Sonntag, 28. April 2024

Archiv


Brasilien - neuer Global Player mit alten Problemen (2/3)

In ihrem Heimatland gebe es immer noch wenig Wissen über die Zeit der Diktatur, sagt die brasilianische Ex-Guerillera und Filmregisseurin Lúcia Murat. Inzwischen sei aber das Bewusstsein dafür gewachsen, dass es ein folterndes und mordendes Regime gab, das noch nicht einmal angeklagt wurde.

Lúcia Murat im Gespräch mit Peter B. Schumann | 20.01.2013
    Peter B. Schumann: Lúcia Murat, Sie gehören zu einer Generation, die Ende 1960, Anfang 1970 gegen die Diktatur gekämpft hat – ganz ähnlich wie Ihre Präsidentin Dilma Rousseff. Diese Vergangenheit beschäftigt Sie bis heute, sie zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr filmisches Schaffen. Auch in dem Spielfilm, den Sie gerade fertig gestellt haben, greifen Sie dieses Thema auf. Brasilien ist das einzige Land im Süden Lateinamerikas, das sich mit der Militärdiktatur noch nicht wirklich auseinander gesetzt hat. Darüber wollen wir sprechen. Aber zunächst möchte ich Sie fragen: Was hat eine junge Frau von kaum 20 Jahren wie Sie damals veranlasst, sich der Guerrilla anzuschließen?

    Lucia Murat: Die Diktatur begann 1964, ich ging ab 1967 auf die Universität, hatte aber bis dahin mit Politik nichts zu tun gehabt. Natürlich war ich gegen die Diktatur, genauso wie mein Vater, ein liberaler Arzt, der den Putsch ablehnte. Damals formierte sich der studentische Widerstand gegen die Militärs. 1968 gab es zahlreiche Demonstrationen, auf die die Polizei mit immer heftigerer Gewalt reagierte. In diesem Moment habe ich mich den Kämpfenden angeschlossen. Bald darauf wurde ich sogar Vizepräsidentin der Studentenorganisation an meiner Universität. Ich begann, politisch zu arbeiten und Kontakte zu illegalen Organisationen aufzunehmen. An meiner Universität war beispielsweise eine Studentengruppe sehr aktiv, die sich von der Kommunistischen Partei abgespalten hatte. Vor allem mit ihr habe ich zusammengearbeitet.
    Schumann: Welche Rolle spielte denn damals die Kommunistische Partei? Viele brasilianische Intellektuelle haben Anfang der 1960er-Jahre mit ihr sympathisiert oder waren sogar Mitglieder. Hat die KP später den bewaffneten Kampf unterstützt?

    Murat: Nein, im Gegenteil. Ich habe ihr auch nie angehört. Als ich an die Universität kam, da hatte sich bereits ein Großteil der Studenten, die früher Parteimitglieder waren, von ihr getrennt und eine Dissidentenorganisation gebildet. Sie vertraten eine sehr kritische Haltung gegenüber der Sowjetunion und kritisierten auch die Partei heftig, weil sie den Staatsstreich nicht abgelehnt hatte. Sie waren sehr viel aggressiver und sahen im bewaffneten Kampf, an dem sie noch nicht aktiv teilnahmen, eine Lösung für das Land. Cuba war das große Vorbild. Die Kommunistische Partei verlor jeglichen Einfluss auf die Studentenbewegung, denn die Jugendlichen konnten mit ihr auch nichts mehr anfangen.

    Schumann: Was für Jugendliche gingen denn damals überhaupt auf die Universität, nahmen dann auch am bewaffneten Kampf teil? Kamen sie nur aus der Ober- und Mittelschicht?

    Murat: Ja, denn die Universität war viel elitärer als heute. Damals dürfte kaum mehr als ein Prozent aus der Arbeiterklasse gekommen sein. Inzwischen ist der Prozentsatz ungemein angestiegen, in den letzten 40 Jahren.

