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BKA-Chef
"Das Internet entgrenzt die Kriminalität"

Internationaler religiöser Terrorismus und organisierte Kriminalität im Umfeld der Mafia und von Rockergruppen beschäftigen das Bundeskriminalamt derzeit vorrangig, sagte BKA-Chef Jörg Ziercke im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Auch sei die Gefahr des Rechtsextremismus nicht zu unterschätzen, wenn auch derzeit keine akute Bedrohung bestehe.

Jörg Ziercke im Gespräch mit Rolf Clement | 09.02.2014
    Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), äußert sich am 12.11.2013 während der BKA-Herbsttagung in den Rhein-Main-Hallen in Wiesbaden.
    BKA-Chef Jörg Ziercke (dpa/picture alliance/Arne Dedert)
    Rolf Clement: Herr Ziercke, worum machen Sie sich zur Zeit am meisten Sorgen?
    Jörg Ziercke: Also natürlich ist es der internationale religiöse Terrorismus, der uns Sorgen macht. Stichworte sind da nach wie vor Afghanistan, neuerdings aber natürlich Syrien, Somalia. Dann ist es der Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus. Das Verfahren NSU, das wir in Deutschland ja täglich auch in den Medien wiederfinden. Aber auch die Reaktionen darauf und die Konsequenzen, die wir bei der Polizei gezogen haben. Es ist der große Bereich der organisierten Kriminalität, insbesondere die Mafiakriminalität in Deutschland. Die Kriminalität von Rockern, von Rockergruppen. Aber auch der Bereich der internationalen Bandenkriminalität, das sogenannte Vorfeld der organisierten Kriminalität. Also es sind vielfältige Phänomene, die dann teilweise auch - wie in einem Fall, der sogenannte Callcenter-Betrug - 320.000 geschädigte Deutsche zur Folge haben. Und darüber machen wir uns Gedanken. Wie warnen wir diese Menschen? Wie schaffen wir es auch, präventiv rechtzeitig tätig zu sein?
    Clement: Sie haben zuerst genannt den religiösen Terrorismus. Da gucken wir alle zur Zeit besonders aktuell auf Syrien. Man hört, dass Leute, die dort hingegangen sind, wieder nach Deutschland zurückkommen. Wie viele sind das? Wie viele kommen wieder? Wie? Wie beobachten Sie die? Haben Sie die unter Kontrolle?
    Ziercke: Also wir gehen intern davon aus, dass wir so um die 270 Ausreisen haben Richtung Syrien, wobei wir aber nicht wissen, ob alle wirklich in Syrien ankommen. Man muss da auch sehr differenzieren zwischen denen, die zum Kämpfen nach Syrien fahren und denen, die dort Unterstützungsleistung, Hilfsgüter hintransportieren werden. Manchmal passt beides zueinander: Der Hilfsgütertransport, der dann auch durch bestimmte Personen betrieben wird, der dann auch so in Kampfhandlungen letztlich übergeht. Aber das ist nur ein geringer Prozentsatz. Wir haben Rückkehrer aus dieser Region, auch Kämpfer. Aber das ist im einstelligen Bereich im Grunde. Und gleichwohl macht uns natürlich besorgt, dass die, die das Kämpfen, die das Töten gelernt haben, die ganz stark radikalisiert sind - jedenfalls stärker, als sie in diese Länder gegangen sind -, dass die möglicherweise, wie wir es im religiös motivierten Terrorismus aus Afghanistan erlebt haben, mit Aufträgen damals von Al-Kaida, der Islamischen Dschihad-Union, dass auch diese nach Deutschland kommen mit Aufträgen, um hier dann Anschläge zu begehen. Erlebt haben wir das in der Vergangenheit, und das macht uns Sorgen.
    "Es findet nachhaltig eine Rekrutierung statt"
    Clement: Sie sind also jetzt dran an denen, die Sie gerade beschrieben, auch im einstelligen Bereich - haben Sie das Gefühl, dass die Aufträge haben?
