Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Beitritt mit Folgen

Im September 1990 steht auch im Sport die deutsche Vereinigung kurz bevor. In den fünf neuen Ländern werden Landessportbünde gegründet, Den Anfang macht Brandenburg am 15. September. Doch sind die ersten Jahre von heftigen politischen Turbulenzen überschattet.

Von Michael Barsuhn | 19.09.2010
    Im Sport läuft es nicht anders als in der Politik. Die Vereinigung ist keine Vereinigung, sondern ein Beitritt der neuen Länder zum Bund. Auch im ostdeutschen Sport müssen föderale Strukturen erst wiederbelebt werden. Die Uhr des zentralistischen Staatssports ist damit endgültig abgelaufen. Der zu DDR-Zeiten allmächtige Dachverband, der DTSB, steht vor dem Ende.
    Roland Mader, damals Präsident des westdeutschen Volleyball-Verbandes, formuliert das so:

    "Der DTSB ist die Henne, die fünf Eier legen muss und dann geschlachtet wird."

    Die fünf Eier sind die fünf Landessportbünde der neuen Länder Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg.

    Auf einem sogenannten Einheitsbundestag des Deutschen Sportbundes in Hannover treten sie am 15. Dezember 1990 feierlich als neue Mitglieder dem DSB bei.
    Es soll jedoch nicht nur ein struktureller, sondern auch ein personeller Neuanfang sein. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung betont DSB-Präsident Hans Hansen:

    "Mir kommt es darauf an, dass es sich bei den Präsidiumsmitgliedern aus den fünf neuen Bundesländern um einwandfreie Persönlichkeiten handelt, mit denen wir hinterher keinen Schiffbruch erleiden wegen irgendwelcher Veröffentlichungen."

    Doch genau das Befürchtete tritt ein: Gleich drei Präsidenten der neu gebildeten ostdeutschen Landessportbünde bringen durch Stasi-Enthüllungen den vereinten Sport ins Schlingern.
    Als erster stolpert der LSB-Präsident von Sachsen–Anhalt, Klaus Dieter Malzahn. Fünf Jahre lang war er als sogenannter Gesellschaftlicher Mitarbeiter für die Staatssicherheit tätig. Im September 1992 wird Malzahn abgewählt. Doch bereits zwei Jahre später stehen für ihn die Türen des LSB Sachsen-Anhalt wieder weit offen: Er wird Vizepräsident für Leistungssport. Daneben ist Malzahn seit 1992 Geschäftsführer des SV Halle, des mittlerweile größten Sportvereins in Sachsen-Anhalt.
    Ortswechsel: Auch der LSB Brandenburg hat unter seinem Präsidenten Gerhard Junghähnel einen schwierigen Start im vereinten Deutschland. Der ehemalige Rektor der Pädagogischen Hochschule Potsdam ist umstritten. Schon immer galt er als strammer SED-Genosse. Im Frühjahr 1993 schließlich wird seine Stasi-Vergangenheit öffentlich. Unter dem Decknamen "Physik" hatte sich Junghähnel per Handschlag für das MfS verpflichtet. Nach heftigen Auseinandersetzungen stellt er sein Amt als LSB-Präsident zur Verfügung, jedoch nur, um kurz darauf erneut zu kandidieren.

    Seine Konkurrentin ist Renate Schneider, eine 53 Jahre alte Lehrerin und FDP-Abgeordnete. Es kommt zur Kampfabstimmung zwischen dem Altkader und der liberalen Politikerin. Die Atmosphäre ist angespannt, das Ergebnis knapper als gedacht: 106 Stimmen für Junghähnel, 107 für Schneider. Die heute 70Jährige erinnert sich:

    "Ja also mit nur einer Stimme gewonnen zu haben, war natürlich eine ganz schöne Belastung, denn ich musste ja annehmen dass die Hälfte der Sport-Delegierten natürlich gegen mich sein würden. Denn kurz vorher hatte der Präsident des Turnverbandes eine Abstimmung gestellt, dass man im Präsidium eine Überprüfung auf Stasi-Vergangenheit machen solle, und war damit massenhaft durchgefallen. Also 2 Drittel der Delegierten hatten sich dagegen ausgesprochen und deshalb hab ich gedacht, wolle man dann auch den ehemaligen Präsidenten behalten."