    Schumann: Kommen wir zurück auf das Jahr 1968 der zunehmenden politischen Spannungen. Wie ging es mit der Studentenbewegung und mit Lúcia Murat weiter?

    Murat: In der zweiten Jahreshälfte verstärkte sich die Repression immer mehr. Wir ahnten, dass die rechten Kräfte des Militärs etwas planten, denn unser Widerstand und auch der der Mittelschicht wurde immer größer. Im Oktober hielten wir dann einen Kongress im Untergrund ab und wurden alle verhaftet. So kam ich zum ersten Mal ins Gefängnis.

    Schumann: Im Dezember erließen die Militärs den berüchtigten "institutionellen Akt Nr. 5". Die sogenannten "linha dura", die harte Linie der Diktatur setzte ein. Was bedeutete das?

    Murat: Alles wurde verboten. Der Habeas-Corpus-Akt wurde außer Kraft gesetzt: Jeder konnte jederzeit verhaftet werden, alle Medien wurden zensiert. Es begann der sogenannten Putsch im Putsch. Wir, die wir sozusagen "verbrannt" waren durch die erste Phase der Repression, also auf der schwarzen Liste standen, entschieden uns, in den Untergrund zu gehen. Ich wurde auch sofort relegiert und habe unter falschem Namen gelebt. Dann hat die Geheimpolizei meine Wohnung durchsucht und sogar meinen Vater festgenommen, immerhin ein bekannter Arzt und Direktor eines der größten Krankenhäuser von Rio. Wir haben im Untergrund weiter gearbeitet, haben beispielsweise versucht, die Arbeiter in den Fabriken von der Revolution zu überzeugen. Nach der Entführung des US-amerikanischen Botschafters im September 1969 wurde die Repression immer brutaler und viele Leute verhaftet. Ich wurde nach Salvador de Bahia geschickt, wo es etwas sicherer war. Wir waren alle noch sehr jung, ich war gerade mal zwanzig und gehörte doch schon zur Leitung der Organisation.

    Schumann: Und wann wurden Sie erneut verhaftet?

    Murat: Nachdem ich nach Rio zurückgegangen war, im März 1971. Zweieinhalb Monate galt ich als verschwunden. Ich wurde während der ganzen Zeit immer wieder gefoltert. Das war die Taktik der Militärs: Wenn du krepiertest, konnten sie behaupten, dass du nicht inhaftiert worden warst. Auf diese Weise sind sehr viele ermordet worden und einfach verschwunden. Für die Familien war das furchtbar, denn sie wussten ja, dass du verhaftet worden warst. Nachdem ich diese zweieinhalb Monate ohne jegliche Kommunikation überstanden hatte, kam ich für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis.

    Schumann: Damit wir die Dimension der brasilianischen Verbrechen besser einschätzen und auch mit Chile und Argentinien vergleichen können: Wissen Sie, wie viele Menschen damals verhaftet, gefoltert oder ermordet wurden?

    Murat: Anders als die chilenische und argentinische Diktatur hat die brasilianische sehr lange gedauert. Und sie hat auch bereits 1964, also sehr viel früher, begonnen. Nach 1968 haben fast nur noch wir Studenten Widerstand geleistet. Verglichen mit Argentinien ist die Zahl der hier "Verschwundenen" nicht allzu hoch. Verhaftet und gefoltert wurden Unzählige: 10.000 oder 20.000. Die brasilianische Diktatur ist auch viel langsamer verlaufen. Die Militärs haben nicht wie in den Nachbarländern mit einem Mal zugeschlagen, sondern immer mal wieder. Dazwischen hat es weniger repressive Phasen gegeben und auch immer wieder Versuche der Annäherung, der Öffnung und des Rückschlags. Die schlimmste Phase war die Regierung Medici von 1969 bis 1973, vier Jahre der Verhaftungen, der Folter, der Morde. Der Geheimdienst besaß mehr Macht als das Militär.

