Archiv


Beispiellose Welle der Gewalt

Die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 in Brasilien rücken näher. Doch die Sicherheitslage im Land bleibt prekär. Allein in Sao Paulo wurden in den vergangenen Wochen 300 Menschen erschossen. Die Mörder haben es vor allem auf Polizisten abgesehen, offenbar sind aber auch Polizisten unter den Tätern.

Von Sandra Stalinski |
    Es ist früher Abend in Cidade Ademar, in der südlichen Peripherie der Millionenstadt Sao Paulo. Jugendliche sitzen in einer Bar, trinken Bier, genießen ihren freien Tag, bis vier Männer sich auf Motorrädern nähern und wahllos in die Menge schießen. Für fünf Jugendliche kommt jede Hilfe zu spät. Niemand weiß, warum sie sterben mussten. Seit Wochen zeigen die Fernsehnachrichten in Sao Paulo jeden Abend Szenen wie diese.

    Zehn Tote in einer Nacht sind keine Seltenheit. Erschossen von Todesschwadronen auf Motorrädern oder bei Auseinandersetzungen mit der Polizei. Mehr als 300 Menschen haben seit Anfang Oktober im Großraum Sao Paulo auf diese Weise ihr Leben gelassen. Eine Welle der Gewalt, wie sie die Stadt seit Jahren nicht gesehen hat.

    Am Gewaltforschungszentrum der Universität von Sao Paulo treffen sich Professoren und Dozenten, um über die aktuelle Lage zu diskutieren. Einer von Ihnen ist Renato Sergio de Lima, Experte für öffentliche Sicherheit.

    "Sao Paulo erlebt zurzeit eine Krise, die einem Rachekrieg ähnelt. Niemand weiß mehr so genau, wo das Ganze begann. Wir erleben eine Welle von Morden und die ist noch nicht zu Ende. Sowohl das organisierte Verbrechen, als auch die Polizei sind verantwortlich für diese Morde."

    Ein Rachekrieg, den offenbar das berüchtigte Drogenkartell PCC – das sogenannte Erste Hauptstadtkommando – angezettelt hat. Im Jahr 2006 hatten die Gangster Sao Paulo schon einmal in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand versetzt und mehrere Tage lang Polizeiwachen, Banken und Gerichte angegriffen. Diesmal haben sie es vor allem auf Polizisten in deren Freizeit abgesehen, vermutet de Lima.

    "Was im Augenblick zu passieren scheint, ist, dass das PCC eine andere Taktik anwendet. Eine Art Guerillataktik, bei der die Polizisten in ihrer Freizeit aufgespürt werden. Damit versucht man, die Moral der Truppe zu schmälern und die Polizei zu schwächen."

    Seit Anfang des Jahres wurden bereits mehr als 90 Polizisten ermordet. Den meisten von ihnen wurde an ihren freien Tagen, oft vor der eigenen Haustür aufgelauert. Auch Kinder und andere Angehörige von Polizisten sind unter den Opfern.
    Das schürt Angst und Verzweiflung in den Reihen der Polizei. Auf einer Kundgebung im Stadtzentrum gedenken sie ihrer Toten.

    "Frieden über allem" wünschen sie sich und ziehen mit Kreuzen und Plakaten in der Hand die Avenida Paulista entlang, die Bankenmeile São Paulos. Rosana Alves Gonçalves trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Foto ihres toten Mannes darauf. Er war Militärpolizist. Direkt vor der Tür ihrer Firma haben ihn Unbekannte erschossen.

    "Ich bin hier, um irgendetwas zu tun, vielleicht zu helfen, dass nicht noch mehr Polizisten sterben. Aber eigentlich glaube ich nicht daran, dass sich irgendetwas ändert. Die Gesetze werden nicht durchgesetzt, niemand tut irgendwas, das ist eine Schande. Ich schäme mich, Brasilianerin zu sein."

    Von Behörden und Politik fühlen sich Polizisten und ihre Angehörigen allein gelassen. Sie habe Angst überhaupt noch auf die Straße zu gehen, beklagt Silvana, auch sie eine Militärpolizistin.

    "Ich gehe nicht mehr in Einkaufszentren, ich gehe mit meinen Kindern nicht mehr aus. Ich bin gefangen in meinem Haus. Meinen Alltag habe ich komplett verändert. Wenn ich mal raus gehe, schaue ich mich nach allen Richtungen um. Ich habe Angst, vor allem um meine Familie, meine Kinder."

    Und als das Mikrofon aus ist, schiebt sie noch hinterher, dass es nicht genug Waffen und schusssichere Westen für alle Polizisten gebe. Sao Paulo sei nicht vorbereitet auf die kommende Fußballweltmeisterschaft in zwei Jahren, die Polizei könne ja nicht einmal sich selber schützen.

    Sao Paulo scheint es tatsächlich an einem überzeugenden Sicherheitskonzept für die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele zu fehlen. Zwar sollen die Sicherheitskräfte aufgestockt werden und auch das Militär soll helfen. Wie der Bundesstaat Sao Paulo aber das organisierte Verbrechen bekämpfen will, ist noch unklar. Für dieses Problem gebe es auch keine schnellen Lösungen, befürchtet Sicherheitsexperte de Lima.

    "Die Dynamik des organisierten Verbrechens hat sich stark verändert und beschleunigt, vor allem beim Waffen- und Drogenhandel. Unser Rechtsstaat kommt dem nicht bei. Es gibt eine große juristische Unsicherheit darüber, was genau die Aufgabe der Polizei ist. Uns fehlt ein Gesetz, das die Arbeit der Polizei vernünftiger und effizienter machen würde."

    Und auch die Gesetze, die es bereits gibt, werden kaum durchgesetzt. Straftäter sitzen oft nur ein Sechstel ihrer Strafe ab, viele andere treten sie gar nicht erst an. Die Polizei agiert in einer Art rechtsfreiem Raum. Im Vorfeld der Fußball-WM geht sie bei Drogenrazzien nun immer härter gegen das organisierte Verbrechen vor. Dabei sterben viele Gangster, aber auch Unschuldige. Doch kaum ein Polizist wird dafür je zur Rechenschaft gezogen. Hinzu kommt, dass viele Polizisten selbst in das organisierte Verbrechen verwickelt sind.

    "Es gibt sehr viele korrupte Polizisten. Hier gibt es keine Unterscheidung mehr zwischen Polizei und Gangstern, hier sind alle Gangster. Klar, gibt es auch korrekte Polizisten, aber die Mehrheit ist korrupt. Aber was will man auch erwarten in einem Land, in die Polizisten so schlecht bezahlt werden."

    Sagt Fabiano, ein ehemaliger Strafgefangener, der heute für Menschenrechtsorganisationen in Sao Paulo arbeitet. Das Gespräch mit ihm findet im Inneren eines Autos statt, weil er in der Öffentlichkeit nicht mit Journalisten gesehen werden will. Während seiner Haft unterhielt er Kontakte zum Drogenkartell PCC, das einen Großteil der Gefängnisse in Sao Paulo kontrolliert. Von dort aus befehlen die Drogenbosse die Morde an Polizisten, da ist er sich sicher Und die Todesschwadronen auf Motorrädern, die Unschuldige töten? Das seien Milizen, zu denen sich aktive wie ehemalige Polizisten zusammengeschlossen hätten. Denn das PCC töte gezielt und nicht einfach irgendwen:

    "Sie töten keine Unschuldigen. Maskiert daherkommen und töten, solche Schweinereien machen nur die anderen. Das PCC tötet von Angesicht zu Angesicht. Die Polizisten kommen vermummt mit Kapuzen."