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Camerino ein Jahr nach dem Erdbeben
Bröckelnde Fassaden und einstürzende Decken

Historische Gebäude gammeln vor sich hin, versperrte Straßen und hunderte unsachgemäß gelagerte Kunstwerke: Die italienische Kleinstadt Camerino ist zum Negativbeispiel für den Umgang mit Erdbebenschäden geworden. Und daran wird sich so schnell auch nichts ändern.

Von Thomas Migge | 25.12.2017
    Der eingestürzte Kirchturm der Kirche "Santa Maria" in Camerino am 28. Oktober 2016
    Der eingestürzte Kirchturm der Kirche "Santa Maria" in Camerino am 28. Oktober 2016 (ALBERTO PIZZOLI / AFP)
    Bei der Kirche Santa Maria in Via ist fast kein Durchkommen: De Straße ist immer noch blockiert von dem Geröll, das einmal der Kirchturm des barocken Gotteshaus war, dessen Struktur auf das 13. Jahrhundert zurückgeht. Während des Erdbebens stürzte der Turm auf ein benachbartes Haus. Noch heute wirkt die Szene wie nach einem Bombenangriff. Auf den Ruinen liegt Schnee. Schnee auch im Innern der Kirche.
    Mit einer Art Panzerwagen des Zivilschutzes geht es in die so genannte "Rote Zone" von Camerino: Dorthin, wo die meisten der Gebäude, aus der Zeit des späten Mittelalters bis ins 19. Jahrhundert, vom Einsturz bedroht sind. Mit von der Partie ist Giorgio Vetrelli. Der 27-Jährige ist Assistent an der Fakultät Architektur der städtischen Hochschule:
    "Wir sind eine Gruppe junger Leute, die sich um die Wiederbelebung des historischen Zentrums kümmert. Wir wollen Besuchern zeigen, wie es hier aussieht, was getan werden muss, wie schwer unsere historischen Monumente betroffen sind. Wir haben bis jetzt 103 eingetragene Mitglieder."
    Führungen durch Camerino, Konzerte auch mit bekannten Künstlern wie dem Sänger Gianni Morandi, Benefiz-Veranstaltungen in ganz Italien zur Restaurierung des historischen Ortskerns etc.: Die jungen Leute versuchen das schier Unmögliche. Unterstützt werden sie von Kunsthistorikern und Kulturpolitikern und von Giovanni De Rosa. Der Rechtsanwalt gründete eine, wie er sie nennt "Kampfzeitung zur Wiederbelebung Camerinos": Damit will er aller Welt zeigen, wie die Institutionen seine Stadt ignorieren und versprochene Restaurierungsarbeiten nicht realisieren. Die Tageszeitung "La Repubblica" nennt De Rosa und die jungen Leute von der Universität "das pochende Herz von Camerino".
    Doch ihr Einsatz scheint nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein. Die Architekturstudentin Ilaria Mattuccelli führt den Besucher durch die Stadt:
    "Wir versuchen mit unseren Projekten Klarheit zu schaffen, einen Überblick zu bekommen, was hier los ist, was nicht geschieht. Sehen Sie dort drüben die Kirche San Filipppo Neri. Das eingestürzte Kirchendach ist immer noch nicht abgedeckt. Da regnet, da schneit es hinein. Die Stuckaturen des 18. Jahrhunderts zerbröseln angesichts solcher klimatischen Bedingungen. Wir helfen dem Zivilschutz, Kunstwerke zu retten."
    Es blieb bei schönen Worten
    Nach dem schweren Erdbeben im Jahr 1997 sollten die wichtigsten historischen Gebäude von Camerino erdbebensicher gemacht werden. Es blieb bei schönen Worten. Nach den jüngsten Beben 2016 kümmerte sich niemand darum - weder der Staat, noch die Region noch die katholische Kirche - zivile und sakrale Bauwerke von historischem Wert soweit abzusichern, dass sie bei Nachbeben nicht einstürzen und nicht dem Wetter schutzlos ausgeliefert sind. Doch wieder geschah nichts. Im Gegenteil. Bis auf zwei Ausnahmen wurden sämtliche Restaurierungsarbeiten, mit denen im Spätherbst 2016 begonnen wurde, eingestellt.
    Donatella Pazzelli ist in der Stadtverwaltung für die Kulturpolitik zuständig. Wir treffen sie im Eingangsbereich des Stadttheaters Teatro Filippo Marchetti, mit Schutzhelmen auf dem Kopf:
    "Durch den schnellen Einsatz des Zivilschutzes direkt nach den Beben konnte hier der Einsturz der Decken verhindert werden, Bis jetzt, denn strukturelle Sicherheitsmaßnahmen, die historische Gebäude wie dieses auf Dauer absichern, wurden nie durchgeführt. Gefährlich sind deshalb die schweren Schneefälle".
    Die zu weiteren Einstürzen bereits beschädigter Gebäude führen.
    Streit um die Zuständigkeit
    Das Kulturministerium in Rom, die Stadtverwaltung in Camerino und die für die Sakralbauten zuständige Diözese schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu: Niemand will für nichts so richtig verantwortlich sein. Die Regierung in Rom versprach schnelle Wiederaufbau, aber auf die Worte folgten keine Taten und kein Geld.
    Noch nicht einmal die Aufräumarbeiten im Zentrum der Stadt kommen voran – und das nach über einem Jahr nach den schweren Erdbeben. Und so verfällt Camerino Tag für Tag: Historische Gebäude gammeln vor sich hin, hunderte von eingepackten Kunstwerken, die aus den vom Einsturz gefährdeten Bauwerken gerettet wurden, lagern unsachgemäß untergebracht in feuchten Magazinen. Camerino ist zum Negativbeispiel für den Umgang mit Erdbebenschäden geworden - und leider nur ein Beispiel von vielen.