    Schumann: Ist diese Zeit den Brasilianern heute noch bewusst, oder wurde das alles verdrängt, ohne aufgearbeitet worden zu sein?

    Murat: Dazu muss man zunächst wissen, dass der Widerstand gegen die Diktatur vor allem in den Großstädten stattfand. Wenn ich heute mit meinen Filmen in kleinere Städte eingeladen werde, dann stelle ich immer wieder fest, dass die Leute so gut wie nichts über die Vergangenheit wissen. Es gibt auch wenig Information. Man darf ja nicht vergessen, dass hier 200 Millionen Menschen leben, und Brasilien ein riesiges Land ist. Doch neuerdings geschehen erfreuliche Dinge: Eine Gruppe junger Leute in Rio, São Paulo und andernorts hat begonnen, Folterer aufzuspüren. Wir, die Älteren, hätten von ihnen nie erwartet, dass sie sich unsere Sache zu eigen machen.

    Schumann: Das erinnert mich an die Jugendlichen in Argentinien, die Kinder der Verschwundenen, die vor die Wohnungen dieser Verbrecher gezogen sind und sie öffentlich angeklagt haben. Aber was in Brasilien vor sich ging, davon wissen wir im Ausland so gut wie nichts.

    Murat: Das Bild Brasiliens im Ausland wurde schon immer von Samba und Karneval bestimmt. Selbst die Europäer wissen nicht, was hier vor sich ging. Sie haben eine paradiesische Vorstellung von uns und keine Ahnung von der Diktatur. Und sie wissen auch nicht, dass die brasilianischen Militärs die Lehrmeister der chilenischen Diktatur waren. Sie haben die Chilenen 1973 gelehrt, wie man foltert und mordet. Dafür gibt es Beweise. Und es waren auch brasilianische Militärs, welche die ‘Operation Condor’ koordinierten.

    Schumann:
    Ich muss kurz erklären, dass die Diktaturen in Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien ihren Terror auch grenzüberschreitend organisiert haben, und dadurch viele Verfolgte, die in die Nachbarländer geflüchtet waren, ermordet wurden.

    Murat: Ja, so war das. Im Ausland wusste man zwar, dass es hier mal diese Diktatur gegeben hat, aber mehr auch nicht. Und in Brasilien herrscht eine sehr viel ausgeprägtere Kultur der Versöhnung, des Kompromisses als in Argentinien und Chile. Die Brasilianer werden oft auch als konfliktscheu eingeschätzt. Doch heute setzen sich viele bei uns ernsthaft dafür ein, dass die Geschichte aufgeklärt wird. Ich glaube auch, dass bei uns das Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass es keine Zukunft gibt, wenn die Vergangenheit vergessen wird. Es geht nicht um Rache, sondern um Aufklärung über den Schrecken und seine Dimension in jenen Jahren. Ich will nicht wissen, ob hier mehr und weniger gefoltert und gemordet wurde als in Argentinien. Ich erwarte aber als Folteropfer, dass klar gemacht wird: Hier hat ein Regime existiert, das so etwas erlaubt hat und das dafür niemals verurteilt, noch nicht einmal angeklagt wurde.

    Schumann: Sie wollen also, dass die Täter endlich vor Gericht gestellt werden, dass es endlich Gerechtigkeit gibt?

    Murat: Ich bin mir da nicht so ganz sicher.

    Schumann: Aber Sie haben das doch gerade gefordert.

    Murat: Natürlich ist es sehr wichtig, festzustellen, wer die Folterer waren, und ihre Schuld darf auch nicht verjähren. Wie wir dann damit umgehen, dafür müssen wir angesichts unserer Kultur der Versöhnung eine Lösung finden. Aber zuerst müssen sie gesucht und mit dem konfrontiert werden, was sie getan haben. Denn das Grundproblem, ein zentrales Problem Brasiliens, ist höchst aktuell: die Straflosigkeit. Man kann sie täglich am Verhalten der Polizei gegenüber den Armen studieren. Denn die glaubt, dass sie auch heute noch straflos foltern kann, weil die Schergen von damals straffrei davon kamen. Wenn wir das Problem der früheren Straflosigkeit nicht lösen, dann haben wir ein Problem in der Zukunft.