    Ziercke: Nein, das wissen wir nicht konkret. Aber es ist die Sorge, die wir haben, dass es solche Aufträge geben könnte. Denn Deutschland ist ja genannt in vielen Drohvideos, in vielen Propagandapublikationen aus der Szene. Es findet nachhaltig eine Rekrutierung statt durch entsprechende Propagandaveranstaltungen auch in Deutschland. Wir wissen eben auch, dass Al-Kaida in Syrien tätig ist, dass terroristische Organisationen da tätig sind, dass die Deutschen da nicht alleine als Community auftreten. Wir rechnen etwa mit 1.000 Kämpfern aus Europa, die dort also auch in Syrien kämpfen. Das müssen wir hier in Deutschland aufmerksam beobachten, damit das keine Auswirkungen dann bei uns hat.
    Clement: Sie haben Afghanistan erwähnt. Nun zieht die Bundeswehr sich langsam aus Afghanistan zurück - hat das Auswirkungen darauf, dass vielleicht von da auch weniger oder weniger Radikalisierte nach Deutschland kommen?
    Ziercke: Also es ist bereits erkennbar, dass dieser Wechsel, der dort stattfindet, eben dazu führt, dass die Orientierung der religiös motivierten Fanatiker, die bisher auch nach Afghanistan gegangen sind, dass sich das alles Richtung Syrien entwickelt, teilweise Richtung Somalia entwickelt, auch in Ägypten, Libyen schon eine Rolle gespielt hat. Also wir haben derzeit - ja, man muss sagen - keine Ausreisen mehr Richtung Afghanistan.
    Clement: Und da gibt es auch jetzt Ausbildungslager in Syrien und in Somalia und in Ägypten, wie wir sie früher in Waziristan, im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan gesehen haben?
    Ziercke: Ja, früher in den Tribal Areas, da gibt es die aber immer noch natürlich, das sind einige hundert, von denen wir da wissen. Aber wir haben Ausbildungslager in Syrien - große Ausbildungslager sogar -, es gibt in Somalia Ausbildungslager und wir haben sie auch in Libyen gehabt.
    "Keine konkrete Gefährdung für unsere Sportler"
    Clement: Nun finden zur Zeit die Olympischen Spiele in Sotschi statt. Da spricht man auch von einer Bedrohung durch eine islamistische Gruppe, die dort Terroranschläge verüben will, aus dem Nordkaukasus kommend. Wie beurteilen Sie die Bedrohungslage und wie unterstützen Sie die deutschen und die russischen Behörden dort vor Ort, also die deutschen Sportler und die russischen Behörden dort bei der Bekämpfung?
    Ziercke: Also es geht da um das Kaukasische Emirat, unter der Führung von Umarow, der angekündigt hat, dass die Olympischen Spiele nicht stattfinden werden, dass er mit Terroraktionen das Ganze verhindern wird. Nun sind die russischen Kräfte so stark, dass es äußerst unwahrscheinlich erscheint, dass ein solcher Anschlag dort im olympischen Bereich tatsächlich stattfinden kann. Deshalb weicht man aus. Wolgograd haben wir erlebt mit Anschlägen und mit Toten. Wir müssen befürchten, dass eben in der Fläche in Russland der Terrorismus sich zu Wort meldet. Was die deutschen Sportler angeht, wir begleiten sie durch zwei Beamte des Bundeskriminalamtes. Ich habe noch einen weiteren Beamten zur Koordination dort unten. Wir haben auch die Sportler entsprechend - wenn man so will - eingewiesen in die Sicherheitslage, Verhaltenshinweise gegeben. Wir sehen eine hohe abstrakte Gefährdung insgesamt, aber keine konkrete Gefährdung für unsere Sportler.
    Polizisten auf dem Olympia-Gelände von Sotschi
    Polizisten auf dem Olympia-Gelände von Sotschi (dpa/picture alliance/Michael Kappeler)
    Clement: Wie ist denn die Aufnahme von solchen Ratschlägen durch die Sportler? Ein Teil kommt ja von der Polizei und von der Bundeswehr, von den Sportfördergruppen. Nehmen die das auf? Akzeptieren die solche Ratschläge? Oder sagen sie: Na ja, so gefährlich wird es schon nicht werden?
