk, das sind zwei mögliche Gründe dafür, weshalb weniger Surfer bei Wikipedia mitschreiben. Und mit dazu beigetragen hat sicherlich auch der Erfolg des Projekts, findet der Autor Tobias Klenze. So umfasst inzwischen allein die deutsche Ausgabe 1,4 Millionen Artikel.

    "Viele Themenbereiche sind jedenfalls so abgedeckt, dass man nur noch mit Expertenwissen dazu etwas beitragen kann. Früher war es beispielsweise möglich, dass man den Wikipedia-Artikel "Nordsee" mit zwei Sätzen anlegen konnte. Und heutzutage gibt es einfach nicht mehr diese Möglichkeit, mit einer niedrigen Hürde einzusteigen."

    Von weltweit 90.000 aktiven Wikipedianern im letzten Jahr ist die Rede. Heuer seien es nur noch 85.000. So genau weiß man das allerdings nicht, weil ja jeder bei Wikipedia mittun kann, ohne sich anmelden zu müssen. Aber die Tendenz ist eindeutig, sagt Professor Falko Wilms von der Fachhochschule Vorarlberg in Dornbirn.

    "Es gibt verschiedene statistische Programme die einiges auswerten. Und Fakt ist: Es gibt weniger Mitschreibende. Und die, die mitschreiben, die bleiben nicht so lange dabei wie früher."

    Und das jüngste Wikipedia-Projekt könnte zu einer weiteren Herausforderung für die Diskussionskultur in der Community werden. Wikidata nennt es sich. Eine zentrale Datenbank soll eingeführt werden, aus der alle Artikel einer Ausgabe und alle verschiedensprachigen Ausgaben Fakten abgreifen. Das kann helfen, Fehler zu vermeiden. Aber die Zahlen und Fakten, die in das zentrale Repository eingestellt werden, die müssen natürlich diskutiert werden. Und da sind etliche Wikipedianer skeptisch. Frank Müller aus Baden-Württemberg etwa:

    "Man kann sagen, es gibt zwei Bereiche. Der eine Bereich ist einfach. Es gibt Daten, die kann man international betrachten. Man kann sagen: Der Fernsehturm von Stuttgart ist so und so viel Meter hoch. Das kann man auch in Inches umrechnen. Da wird nicht viel diskutiert werden. Aber es gibt einen anderen Bereich, der mehr in Richtung Kultur geht, wo man Daten nur schlecht vergleichen kann."

    So weichen etwa die Angaben darüber, wie viele Kurden in den Staaten des Nahen Ostens leben, stark von einander ab, je nachdem, ob man die türkische oder die kurdische Ausgabe der Wikipedia konsultiert. Noch vor nicht allzu langer Zeit galt ja in der Türkei sogar die offizielle Sprachregelung, dort gäbe es überhaupt keine Kurden. Vielmehr handele es sich dabei um Berg-Türken. Ein Nationalitätenkonflikt, der sich in Wikipedia niederschlägt, wenn auch aktuell nur in Form von Widersprüchen zwischen verschiedenen Ausgaben. Künftig aber müssen derartige Differenzen ausgetragen getragen werden, und zwar nicht nur innerhalb eines Kulturkreises und in der entsprechenden Sprache, sondern international.

    "Die Diskussion wird natürlich komplexer, egal, ob man sich einigen kann oder nicht, weil nicht nur Deutschsprachige mit Deutschsprachigen diskutieren und Englischsprachige mit Englischsprachigen und Chinesen mit Chinesen, sondern es werden alle Möglichen englisch mit einander diskutieren."

    Hinzu kommt, dass auch vermeintlich wörtliche Übersetzungen inhaltlich meist nicht deckungsgleich sind. Begriffe sind kulturell geprägt. Ein-eindeutige Zuordnungen von Wörtern aus verschiedenen Sprachen daher nur selten möglich. Eine Datenbank wiederum verträgt keine Zweideutigkeiten. Die bereits jetzt schon angeschlagene Konsensfähigkeit der Wikipedianer dürfte also künftig auf eine weitere harte Probe gestellt werden.