    Schumann: Was haben denn die progressiven Regierungen in den letzten 15 Jahren dagegen getan, ich meine die Präsidenten Fernando Enrique Cardoso, Lula da Silva und natürlich auch Dilma Rousseff? Oder gibt es vielleicht eine heimliche Übereinkunft des Schweigens zwischen der politischen Elite und den Militärs?

    Murat: Das glaube ich nicht, denn es wurden bereits verschiedene juristische Versuche der Aufarbeitung unternommen. Deshalb halte ich heute einen Militärputsch für ausgeschlossen. Es gab allerdings immer wieder Gerüchte, dass sie damit gedroht hätten. Im letzten Jahr haben die Militärs erstmals nach 48 Jahren auf ihre Feierlichkeiten zum Jahrestag des Staatsstreichs von 1964 verzichtet: Die Präsidentin hatte sie verboten, und die Generäle haben gehorcht. Nur die pensionierten Militärs haben eine interne Feier abgehalten. Was haben die erwähnten Jugendlichen gemacht? Sie sind vor den feinen Club der Militärs im Zentrum von Rio gezogen und haben "Mörder" und "Folterer" gerufen. Und als es dunkel war, haben sie Filme über den Putsch auf die Fassade des Clubs projiziert, unter anderem einen von mir. Es war fantastisch.
    Schumann: Und die Polizei hat nicht interveniert?

    Murat: Die Polizei war dort, um die pensionierten Militärs vor der Jugend zu schützen. Diese fuhren vor dem Club im Bewusstsein ihrer vermeintlichen Macht und mit der ihnen eigenen Arroganz vor, und jeder Einzelne musste von zwei Polizisten hineingeleitet werden.

    Schumann: Frau Murat, Sie haben von dem versöhnlichen Charakter der Brasilianer gesprochen, einer Haltung, die auf Ausgleich bedacht ist. Wie sind dann diese Exzesse der Gewalt während der Diktatur und auch heute von Seiten der Polizei und der Paramilitärs zu verstehen, von dem Krieg der Drogenbanden ganz zu schweigen?

    Murat: Das ist der große Widerspruch Brasiliens. Denn diese konziliante Gesellschaft – von der unser großer Soziologe und Anthropologe Gilberto Freire spricht – hat fast alle Indios umgebracht. Sie war außerdem die größte Sklavenhaltergesellschaft Lateinamerikas und hat als letzte die Sklaverei abgeschafft. Die Berichte über die Behandlung der Schwarzen sind entsetzlich.

    Schumann: Für diese Verbrechen waren doch hauptsächlich die Portugiesen in der Kolonialzeit verantwortlich.

    Murat: Aber die Portugiesen blieben im Land und haben sich in den Brasilianern fortgepflanzt. Die Sklaverei reichte noch bis weit in die Unabhängigkeit hinein. Diese wurde 1822 ausgerufen, doch die Sklaverei wurde erst 1888 abgeschafft. Diese Koinzidenz zwischen dem versöhnlichen Charakter der Brasilianer und dem Potenzial an Gewalt, das immer wieder zum Ausbruch kommt, ist auch für uns nicht leicht zu begreifen. Ich glaube, sie durchzieht unsere ganze Geschichte.

    Schumann: Die Linksregierungen …

    Murat: Was heißt denn hier Linksregierungen? Es sind konziliante Regierungen, allenfalls sozialdemokratische.

    Schumann: Also die sozialdemokratischen Regierungen, warum haben sie nie entschieden versucht, eine Wahrheitskommission wie in Argentinien oder in Chile ins Leben zu rufen? Oder Gesetze zu schaffen, um die Archive zu öffnen?