    Ziercke: Wir haben den Eindruck - auch durch die Kontakte, die wir mit dem DOSB, mit Herrn Vesper und seinen Leuten haben -, dass das sehr willkommen ist. Wir begleiten bei allen Weltmeisterschaften, bei Olympischen Spielen - das hat eine gute Tradition schon. Und mein Eindruck ist, dass diese Hinweise auf fruchtbaren Boden fallen, dass aber für die Sportler, die das große Ziel haben, an der Olympiade teilzunehmen, vielleicht Medaillen auch zu gewinnen natürlich das im Vordergrund ist und dass das Bewusstsein für die Gefahr vielleicht gar nicht so ausgeprägt ist. Vielleicht ist das auch ganz gut so, denn deshalb sind wir ja da, um auch vieles zu verhindern. Also ich habe da überhaupt keine negativen Rückmeldungen bekommen.
    "Wir haben ein großes Spektrum an gewaltbereiten Rechtsextremisten"
    Clement: Herr Ziercke, Sie sprachen als zweiten Punkt an den gesamten Bereich des Rechtsextremismus. Haben wir zur Zeit in Deutschland eine rechtsterroristische Gefährdungslage?
    Ziercke: Also in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben wir in den letzten Jahrzehnten immer wieder so wellenartige Bewegungen gehabt. Und da kann man beginnen im Grunde mit dem Anschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 herum. Dann, in der Folgezeit, hat es Anschlagsversuche auf Synagogen gegeben in Deutschland, bestimmte Gruppen gegeben, und so auch jetzt den Nationalsozialistischen Untergrund als Terrororganisation. Im Moment erkennen wir nicht, dass wir solche Konstellationen derzeit haben. Wir haben die Ermittlungen um diesen Nationalsozialistischen Untergrund, über den NSU hinaus, so ausgedehnt, dass wir natürlich nach Anknüpfungspunkten in den Ländern suchen, dass wir Umfeldermittlung machen mit den Bundesländern, wo die Gruppe gewesen sein soll. Aber da gibt es keine Hinweise, dass derart starke terroristische Gruppen oder überhaupt terroristische Gruppen sich gebildet haben. Wohl haben wir extremistische Gruppe natürlich, viele Kameradschaften, wie haben Skinhead-Gruppen, wir haben nicht-parteigebundene Nazis, wir haben die Neonazis, wir haben die, die auch in der NPD teilweise tätig sind und so weiter und so fort. Das gibt es alles. Wir haben ein großes Spektrum, muss man sagen, an gewaltbereiten Rechtsextremisten in Deutschland. Und die Statistik sagt auch, dass wir pro Tag zwei bis drei Gewalttaten, entweder aus rassistischer, antisemitischer oder fremdenfeindlicher Motivation, registrieren.
    Clement: Nun hat man in Folge der Aufklärung der NSU-Taten eine ganze Menge an Reformen durchgeführt in Ihrer Behörde, in anderen Behörden, auch in der Zusammenarbeit der Behörden. Greift das? Haben Sie schon den Eindruck, dass Sie damit schlagkräftiger geworden sind?
    Ziercke: Also wir haben ja bereits im Bereich des religiös motivierten Terrorismus mit einem gemeinsamen Abwehrzentrum in Berlin Erfahrungen sammeln können, wo 40 deutsche Sicherheitsbehörden täglich zusammenkommen, um die Kriminalitätslage zu erörtern. Und dieses Modell haben wir übertragen auf den Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus. Das heißt, in Köln beziehungsweise in Meckenheim bei Bonn - das liegt ja nahe beieinander -, kommen täglich die Experten aus dem Bereich Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus aus Bund und Ländern zusammen und erörtern jeden Fall, jeden Fall! Und ich habe den Ländern angeboten, wenn es zweifelhaft ist, wie ordnet man was zu, ist das eine rassistische, fremdenfeindliche Motivation oder nicht, dass wir eine Task Force des BKA vor Ort schicken, mit dem Bezug, europäische Bezüge, auch in andere Länder Bezüge hinein weltweit zu entwickeln, sodass wir die Länder auch dahingehend unterstützen. Das war eine ganz wichtige organisatorische Maßnahme, dass wir uns so intensiv damit beschäftigen. Aber wir haben noch viel mehr getan, wir haben natürlich zum Anlass genommen, noch mal zu schauen auf unaufgeklärte Mord- und Totschlagsdelikte seit 1990. Wir sind im Moment dabei, 3.300 Mord- und Totschlagsdelikte nach bestimmten Kriterien, die wir mit Wissenschaftlern - fünf renommierten Wissenschaftlern in Deutschland - erarbeitet haben, daraufhin abzuklopfen, ob da irgendwo ein verstecktes Motiv erkennbar wird, dass dieser Fall, der bisher nicht aufgeklärt ist, bisher auch nicht eingestuft worden ist als rechtsextremistisch, ob der nicht doch so eingestuft werden müsste.
