Dienstag, 19. März 2024

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Canisius-Kolleg
Zehn Jahre nach Aufdeckung der Missbräuche

Der Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche kam vor zehn Jahren ins Rollen: Ende Januar 2010 machte die damalige Schulleitung des Berliner Canisius-Kollegs publik, dass an dem Gymnasium zwei Jesuitenpater unzählige Schüler missbraucht hatten. Wie geht das Kolleg mit diesem schweren Erbe um?

Von Claudia van Laak | 25.01.2020
Das Canisius-Kolleg in Berlin-Tiergarten. Ein graues Schulgebäude, davor ist eine Tafel mit dem Namen der Schule.
Engagiert sich heute stark für die Prävention gegen sexuellen Missbrauch: das Canisius-Kolleg in Berlin-Tiergarten (Picture Alliance / dpa / Schoening)
Nach der Schule wird gebolzt. Der rote Sportplatz ist eingerahmt von neuen und historischen Gebäuden, die alle Teil des Canisius-Kollegs sind. Da wohnen die Jesuiten, sagt Abiturientin Rafaela Starford und zeigt mit der ausgestreckten Hand nach links:
"Hier ist der ganze Schulbereich, dahinten ist der Bereich für die Jugendarbeit, und da ist noch die Mensa, dann haben wir noch eine alte Turnhalle."
Auf den ersten Blick eine ganz normale Schule. Wer allerdings mit dem Wissen über den Missbrauchsskandal über den Campus des Canisius-Kollegs geht, der sieht mehr. Das graue zweistöckige Gebäude am Rande der Tiergartenstraße zum Beispiel. Heute Hausmeisterwohnung, früher Tatort von Verbrechen an Minderjährigen. Hier fand die Nachmittagsbetreuung statt. Der ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs Matthias Katsch – Opfer zweier Jesuitenpater – beschreibt es in seinem Buch so:
"Pater Peter hatte Fotos aus Pornozeitschriften eingeklebt. Es folgte dann ein sehr intensives Auswertungsgespräch, an dessen Ende Pater Peter verlangte, dass ich mich in Zukunft nur noch in seiner Gegenwart selbstbefriedigte. Darauf lief es am Ende hinaus."
Matthias Katsch, ehemaliger Schüler des Canisius-Kollegs; vor der Jesuitenschule in Berlin. In dem Gebäude fanden viele der sexuellen Übergriffe auf Schüler statt.
Kollektiver Rücktritt deutscher Bischöfe wäre angezeigt gewesen
Matthias Katsch, ehemaliger Schüler am Canisius-Kolleg, löste vor zehn Jahren die Berichterstattung über sexuelle Gewalt mit aus. In einem Buch zieht er Bilanz. Die öffentliche Wahrnehmung habe befreiend gewirkt, betonte er im Dlf.
Eine Schule unter Schock
"Als wir erfahren haben, was in der Schule passiert ist, hat es auf der einen Seite ein Erschrecken ausgelöst im Kollegium. Die Frage: Wie konnte so etwas geschehen? Und wie war es vor allem möglich, dass Schülerinnen und Schüler, die sich bereits zuvor bemerkbar gemacht hatten, dass die nicht gehört wurden", sagt Schulleiterin Gabriele Hüdepohl. Das Canisius-Kolleg war in Schockstarre, das Kollegium zerrissen. Einige forderten eine rückhaltlose Aufklärung. Sie wurden als Nestbeschmutzer beschimpft von denjenigen, die mit ihrem Wegschauen und Vertuschen die Täter zuvor unterstützt hatten.
"Es gab schon auch Kollegen, die Angst hatten um die Schule, die Angst hatten um ihre Stelle, die Angst hatten, wird die Schule weiter existieren."
Einige Eltern zögerten, ihre Kinder in die Obhut von Jesuitenpatern zu geben. Als ich auf das Canisius-Kolleg kam, war das alles noch sehr präsent, erzählt Abiturientin Rafaele Starford – viele hätten ihren Eltern abgeraten.