    Murat: Ich habe gerade für meinen letzten Spielfilm dieses Thema untersucht. Er handelt von einem Minister, der politischer Häftling war – so wie es inzwischen mindestens zehn solcher Fälle von heute einflussreichen Leuten gibt, die in der Guerilla oder im bewaffneten Widerstand aktiv waren. Bei diesen Recherchen habe ich festgestellt, dass es kein Zentralarchiv gibt. Auch die Militärs haben nur persönliche Archive, Aufzeichnungen, die sie bei sich zu Hause aufbewahren. Wir dürfen nicht vergessen, dass unter den Militärs verschiedene Tendenzen und innere Widersprüche konkurrierten. Als die "harte Linie" von General Medici 1974 zu Ende ging und General Geisel die Macht übernahm, wollten die Rechtsradikalen noch schnell mit den Oppositionellen Schluss machen, was die weniger Radikalen verhinderten. Bei diesen Auseinandersetzungen sollen viele Unterlagen über die schlimmste Zeit der Repression verschwunden sein. Heute kann man die Militärs nur noch zum Reden bewegen – natürlich mit demokratischen Mitteln.

    Schumann: Präsidentin Rousseff konnte im letzten Jahr nun endlich die Wahrheitskommission berufen, und diese hat ihre Arbeit aufgenommen. Gleichzeitig erschien eines der schrecklichsten Zeugnisse über die Diktatur: Erinnerungen an einen schmutzigen Krieg von Claudio Guerra, einem ehemaligen Mitglied der brutalsten Foltereinheit des Geheimdienstes.

    Murat: Einige dieser Leute haben jetzt zu sprechen begonnen. Und dieser Agent berichtet von Dingen, von denen wir niemals etwas gehört haben. Viele Leichen von Verschwundenen wurden von den "konzilianten Brasilianern" in Zuckerfabriken verheizt - wie bei den Nazis. Davon erfahren wir erst jetzt. Selbst ich, die ich lange in Haft war, habe nie etwas davon mitbekommen. In einem anderen Buch, das auch gerade publiziert wurde, wird geschildert, auf welch schreckliche Weise die Guerilla von Araguaia massakriert wurde. Alle Kämpfer wurden gefoltert, verstümmelt, enthauptet. Es war furchtbar.

    Schumann: Bei diesem Massaker von Araguaia wurden 1974 mehr als 70 Guerilleros umgebracht. Doch niemals wurde die Armee zur Verantwortung gezogen. Ist dies ein für den Umgang mit der Vergangenheit typisches Ereignis?

    Murat: Ja, denn es war die einzige Landguerilla, die es damals noch gab. Wir Studenten haben beispielsweise nur in den Großstädten gekämpft. Als das Militär diese Gruppe angriff, war der bewaffnete Widerstand längst am Ende. Die meisten, die überlebt hatten, waren bereits im Exil. Das Militär ging mit einem unvorstellbaren Sadismus gegen diese Guerilleros vor. Sie wollten wohl ein Exempel statuieren, damit sich die Bewohner der Region nie wieder mit Widerstandskämpfern solidarisierten. Doch von diesen Vorgängen weiß heute niemand mehr etwas in Brasilien. Auch ich, die ich glaubte, alle Formen der Folter erlitten zu haben, war über den tragischen Tod dieser Menschen entsetzt. Der Befehl lautete offensichtlich: sie erst langsam zu zerstören und dann umzubringen.

    Schumann: Haben denn die Familienangehörigen nichts unternommen, um wenigstens die Gräber und die sterblichen Überreste zu finden so wie das in Spanien gemacht worden ist?