    Als eine ihrer ersten Amtshandlungen kündigt Frau Schneider eine Aufarbeitung der Stasi-Verstrickungen innerhalb des LSB an.

    " Ja ich hatte das gleich dort verkündet, dass ich dafür bin, dass es eine Stasi-Überprüfung gibt. Und wir haben dann auch eine Dame aus dem Präsidium nicht mehr bei uns behalten nach dieser Überprüfung."

    Der Amtsantritt von Renate Schneider markiert noch in anderer Hinsicht einen bemerkenswerten Neuanfang: Mit ihr übernimmt erstmals eine Frau die Führung eines Landessportbundes.
    Auch ein drittes Bundesland, Thüringen, bleibt von Skandalen nicht verschont. Es geht um Manfred Thieß, Professor für Mathematik an der Friedrich Schiller Universität Jena und erster Präsident des thüringischen Landessportbundes.

    Auch er wird von seiner Vergangenheit eingeholt: Im April 1969 berichtete Thieß laut einer Stasi-Akte über den Studenten und Leichtathleten Henner Misersky.

    Thieß nannte Misersky …

    "… ehrgeizig, egoistisch, westlich orientiert ... nutzt westdeutsche Sportler als Informationsquelle. Zu einer progressiven Rolle ist Misersky aufgrund seiner charakterlichen Haltung und politischen Einstellung nicht in der Lage."

    Diese Einschätzung beendet die akademische Laufbahn von Henner Misersky. Erst Jahrzehnte später erfährt er die wahren Gründe aus seiner Stasi Akte. Die Ehrenkommission der Friedrich Schiller Universität reagiert umgehend. Nach Studium von Miserskys Opfer-Akte wird Professor Thieß im Dezember 1993 aus seinem Hochschul-Amt entlassen.

    Doch der Hauptausschuss des LSB votiert im Januar 1994 für seine umstrittene Führungsfigur.

    "Stimmberechtigt waren 68 Delegierte, es wurden 68 Stimmen abgegeben, 43-mal wurde für die Variante A gestimmt."

    Variante A heißt: Thieß bleibt im Amt.

    "Ich habe ein sehr deutliches Votum bekommen in meinem Amte fortzufahren. Dies werde ich in der mir eigenen Art versuchen weiterzuführen. Ich erwarte eine nächste, noch wesentlich gezieltere Kampagne gegen mich."

    Im April gibt Thieß auf, er tritt zurück. Doch ebenso wie Klaus Dieter Malzahn in Sachsen Anhalt kehrt er im Herbst 1994 als Vizepräsident auf die Bühne des LSB zurück. Später wird er Leiter der Sportakademie Thüringen – ein Posten, den er bis zu seiner Rente bekleidet.

    Den Opfern des SED-Systems macht die Wagenburgmentalität vieler alter Kader bis heute zu schaffen. Henner Misersky:

    "Verantwortung wollte hier in Thüringen (auch) keiner übernehmen. Die haben sicher gehofft, dass eine generelle Lösung kommt. Aber der DSB und später der Landessportbund Thüringen haben sich auf eine Position zurückgezogen, die da heißt: Autonomie des Sports. Die Autonomie des Sports existiert aber de facto nicht."

    Sie existiert nicht, weil der Leistungssport auch am Tropf des Steuerzahlers hängt. Diese Erkenntnis scheint inzwischen auch beim LSB Thüringen zu reifen. Als erster der ostdeutschen Landessportbünde stellt Thüringen Geld zur Verfügung, um die eigene Geschichte von Historikern aufarbeiten zu lassen. 20 Jahre nach der Sporteinheit wäre es ein erfreuliches Signal, wenn auch andere LSB ihrer Vergangenheit offen und kritisch begegnen würden.