    Im Fokus der Minister: der Verfassungsschutz
    Der Verfassungsschutz sollte nach den Enthüllungen um den NSU reformiert werden (dpa / Oliver Berg)
    Daraus hat sich dann die Summe von 745 Fällen ergeben, aber die nur an einem Merkmal sich im Grunde festmachen, was noch überhaupt keine Aussage darüber ist, ob das nun wirklich in diese Schublade passt oder nicht. Das haben wir dann bei uns im BKA noch mal anhand unserer Dateien geprüft, haben das in die Länder zurückgegeben, die Länder müssen jetzt prüfen vor Ort und weiter ermitteln. Und dieses Verfahren läuft noch, was teilweise in der Öffentlichkeit irrtümlich so verstanden und interpretiert wurde, dass wir jetzt über 745 Tötungsdelikte nachdenken, um dann die Gesamtquote der rechtsextremistischen Taten um 745 zu erhöhen. Das ist nicht der Fall! Das möchte ich noch mal ganz deutlich richtigstellen! Ich weiß nicht, was am Ende dabei herauskommt, aber ich weiß, dass sich die Bundesländer sehr, sehr intensiv mit der Problematik beschäftigen. Also das sind so operative Maßnahmen, organisatorische Maßnahmen.
    Und natürlich haben wir nach innen uns insbesondere mit dem Thema Migration und Vielfalt auseinandergesetzt, interkulturelle Kompetenz. Wir haben Veranstaltungen schon durchgeführt, wir bieten jungen Menschen an, mit Migrationshintergrund, zu uns ins Amt zu kommen, sich hier für den Beruf zu interessieren. Ich habe jetzt unlängst in der türkischen Botschaft in Berlin mit einem Lehrgang von Kriminalkommissaranwärterinnen und -anwärtern ein Abschlussprojekt gemacht - mit dem türkischen Botschafter im Übrigen. Das sollte auch so eine Symbolwirkung für die in Deutschland lebenden Türken sein, dass wir uns intensiv bemühen, um dieses Image, was man … ja, was mich auch sehr betrifft, muss ich sagen, in dem Sinne, dass Menschen, Angehörige den Eindruck gewonnen haben, durch Ermittlung selbst zu Tätern zu werden. Das darf nicht passieren! Das ist etwas, was jeder erfahrene Mordermittler im Grunde auch natürlich vermeidet - das ist ganz klar. Also auch da sind wir dabei, intensiv uns um dieses Thema zu kümmern.
    "Sitzen alle in einem Boot"
    Clement: Hat sich denn das Klima unter den Sicherheitsbehörden Bund/Länder verändert, seitdem diese gemeinsamen Arbeitsgruppen eingerichtet sind, diese gemeinsamen Abwehrzentren?
    Ziercke: Also ich glaube ja. Es hat deutlich gemacht, dass wir alle in einem Boot sitzen. Die Länder entscheiden im Grunde, ob ein Fall an den Bund herangetragen wird oder nicht. Es gibt ganz wenige Ausnahmen nur, wo der Bund selbst darauf zugreifen kann. Deshalb die Debatte, um die neuen Kompetenzen des Generalbundesanwaltes, der solche bekommen soll, der uns, das BKA, dann in der Regel beauftragen würde, die Informationen weiter zu verdichten, um entscheiden zu können: Ist das wirklich ein Fall, den der Bund jetzt bearbeiten muss oder nicht? Aber die Frage der Definitionsmacht der Länder, wann gebe ich an den Bund was ab, wann informiere ich den Bund worüber, da bin ich der Meinung, hat sich deutlich etwas verändert nach diesen Ereignissen um den NSU. Da haben die Länder gemerkt: Ja, wir müssen noch intensiver, gerade im Verfassungsschutzbereich, das Bundesamt informieren. Im Polizeibereich sehe ich seit vielen, vielen Jahren im Grunde, dass wir da schon etwas weiter gewesen sind. Die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter mit dem BKA, deren Vorsitzender ich bin, trifft sich zwei-, dreimal im Jahr, viele Telefonschaltkonferenzen, und da haben wir eine ganz klare Linie. Das Bundeskriminalamt ist die Zentralstelle der deutschen Polizei und die Länder haben uns hier herausragende Fälle zu melden - wir führen das große Informationssystem für die Bundesländer und so weiter und so fort. Also da sind wir schon ein Stück weiter.