    Murat: Die Angehörigen konnten einige Fälle aufklären und Gräber ausfindig machen. Sie wurden bei ihrer Arbeit sogar gelegentlich von der Regierung unterstützt. Aber es blieb für sie dennoch sehr schwierig, weil die Militärs mauerten. Auch mit der Regierung wollten die Militärs nicht zusammenarbeiten. Paulo Vannuchi, Lulas Sonderminister für Menschenrechte, hat dennoch vieles erreicht und eine unglaublich wichtige Arbeit geleistet. Er war ebenfalls im Untergrund und jahrelang im Gefängnis gewesen und auch gefoltert worden. Er hat eigentlich mit der Aufklärung begonnen: hat viele Dokumente veröffentlicht, Gesetze ausgearbeitet, Untersuchungen vorgenommen, Gespräche mit den Militärs geführt und ist immer wieder auf deren Widerstand gestoßen.

    Schumann: Haben denn die Militärs noch immer so viel Macht in Brasilien?

    Murat: Der Wirbel, den sie mitunter verursachen, ist größer als ihre Macht. Einige von ihnen haben wohl begriffen, wie wichtig es ist, dass die Gesellschaft erfährt, was geschehen ist.

    Schumann: 47 Jahre hat es gedauert, bis die Wahrheitskommission endlich aktiv werden konnte. Die vereinigte Rechte und die Militärs hatten bis zum letzten Moment versucht, das von der Regierung Lula eingebrachte Gesetz zu Fall zu bringen. Aber dann ist es doch von einer überparteilichen Allianz im Parlament durchgesetzt worden. Was ist danach geschehen, Frau Murat?

    Murat: Es hat einen feierlichen Akt mit der Präsidentin gegeben, und Dilma Rousseff hat eine sehr bewegende Rede gehalten. Sie hat zum ersten Mal die Menschen gewürdigt, die gegen die Militärherrschaft gekämpft haben. Und auch die Politiker, die sich für die Beendigung der Diktatur eingesetzt haben.

    Schumann: Aufgabe dieser Wahrheitskommission ist es lediglich, die Verbrechen zu dokumentieren. Sie darf sie nicht juristisch bewerten. Wann folgt der nächste Schritt, die Bestrafung der Täter, Gerechtigkeit für die Opfer?

    Murat: Das ist das große Problem, denn die Militärs wollen das auf gar keinen Fall. Wir müssen jetzt erst einmal sehen, was die Kommission herausfindet und wie sie mit den Dokumenten umgeht. Auch viele Angehörige der Opfer und Menschenrechtsgruppen begnügen sich zunächst mit den Untersuchungen und wollen erst danach überlegen, wie es weitergeht.

    Schumann: Seit Dilma Rousseff, die ehemalige Widerstandskämpferin, an der Regierung ist, haben verschiedene ausgediente Militärs versucht, sie zu diskreditieren. Ein Ex-General behauptete, es gäbe ein Dokument im Luftfahrtministerium, aus dem hervorgeht, dass die Guerilla-Gruppe, zu der sie gehörte, Mordanschläge gegen Armeeoffiziere geplant habe.

    Murat: Wenn dieser Militär sich noch im aktiven Dienst befände, wäre er entlassen worden. So etwas geht heute nicht mehr, das können sich nur noch Ruheständler erlauben. In meinem neuen Film lasse ich auch einen Ex-Militär auftreten und sagen, dass die Mitglieder der Stadtguerilla genauso hätten umgebracht werden sollen wie die auf dem Land, wie die von Araguaia. So hat sich tatsächlich einer dieser Pensionäre in einem Zeitschriften-Interview geäußert. Auch ich werde übrigens im Internet von solchen Leuten immer wieder als Terroristin beschimpft: "Die Terroristin Lúcia Murat hat wieder einen neuen Film gemacht, in dem sie Lügen über das Militär verbreitet."

    Schumann: Ein ehemaliger General hat ja sogar öffentlich bezweifelt, dass die Präsidentin jemals gefoltert worden ist.