"Ich hab dann auch Gespräche geführt mit anderen Leuten, da habe ich negative Erfahrungen gemacht. Ach, die Vergewaltigerschule, hieß es da. Was es ja gar nicht ist."
Die Strategie der Schule, um ihren Ruf zu verteidigen: den Missbrauchsskandal nicht leugnen, aber gleichzeitig klarmachen, dass die Fälle Jahrzehnte zurückliegen und nichts, aber auch gar nichts mit dem Canisius-Kolleg von heute zu tun haben. Die stellvertretende Schulleiterin Susanne Dinkelborg:
"Dass man wirklich das Gefühl hatte, das ist jetzt zu Ende, das wird nie wieder so gehen. Das war wirklich eine große Erleichterung und ich habe wirklich nur das Vorwärts gesehen."
Zehn Jahre Missbrauchsskandal
Am 28. Januar 2010 wurden die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg erstmals in der Öffentlichkeit publik. Daraus entwickelte sich der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. Was genau ist geschehen und welche Folgen hatte er? Ein Überblick.
Prävention und Aufklärung
Das Vorwärts: Das war und ist ein umfangreiches Präventionsprogramm. So lernen die Schülerinnen und Schüler früh Kinderschutzvereine kennen, Vertrauenspersonen außerhalb der Institution Schule, an die sie sich wenden können. Die Lehrerinnen und Lehrer erhalten Fortbildungen, es existiert ein Notfallplan. Schulleiterin Gabriele Hüdepohl nennt einen weiteren wichtigen Punkt:
"Dass Räume offene Räume sind und dass es nicht mehr passieren soll, dass Lehrer oder Erwachsene sich mit Kindern und Jugendlichen alleine zurückziehen, wo niemand anderes hinkommt."
Die Betroffenen sexuellen Missbrauchs erkennen an, dass sich das Canisius-Kolleg stark für die Prävention engagiert. Allein: Der Blick voraus geht nicht ohne den Blick zurück, sagt Matthias Katsch.
"Die Schule und der Orden haben es bis jetzt versäumt, tatsächlich eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Gewaltgeschichte des Canisius-Kollegs nicht nur in den 70er und 80er Jahren, sondern auch die Vorgeschichte in Auftrag zu geben, und das unabhängig machen zu lassen, das kann man nämlich nicht selber so nebenbei machen."
Heutige Schüler vertrauen der Schule wieder
Diese Forderung von Betroffenen sexuellen Missbrauchs kommt bei den Jesuiten schlecht an. In punkto Aufarbeitung sei genug geschehen, sagt Johannes Siebner, Leiter des Jesuiten-Ordens in Deutschland.
"Ich weise zurück die Unterstellung, die ständig insinuiert wird in diesen Tagen, wir hätten uns der Gewaltgeschichte am Canisius-Kolleg nicht gestellt."
Deutschlands oberster Jesuit verweist auf zwei entsprechende Berichte, die wenige Monate nach Publikwerden des Missbrauchsskandals veröffentlicht wurden. Doch beide halten sich nicht an wissenschaftliche Standards, wichtige Fragen sind bis heute unbeantwortet. Haben die beiden Serientäter vom Canisius-Kolleg zusammengearbeitet? Haben sie sich womöglich ihre Opfer gemeinsam gezielt ausgesucht, sich gegenseitig gedeckt?
All dies interessiert die heutigen Schüler wenig. Sie sind überzeugt: Unsere Schule hat aus den Fehlern gelernt.
"Dass es jetzt auf jeden Fall geschützter ist als früher."
"Heute finde ich, ist der Raum, wo so etwas passieren kann, wo Täter Opfer so beiseite ziehen können, das ist gar nicht mehr gegeben, also kann man sich das nicht wirklich vorstellen."
"Wir als Schüler ziehen daraus so eine geschärfte Sensibilität. So ein geschultes Auge für seine Mitmenschen."