    Sorge um Vertrauen in Internet
    Clement: Im Interview der Woche im Deutschlandfunk heute der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke. Sie sprachen eingangs auch die organisierte Kriminalität an. Was ist da das Herausragende, was Sie betroffen macht?
    Ziercke: Also ganz allgemein ist es so, dass organisierte Kriminalität komplexer geworden ist, internationaler und technologisch anspruchsvoller in der Bearbeitung. Das soll heißen, dass fast 90 Prozent der Verfahren eine internationale Beteiligung haben, deutsche und ausländische Tätergruppen in Deutschland, dass wir es mit einem Phänomen zu tun haben, das uns gerade im Bereich der Eingriffsmöglichkeiten erheblich fordert. Wenn Sie bedenken, dass 70 Prozent der Aufklärungserfolge der organisierten Kriminalität von der Telefonüberwachung abhängig sind, dann wird klar, wenn übers Internet telefoniert wird und anonymisiert und kryptiert, verschlüsselt also telefoniert wird, dass dann die Beweislage hier für uns immer schwieriger wird. Das heißt, man braucht also Instrumente, um tatsächlich auch dann Erfolge in der Aufklärung schwerster Kriminalität zu haben. Wir haben es mit italienischer Mafiakriminalität in Deutschland zu tun. Deutschland ist früher schon Rückzugsraum/Ruheraum gewesen, aber ist jetzt Investitionsraum, ist auch Aktionsraum. Wir haben in Duisburg sechs Morde gehabt vor einigen Jahren. Wir haben intensive Kontakte mit der italienischen Polizei. Hier haben wir das Problem der Vermögensabschöpfung. Wir haben eine andere rechtliche Situation als in Italien. Die Italiener schöpfen das Zehnfache an Gewinnen und Vermögen der organisierten Kriminalität ab im Vergleich zu uns ... das Zehnfache! Im Grunde, mindestens sogar. Wir haben das Problem der Rockerkriminalität in Deutschland - etwa 9.600 Rocker, davon die Hälfte gewalttätig. In Deutschland. Wir haben das Problem von bandenmäßig organisierter internationaler Kriminalität. Das sind auch osteuropäische Tätergruppen, die sich Deutschland aufgeteilt haben. Wir haben das Problem von - ja - im Grund Betrugskriminalität, die über die Grenzen hinweg geht, diese Callcenter-Problematik mit 320.000 Geschädigten in Deutschland. Wir haben das Problem im Bereich der Cyber-, der Internetkriminalität, dass wir betroffen werden in Verfahren, wo wir es mit Millionen Datensätzen zu tun haben, die irgendwie verschwinden, und wo das Bedrohungspotenzial der Bevölkerung entsprechend groß ist. Ob es wirklich überall Schäden dann verursacht hat, das ist eine andere Frage, aber das Bedrohungspotenzial, das Vertrauen ins Internet, was man ja behalten müsste und sollte, wenn man seine Rechtsgeschäfte auch im Internet dann durchführen will, da habe ich ganz große Sorge, dass uns, wenn wir nicht die entsprechenden Eingriffsinstrumente haben, das nicht gelingen wird, dieses Vertrauen wieder herzustellen.
    "Gar nicht die Möglichkeit, in Riesen-Datentöpfen herumzurecherchieren"
    Clement: Wir sind jetzt ja noch relativ am Anfang der Amtszeit der neuen Bundesregierung. Haben Sie denn dann Hoffnungen und Wünsche? Also Wünsche haben Sie, aber auch Hoffnungen, dass es umgesetzt wird?
