Stefan Koldehoff: In regelmäßigen Abständen veröffentlicht der Dachverband "Börsenverein des deutschen Buchhandels" Zahlen zum Zustand der Branche. So auch jetzt wieder – für das Jahr 2019. Und aus diesen Zahlen geht hervor, dass die deutsch Stadt mit der größten Buchhandelsdichte – also den meisten Buchhandlungen in Relation zur Bevölkerung – Göttingen ist. In Berlin oder Köln zum Beispiel liegt der Schnitt deutlich darunter. "Warum Göttingen?" habe ich einen gefragt, der es wissen müsste: den Literaturwissenschaftler Professor Heinrich Detering nämlich, lehrend und lebend in – genau: Göttingen.
Heinrich Detering: Ich habe über diese Frage auch ein bisschen nachgedacht und glaube, dass hier verschiedene Faktoren zusammenkommen. Göttingen als Universitätsstadt mit wenig anderen kulturellen Angeboten ist immer schon eine literarische Stadt gewesen. Seit der Gründung im 18. Jahrhundert war Mittelpunkt und auch Ausstrahlungspunkt der Universität ja zuerst ihre weltberühmte Bibliothek. In gewisser Hinsicht hat das bis heute fortgewirkt. Dies ist eine Literatur liebende Stadt, was man zum Beispiel daran sieht, dass in dem Augenblick, in dem eine der traditionellen Universitätsbuchhandlungen vor ein paar Jahren schließen musste (wie an so vielen Orten), einzelne Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dieser Buchhandlung auf eigene Faust eine kleinere, literarische Buchhandlung ins Leben gerufen haben. Und das sofort ein großes Echo in der Stadt fand, dass es eine stabile Stammkundschaft gibt und geradezu eine Dankbarkeit dafür herrscht, dass bei uns der literarische Buchhandel eine Überlebensmöglichkeit gefunden hat. Und das gilt auch für Fachbuchhandlungen, die in den verschiedenen Teilen des Campus existieren. Das gilt für solche Dinge wie den linken Buchhandel, der eine eigene Buchhandlung hier seit den Sechziger Jahren hat und sich immer noch tapfer hält. Also, es gibt eine breit aufgestellte Buchhandelslandschaft, für die das Göttinger Publikum besonders dankbar ist.
"Hinwendung zu dem schön gemachten, gestalteten Buch"
Koldehoff: Das erste Argumente, das sie genannt haben, Herr Detering, Universitätsstadt, das war natürlich auch, dass das uns in der Redaktion als erstes einfiel. Auf der anderen Seite kaufen Studierende noch so viele Bücher, können sich das noch leisten. Ist nicht alles längst digitalisiert, und man ruft sich das Zuhause auf dem Bildschirm
Detering: Das ist in der Tat so, die Digitalisierung hat sichtlich auch im akademischen Unterricht sehr zugenommen. Ich erlebe es immer wieder, dass auch sehr engagierte Studierende ihre Texte in Literaturseminaren von einem kleinen Bildschirm ablesen und nicht mehr von bedruckten Buchseiten. Aber da hat es, zumindest bei denen, die wirklich mit Leidenschaft die literarischen Fächer studieren, in den letzten Jahren so etwas wie eine vorsichtige Trendwende gegeben, nach meinem Eindruck. Es gibt wieder eine Hinwendung zu dem schön gemachten, gestalteten Buch. Ich mache zum Beispiel gerade ein Seminar hier über Günther Grass - ein Autor eines Göttinger Verlages bis zu seinem Tode, bei Steidl – über Grass als Büchermacher. Und da geht es um die technischen, die buchkünstlerischen Aspekte der Buchgestaltung. Das findet großes Interesse. Da gibt es junge Leute, die entdecken, was eigentlich Typographie heißt, was unterschiedliche Papier- oder Einbandformen für die Wirkung eines Werkes bedeuten.
Göttingen hat eine lange Tradition als Stadt der Bücher
Koldehoff: Da denke ich bei Grass an wunderschöne Quarthefte, als er noch beim Klaus Wagenbach Verlag in Berlin unter Vertrag gewesen ist. Das heißt: Haptik, das Fühlen, das Erspüren von Literatur, von guter Literatur spielt eine Rolle?
Detering: Die Sinnlichkeit, die das Buch als Kunstobjekt haben kann, die spielt eine große Rolle. Und solche Interessen gedeihen nach meinem Eindruck besonders gut in einer Stadt, die immer schon, oder jedenfalls seit 250 Jahren, eine ausgesprochene Bücherstadt gewesen ist. Der Unterscheid vielleicht zwischen Göttingen und anderen traditionellen Universitätsstädten besteht wahrscheinlich darin, dass hier immer die Bibliothek das schlagende Herz dieser Universität gewesen ist. Natürlich ist das heute anders geworden aber noch immer wirken solche Traditionen fort. Nicht nur bei Studierenden übrigens sondern auch bei dem bildungsbürgerlichen Stadtpublikum.