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Cem Özdemir
"Wir sind nicht mehr gefährdet als andere"

Aus Sicht von Cem Özdemir hat der Bundeswehreinsatz gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" die Terrorgefahr für Deutschland nicht erhöht. "Wir waren schon vorher im Fadenkreuz der Terroristen", sagte der Grünenpolitiker angesichts des Anschlags in Istanbul im Deutschlandfunk. Im Kampf gegen den IS müsse man Mitstreiter finden, die nicht die gleichen Methoden wie die Terroristen anwenden.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Müller | 13.01.2016
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, spricht am 17.10.2015 in Bad Windsheim (Bayern) auf dem Landesparteitag der Grünen.
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir (picture alliance / dpa / Nicolas Armer)
    Der Anschlag hätte auch Menschen aus anderen Ländern der EU treffen könne. "Der Terror ist unser aller Problem, also muss auch die Antwort eine gemeinsame sein", sagte Özdemir. Der Anschlag zeige, dass der islamistische Terror alle überall und jederzeit treffen könne - unabhängig davon, wie aktiv man gegen die Terrormiliz sei.
    Deutschland sei schon lange Ziel des IS, "weil wir die Kurden aktiv unterstützen". Und es sei klar, dass "unsere Art zu leben ISIS herausfordert". Deutschland sei daher gefährdet, jedoch nicht mehr als andere. Die Hauptzielscheibe des IS seien Muslime, weil der IS die alleinige Herrschaft im sunnitischen Islam anstrebe.
    Im Kampf gegen den IS dürfe man nun "nicht den Verstand verlieren". Die militärische Bekämpfung des IS sei nötig, trotzdem habe er im Bundestag gegen den Einsatz gestimmt, sagte Özdemir. Denn in diesem Kampf gebe es fragwürdige Mitstreiter: Wladimir Putin in Russland, Baschar al-Assad als syrischer Machthaber und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dem Özdemir einen "Parallelkrieg" gegen die kurdische Bevölkerung vorwarf. Zudem müsse der IS auch ideologisch bekämpft werden. Die Wurzeln lägen im Wahhabismus in Saudi-Arabien. "Und davor drückt sich die Bundesregierung."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Der Anschlag in der Türkei, der Kampf gegen den IS - unser Thema nun mit Grünen-Parteichef Cem Özdemir. Guten Morgen.
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Özdemir, die Opfer von Istanbul, bezahlen sie den Preis für die deutschen Tornado-Einsätze?
    Özdemir: Es zeigt jedenfalls, der islamistische Terror von ISIS kann alle jederzeit und überall treffen. Wir wissen es ja nicht genau, ob Deutsche tatsächlich das Ziel waren, aber es hätte auch Touristengruppen aus jedem anderen Land der Europäischen Union treffen können. Das heißt, unabhängig davon, wie aktiv man im Kampf gegen ISIS ist, ob man überhaupt im Kampf gegen ISIS beteiligt ist, egal ob man Christ, Muslim, Jude ist oder Atheist oder was auch immer, es kann alle treffen. Also muss spätestens jetzt klar sein: Der islamistische Terror ist nicht nur ein Problem von Syrien und von Irak, er ist unser aller Problem. Also muss auch die Antwort eine gemeinsame sein.
    Es kann alle überall treffen
    Müller: Ist die Terrorgefahr in Deutschland gegen Deutsche durch den deutschen Einsatz gestiegen?
    Özdemir: Wir sind schon lange auch im Fadenkreuz von ISIS, nicht nur, weil wir die Kurden aktiv unterstützen, was richtig ist, was wir als Opposition auch ausdrücklich unterstützen. Aber es ist klar, dass unsere Art zu leben auch ISIS logischerweise herausfordert. Aber man darf nicht vergessen: Hauptzielscheibe von ISIS sind nach wie vor Muslime selber, denn sie wollen die Herrschaft innerhalb des sunnitischen Islams, und die Hauptopfer sind erst mal Muslime, die diese Perversität innerhalb des Islams nicht teilen. Denken Sie an die vielen Schiiten, denken Sie an die vielen Sunniten, die anderen Strömungen des Islams angehören. Aber es ist völlig willkürlich: Es kann - ich sage es nochmals - alle überall treffen. Deshalb müssen wir uns darauf einstellen, das wird ein langer Kampf gegen ISIS, und wir sind da nicht Zuschauer.
    Müller: War das, Herr Özdemir, ein bisschen Ja auf die Frage, sind die Deutschen jetzt besonders gefährdet?
    Özdemir: Wir sind nicht mehr gefährdet wie alle anderen auch, aber wir sind auch gefährdet.
    Müller: Und Sie können das als Politiker verantworten, gegen den IS im Parlament, parlamentarisch, mit parlamentarischer Zustimmung vorzugehen, mit Tornadoeinsätzen, wie auch immer sich an der Koalition zu beteiligen und dann in Kauf zu nehmen, dass die Anschläge gegen Deutsche wahrscheinlicher werden?