    Ziercke: Ja, natürlich habe ich mit dem Bundesinnenminister Dr. de Maizière natürlich diese Fragen schon erörtert. Und er hat die Schwerpunkte ganz klar gesetzt im Bereich des religiös motivierten Terrorismus, des Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus und auch im Bereich der organisierten Kriminalität. Und natürlich gehört für ihn auch dazu, dass wir gerade im Bereich Internetkriminalität/Cybercrime uns ins besonderer Weise aufstellen müssen, technologisch besser aufstellen müssen, aber dass auch die Eingriffsinstrumente für Schwerstkriminalität - immer unter den Kautelen, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat ... nichts anders wollen wir im Grunde - dann auch umgesetzt werden müssen. Und da gibt es ja eine Entscheidung, gerade zur Vorratsdatenspeicherung, wo klar gesagt wird: Es ist verhältnismäßig, wenn ihr das und das macht, das hat nichts mit dem zu tun, was die NSA, was die Amerikaner gemacht haben, dass dort Daten beim Staat gesammelt werden. Bei uns wird es ja bei den Providern gesammelt. Wir haben gar nicht die Möglichkeit, in Riesen-Datentöpfen herumzurecherchieren, wir dürfen nur mit richterlichem Beschluss überhaupt Daten anfordern im Einzelfall, also nur nach diesen ganz klaren rechtsstaatlichen Kautelen, in diesem Spannungsfeld - das ist mir schon bewusst -, zwischen Freiheit und Sicherheit. Wenn es aber um schwere Kriminalität geht, hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, da muss der Staat auch abwehrbereit sein. Nur so kann man das Vertrauen dann auch in das soziale Zusammenleben erhalten.
    Clement: Sie haben italienische Tätergruppen angesprochen, die Zusammenarbeit mit Deutschen und Italienern im Bereich der organisierten Kriminalität. Welches Spezifikum hat diese Zusammenarbeit und was kann man dagegen tun?
    Ziercke: Also es geht in Deutschland um die Ndrangheta aus dem Süden Italiens, es geht aber auch um Cosa Nostra, es geht um Gomorrha, es geht um andere Clans, Mafia-Clans aus Italien in Deutschland, die Deutschland als Investitions- und Rückzugsraum sehen. In Italien werden die Straftaten in der Regel begangen, werden enorme Gewinne abgeschöpft, die nach Deutschland transferiert werden. Geldwäsche spielt da eine große Rolle, aber auch immer wieder mit Rauschgifthandel, mit Kraftfahrzeugverschiebung und so weiter. Die Italiener haben nach einer langen, langen Leidensgeschichte rechtliche Voraussetzungen geschaffen, um Mafiamitglieder etwa zu fünf, sechs Jahren Freiheitsstrafe zu verurteilen. Sie haben Voraussetzungen geschaffen, um Vermögen abzuschöpfen, durch ein Instrument, das nennt man Beweislastumkehr. Hier in Deutschland müssen wir dem Straftäter beweisen, woher er das Vermögen hat. Die Italiener haben das umgekehrt und haben darauf aufbauend große Erfolge - muss ich wirklich sagen - in der Bekämpfung der Mafiakriminalität. Und die sagen mir immer wieder: Aber wenn das Geld nach Deutschland fließt oder nach Frankreich oder nach Großbritannien, dann werft ihr dieses Rad immer wieder neu an eigentlich - dass man merkt, es bringt ja etwas, also dem Täter. Dem Kriminellen die Früchte der Tat zu entziehen, das ist ja das eigentliche Ziel. Im Koalitionsvertrag ist ja auch dieses Thema Vermögensabschöpfung/Beweislastumkehr ein Thema, über das man diskutieren will.
    "Europa ist ein kriminalgeografischer Raum"
    Clement: Ist es da sinnvoll, Gesetze europäisch zu vereinheitlichen?