    Murat: Ich erinnere mich an dieses Interview, es kommt aus der gleichen Richtung, hat aber keine wirkliche Bedeutung. Die aktiven Generäle pflegen zu schweigen. Als Dilma ihre ergreifende Rede zur Eröffnung der Wahrheitskommission hielt, waren die drei Oberkommandierenden anwesend, was sehr wichtig war, doch keiner hat eine Hand gerührt.

    Schumann: Was für Leute sind in diese Wahrheitskommission berufen worden?

    Murat: Darüber wurde ausführlich diskutiert. Die Angehörigen der Opfer wollten beispielsweise unbedingt teilnehmen, doch das wurde abgelehnt. Es sind jetzt vorwiegend Vertreter der Zivilgesellschaft in der Kommission. Das haben die Militärs zwar ebenfalls kritisiert und behauptet, einige von ihnen hätten gegen die Militärregierung gekämpft, aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Jetzt sind dort wirklich seriöse Leute vertreten: Menschenrechtler, Politiker und Intellektuelle, aber keine Militärs, denn die Kommission soll unabhängig arbeiten.

    Schumann: Spielen die Militärs heute in der brasilianischen Gesellschaft überhaupt noch eine Rolle?

    Murat: Nein, keine mehr. Das hat ja auch keinen Sinn, denn sie haben keine Macht, keinen wirklichen Einfluss auf die Politik. Und sie werden auch nicht von der öffentlichen Meinung unterstützt. Deshalb gibt es auch keinen Grund, mit ihnen über die Vergangenheit zu verhandeln. Wir müssen eine feste Position einnehmen, damit die Geschichte endlich aufgearbeitet werden kann. Wir dürfen uns nicht konziliant verhalten.

    Schumann: Der Einfluss der Militärs ist aber noch immer so groß, dass sie einen Prozess der Versöhnung blockieren können, denn sie weigern sich, daran teilzunehmen.

    Murat: Ja, sie beteiligen sich nicht. Aber sie durften ja auch bis zum 31. März des vergangen Jahres in allen Kasernen den Tag des Putsches feierlich begehen, wie wenn dies ein großartiges Ereignis in der demokratischen Geschichte Brasiliens gewesen wäre. Selbst die jungen Rekruten wurden bisher in diesem Sinn erzogen, und es wurde ihnen nicht klar gemacht, dass dies ein Staatsstreich gegen eine demokratisch gewählte Regierung war. Ihre Ausbildung soll sich jetzt ändern. In unserem gesamten Bildungswesen muss sehr viel deutlicher gemacht werden, was die Diktatur bedeutete.

    Schumann: Welche Rolle spielt denn die Kultur in dem allgemeinen Bewusstwerdungsprozess über die Diktatur? Es wurde in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eine ganze Reihe von Dokumentar- und Spielfilmen darüber gedreht. Zahlreiche Buchpublikationen sind erschienen. Es gibt verschiedene Theaterstücke. Welche Rolle spielt die Kultur bei der Aufarbeitung der Vergangenheit?

    Murat: Wenn wir heute überhaupt etwas darüber wissen, dann haben wir es durch die Kultur erfahren. Offiziell hat es keine Revision der Geschichte gegeben. Es sind auch immer nur vereinzelt Bücher publiziert und Filme gemacht worden. Es war hier nicht so wie in Argentinien oder in Chile, wo ganze Aufklärungswellen abliefen. Hier haben jahrelang tiefe Schatten über der ‘bleiernen Zeit’ gelegen, hat eine Haltung des Vergessens und der Konzilianz geherrscht.

    Schumann: Sie haben gerade von Ihrem neuen Film gesprochen, Frau Murat. Mit was für Aspekten dieser Vergangenheit haben Sie sich überhaupt in ihrem Filmschaffen beschäftigt?