    Özdemir: Ich könnte es nicht verantworten, wenn wir zuschauen, während ISIS dort nicht nur Kulturgüter zerstört, sondern das Ostchristentum vernichten möchte, die Jesiden, eine jahrtausendealte Kultur ausrottet, zugleich aber eine Schreckensherrschaft errichtet mit barbarischen Methoden und, wie wir sehen, ja den Anspruch hat - deshalb haben sie auch ihren Namen geändert -, der über den Irak, über Syrien hinausgeht, sei es in Mali, sei es in Libyen, sei es aber auch in Europa - denken Sie an die jungen Menschen, die hier rekrutiert werden - versucht, für den Kampf zu gewinnen. Aber ich habe dem Einsatz nicht zugestimmt und habe an den Argumenten natürlich auch nichts geändert, weil ich ein großes Problem damit habe, dass jetzt versucht wird, eine Allianz zu bilden nach dem Motto, alle die gegen ISIS irgendwie sind oder sagen, dass sie es sind, sind jetzt mit dabei. Das ist dann halt auch ein Herr Putin, der Leute bombardiert, die mit ISIS wenig zu tun haben. Das ist dann möglicherweise auch ein Assad, der eine der Ursachen dafür ist, dass es ISIS gibt, indem er nämlich seine Zivilbevölkerung mit Fassbomben, mit Aushungern von Städten in die Arme von ISIS treibt.
    Man wird ISIS nicht militärisch besiegen können
    Müller: Aber Sie sind ja nicht gegen den Kampf. Sie sind ja nicht gegen den bewaffneten militärischen Kampf gegen ISIS.
    Özdemir: Nein, ausdrücklich nicht. Ich glaube nicht, dass man ISIS nicht militärisch wird besiegen können. Es gibt auch nichtmilitärische Komponenten, über die man zu wenig spricht. Aber das Militär kann man nicht ausschließen. Wir müssen aber natürlich auch die ideologischen Wurzeln von ISIS bekämpfen, und da landen wir bei unangenehmen Themen, nämlich dass das, was ISIS propagiert, seine Wurzeln in Saudi-Arabien, im dortigen Wahhabismus hat.
    Müller: Ist das richtig von der Politik, vor allem von Seiten der Bundesregierung, ein solches Risiko einzugehen, dieses militärische Engagement einzugehen und der Bevölkerung nicht klipp und klar zu sagen, wenn wir das tun, steigt die Terrorgefahr?
    Özdemir: Noch mal: Die Terrorgefahr gibt es auch davor.
    Müller: Steigt die Terrorgefahr?
    Özdemir: Überall wo wir uns bewegen, innerhalb wie außerhalb von Deutschland, könnte es sein, dass ISIS-Kämpfer zuschlagen. Aber sie steigt dadurch möglicherweise, und das muss man ehrlicherweise sagen. Man muss aber auch ehrlicherweise sagen, dass wir ISIS nicht uns auf den Mond wünschen können. Sie existieren und wir haben jetzt gesehen, diese Gefahr ist eine reale Gefahr, die uns treffen kann. Es gibt keine Alternative dazu, ISIS zu bekämpfen. Aber im Kampf gegen ISIS dürfen wir den Verstand nicht verlieren. Wir dürfen nicht jeden an unsere Seite stellen, nur weil er da gerne stehen möchte, sondern wir müssen schauen, dass die, die ISIS mit uns bekämpfen, nicht Leute sind, die mindestens genauso schlimme Methoden anwenden. Ich will mal sagen: Das was Herr Erdogan in der Türkei im Südosten gegen die Kurden macht, unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was Assad gegenwärtig mit seiner eigenen Zivilbevölkerung macht. Es geht auch darum, die eigene Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Und ich will auch das sehr deutlich sagen: ISIS kann man militärisch, muss man militärisch bekämpfen. Aber man muss sie auch bekämpfen in ihrer Ideologie, und da muss man sich mit dem Wahhabismus auseinandersetzen. Davor drückt sich Berlin.
    Eine Ergebenheitsadresse Berlins wird es nicht geben können
    Müller: Wir können uns aber auch Erdogan nicht auf den Mond wünschen.
    Özdemir: Nein! Erdogan ist ein gewählter Präsident. Da haben Sie Recht. Und auch eine Regierung, der wir angehören würden als Grüne, müsste ehrlicherweise mit Erdogan reden über die Flüchtlinge. Aber reden heißt nicht, dass man ihm einen Platz im deutschen Kabinett anbietet. Reden heißt nicht, dass Erdogan auch die deutsche Politik bestimmen darf. Reden heißt nicht, dass Erdogan die Tagesordnung des Deutschen Bundestages mitbestimmt.
    Müller: Tut er das denn?
    Özdemir: Ja, das tut er, indem die Große Koalition beispielsweise eine Resolution zur Armenier-Frage zurückzieht beziehungsweise nicht mit der Opposition gemeinsam, wie ursprünglich vereinbart, macht, weil Herr Erdogan das nicht wünscht. Eine Ergebenheitsadresse Berlins gegenüber Ankara oder Erdogan oder Assad oder wem auch immer ist nicht notwendig.
    Müller: Die Flüchtlingspolitik heilt die Wunden?
    Özdemir: Die Flüchtlingspolitik muss dazu führen, dass wir den Nachbarländern, die hauptsächlich betroffen sind, helfen bei der Unterbringung von Flüchtlingen, damit auch der Türkei. Aber sie darf nicht dazu führen, dass wir Menschen wie Herrn Erdogan alles durchgehen lassen, was er im eigenen Land macht, und übrigens auch im Kampf gegen ISIS. Die Türkei muss unzweideutig spätestens jetzt nach dem Anschlag - und sie ist ja nicht zum ersten Mal getroffen - deutlich machen, dass sie sich konzentriert auf den Kampf gegen ISIS und nicht noch einen Parallelkrieg führt gegen die Kurden.
    Müller: Grünen-Parteichef Cem Özdemir heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben.
    Özdemir: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.