    Ziercke: Es passiert da eine ganze Menge, bis hin zu den Analyseprojekten von Europol. Also wir haben erkannt, dass wir - wie ich immer sage - innere Sicherheit in Deutschland viel stärker von Europa her definieren müssen. Die Grenzen - die wir zwar noch haben de facto, aber wir haben keine Grenzkontrollen mehr - zeigen, dass Europa ein kriminalgeografischer Raum ist. Und wenn ich das aufs Internet beziehe, muss ich sagen, auch diesen Raum gibt es schon gar nicht mehr, das Internet entgrenzt im Grunde die Kriminalität im Bereich Terrorismus/organisierter Kriminalität, sodass wir von überall in der Welt über das Internet ja in Deutschland noch angegriffen werden können. Und deshalb brauchen wir Allianzen, wir brauchen Partner - nicht nur in Europa, wir brauchen sie weltweit -, um reagieren zu können.
    Clement: Sie haben auch osteuropäisch-/russisch-/eurasische Tätergruppen angesprochen. Wo liegt da der Schwerpunkt?
    Ziercke: Also der Schwerpunkt bei dieser Gruppe liegt darin, dass es da um Ladendiebstahl, um Wohnungseinbrüche geht, um Raubüberfälle geht, auch Drogenhandel spielt da eine Rolle, und das ganz offensichtlich aus post-sowjetischer Zeit. Ehemalige Nachrichtendienstler, ehemalige Polizeiangehörige, Militärangehörige, die in diesen kriminellen Sumpf abgedriftet sind, sich Deutschland, aber auch andere Staaten in Europa aufgeteilt haben. Das nennt sich "Diebe im Gesetz" - 22 haben wir davon in der Anzahl in Deutschland. Die haben Brigaden gegründet. Da gibt es Banden und Gruppen, die in der Lage sind, in Deutschland dann auch Straftaten zu begehen. Ein Fall in Bayern: Da hat man innerhalb von 15 Monaten 1.750 Ladendiebe und Wohnungseinbrecher aus einem bestimmten Land - das ist jetzt nicht nennen will - in Osteuropa festgenommen. Wir haben in deutschen Gefängnissen etwa 4.500 bis 5.500 russischsprachige Gefangene einsitzen, die zum großen Teil auch aus dieser Szene stammen. Also wir rechnen da in Deutschland mit einem Potenzial zwischen 30.000 und 40.000 - und wahrscheinlich ist das noch die untere Gruppe. Das heißt, damit müssen wir uns beschäftigen. Das beeinträchtigt unsere innere Sicherheit in Deutschland.
    Clement: Man hat ja manchmal den Eindruck, dass das auch Auftragsdiebstähle sind. Also wenn mir aus dem Auto mein Navi geklaut wird und sonst nichts aus dem Auto, dann habe ich das Gefühl, dass irgendwo, sage ich mal, in Osteuropa einer sitzt, der für so einen Wagen ein Navigationssystem braucht?
    Ziercke: Also diese Struktur in Deutschland, mit dem 22 "Dieben im Gesetz", das sind so die ungekrönten Häupter, die geben natürlich die Aufträge. Und die entscheiden, was ist auf dem Markt, im illegalen Markt im Grunde, gefragt derzeit und dann geht man - wie Sie eben beschrieben haben - ganz gezielt an Navi-Geräte heran oder bestimmte Typen von Kraftfahrzeugen, die auf bestimmten Wegen dann verschoben werden in die Welt. Das ist genau der Ansatz, den wir beobachten.
    "Da gehört die Straße den Rockern"
    Clement: Sie sagen, 9.600 Rocker in Deutschland, davon die Hälfte gewaltbereit - das sind die Bandenkriege, die wir teilweise erleben?