    Murat: Ich bin bereits als Zwanzigjährige inhaftiert und gefoltert worden, deshalb ist diese extreme Erfahrung der Gewalt in meinem gesamten Werk präsent, auch in den Filmen, in denen ich mich nicht ausdrücklich mit der Diktatur beschäftig habe. Warum foltert ein Mensch einen anderen? Zu was ist ein menschliches Wesen fähig? Was ist das Böse? Auf diese Fragen komme ich immer wieder zurück. Über die Diktatur habe ich vier Filme gemacht. In meinem ersten langen Dokumentarfilm Wie gut es ist, dich lebend zu sehen von 1989 ging es um Frauen, die die Folter überlebt haben. Jahre später habe ich Beinahe zwei Brüder gedreht über die Beziehung zwischen einem politischen Häftling und einem Kriminellen während der Diktatur, man könnte auch sagen über die Beziehung zwischen der Mittelschicht und den Menschen in der Favela. 2011 habe ich den Film Eine lange Reise gedreht über zwei extreme Erfahrungen: meine Zeit im Gefängnis und das Leben meines Bruders als Hippie in jenen Jahren. Und gerade fertig wurde der Spielfilm Die Erinnerung, die ich mir erzähle. Darin geht es um Menschen von heute, und wie sie die Diktatur verarbeitet haben, um ihre Konflikte mit ihren Kindern und um ihre Unfähigkeit, das zu verwirklichen, was sie einmal für Utopie hielten.

    Schumann: Wie sehen Sie, die für eine andere, demokratische Gesellschaft ihr Leben riskiert hat, das heutige Brasilien, an dessen Spitze immerhin eine Frau ihrer Generation und ihrer Erfahrung steht?

    Murat: Wir haben uns alle verändert. Die Utopie ist verschwunden. Und dennoch war es wunderbar, eine Utopie zu leben. Aber ich muss auch sagen, dass diese Utopie in ihrem Kern autoritär war: diese Idee von einer marxistisch-leninistischen Regierung, der Diktatur des Proletariats, und an was wir sonst noch alles geglaubt haben. Doch unsere eigene Erfahrung von Diktatur und Gewalt hat uns von der Notwendigkeit demokratischer Mittel überzeugt. Das ändert nichts daran, dass wir jetzt im wilden Kapitalismus gelandet sind. Doch wir wissen, dass wir nur auf diesem demokratischen Weg eine gerechtere Gesellschaft verwirklichen können. Ich bin jedenfalls sehr glücklich, nicht in einer Diktatur leben zu müssen.

    Schumann: Doch trotz Demokratie ist das Brasilien von heute noch weit von dieser gerechteren Gesellschaft entfernt.

    Murat: Dieses Land ist wirklich voller Ungleichheit und Gewalt. Darüber habe ich ja meine Filme gemacht: über die Favelas, die Drogenmafia und so weiter. Den letzten Regierungen ist es jedoch gelungen, die krassen Unterschiede und die schlimmste Armut zu verringern. 25 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze sind auf den Arbeitsmarkt zurückgekehrt. Um sie müssen wir uns jetzt kümmern. Deshalb liegen unsere wichtigsten Herausforderungen heute im Bereich der Bildung und der Kultur. Nur mit ihrer Hilfe lassen sich die größten Übel leichter bekämpfen: Korruption und Gewalt. Wenn wir der Schicht, die aus der tiefsten Armut aufgestiegen ist, nicht mit Bildung und Kultur weiterhelfen, dann wird sie zur Manövriermasse von Kapitalisten, und das darf nicht geschehen. Das Land ist zweifellos vorangekommen, doch wir haben noch sehr viel vor uns.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Brasiliens Präsidenten Dilma Rousseff sicherte der Wahrheitskommission (Comissão Nacional da Verdade) zu, die Zeit der Militärdiktatur aufzuarbeiten.
    Brasiliens Präsidenten Dilma Rousseff sicherte der Wahrheitskommission (Comissão Nacional da Verdade) zu, die Zeit der Militärdiktatur aufzuarbeiten. (picture alliance / dpa / Joedson Alves)