    Ziercke: Rocker sind ja in einem Milieu zugange, was wir schlicht so als Rotlichtmilieu beschreiben, Türsteherszene in großen Bereichen. Aber im Bereich Rauschgift, Waffenhandel, Geldwäsche, Prostitution - habe ich schon genannt -, dort gibt es dann auf der einen Seite Gewalt, die angewendet wird, auf der anderen Seite gibt es aber dann - wie Sie sagen - diese Revierkämpfe im Grunde, untereinander selbstverständlich, die mit ganz großen Exzessen dann auch begleitet sind. Also dass diese Art von Kriminalität uns deshalb große Sorgen macht, weil auch durch das Outfit der Rocker in der Öffentlichkeit der einzelne Bürger das als Bedrohung empfindet natürlich und bei bestimmten Anlässen man auch gar keine Rücksicht nimmt. Da gehört die Straße dann den Rockern und die demonstrieren dann ihre Macht, und dann kommt es eben auch vor auf kommunaler Ebene, mit denen will man sich nicht anlegen und der Bürger steht dann staunend dabei und sagt: Wie kann das in meinem Staat eigentlich passieren? Und deshalb finde ich es gut, dass die Innenminister der Bundesländer sehr intensiv über Vereinsverbote nachdenken, die auch durchgezogen haben. Wir haben jetzt 17 Vereinsverbote bereits gegen Rockergruppierungen. Die lösen sich dann teilweise auch vorher auf, benennen sich um im Grunde, schließen sich mit anderen zusammen, teilweise wandern sie auch aus Richtung Mallorca, dann haben sie es mit der spanischen Polizei zu tun, und einer der größten Rockerbosse Deutschlands sitzt ja derzeit auch in spanischer Haft.
    Clement: Und die, die da verboten sind, also wenn die Organisation dann verboten wird, den Kunden, den Sie da haben, den treffen Sie nachher in einer anderen Organisation wieder?
    Ziercke: Das kann man so sagen, ja. Weil das, was dort dann mehr oder weniger sich neu formieren muss, natürlich das Kundenpotenzial erneut ins Auge fasst, sodass sich nachhaltig die Strukturen da dann verändern, wenn die Polizei den Verfolgungsdruck auf örtlicher Ebene dann auch aufrecht erhält. Das kann man nur über Kontrollen machen, das kann man über rechtliche Eingriffsbefugnisse im Rotlichtmilieu auch machen. Auch diese Debatte gibt es ja, über das Prostitutionsgesetz, wie man das verändern sollte, wie man da die Möglichkeiten der Polizei auch verbessern sollte. Rocker alleine sind es ja gar nicht. Wir haben daneben noch rockerähnliche Gruppierungen, so an die 4.000 bis 5.000 im Süden Deutschlands. Die Black Jackets zum Beispiel, die haben keine Motorräder, aber die nennen sich auch Rocker und sind auch in der Szene genauso unterwegs, wie die alteingesessenen Rocker dann. Wo teilweise auch Bezüge jetzt in den rechten Bereich entstanden sind, wo man sagt: Ja, heißt das, dass die Rechtsextremisten leichter an Waffen kommen oder nicht? Das beobachten wir so noch nicht. Es gibt aber vereinzelte Zusammenschlüsse in dieser Art. Wir haben das in den Fan-Bereichen in den Fußballstadien - Fans und Rechte -, wo dann Parolen, Rassismus, teilweise auch den Spielern gegenüber, geäußert werden. Wir haben das über das Feld der Musik als ein verbindendes Element der Szene, wo man junge Leute insbesondere anspricht. Es gibt viele einzelne Aspekte, die wir im Auge behalten müssen, um hier eine Eindämmung herbeizuführen.
    "Nicht hinter jeder Ecke steht ein Polizist - das ist gut so"
    Clement: Sind Sie, ist die Polizei in der Lage, den Fahndungsdruck so hoch zu halten, dass man die Szene im Griff behält?
    Ziercke: Also, etwas im Griff behalten suggeriert immer, man beherrscht eine Lage, und da bin ich so ein bisschen allergisch bei solchen Begriffen dann. Ich sage mal, in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ist es eben so, dass nicht hinter jeder Ecke ein Polizist steht - das ist auch gut so -, dass es nicht überall Videoüberwachung gibt - auch das ist gut so, wie ich finde, in einem solchen Staat möchte ich persönlich auch nicht leben -, sondern, dass man hier so die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit schwerpunktmäßig dann so hinorganisiert, dass dort, wo die größten Störungen sind, auch die Polizei stark vertreten sein muss. Und das ist die große Kunst im Grunde, dort präsent zu sein, wo tatsächlich der Bürger sich in seinem Wohlbefinden dann auch gestört fühlt. Aber das ist die Herausforderung, und die müssen wir jeden Tag neu leisten. Und da kann ich nur den Hut ziehen vor der Länderpolizei oder vor den Kollegen vor Ort, die Tag und Nacht im Streifendienst auf den Revieren diese schwere Arbeit leisten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.