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Politik und Sport in China
Spielfeld für Nationalismus

In weniger als einem Monat beginnen in Peking die Olympischen Winterspiele 2022. Seit mehr als 70 Jahren ist Sport in der Volksrepublik eine Plattform für Patriotismus und Nationalismus. Fast immer mussten sich prominente Sportler dabei dem Kollektiv unterordnen.

Von Ronny Blaschke | 09.01.2022
Drei Polizisten der Volksrepublik China marschieren durch ein Veranstaltungsort der Olympischen Winterspiele 2022 in Peking. Sie tragen grüne Uniformen und weiße Masken.
Nichts dem Zufall überlassen: In Peking laufen die Vorbereitungen für die Olympischen Winterspiele im Februar 2022. (Imago / Kyodo News)
Nach dem Chinesischen Bürgerkrieg gründen die Kommunisten 1949 die Volksrepublik. Die unterlegenen Nationalisten fliehen auf die Insel Taiwan. Zunächst gilt Taiwan als internationale Repräsentanz des "wahren Chinas", auch bei den Vereinten Nationen. Aus Protest zieht die Volksrepublik ihre Sportler von den Olympischen Spielen 1956 zurück und tritt 1958 aus dem IOC aus.
Die Volksrepublik konzentriert sich auf nationale Wettbewerbe. 1956 bricht der Gewichtheber Chen Jingkai den Weltrekord seines amerikanischen Konkurrenten Charles Vinci. Ein Jahr später stellt die Hochspringerin Zheng Fengrong ebenfalls einen Weltrekord auf. In der Geschichtsschreibung gelten ihre Titel als "wichtige Errungenschaften der sozialistischen Modernisierung".
1966 tritt Diktator Mao die Kulturrevolution los, einen radikalen Umbruch mit Millionen Todesopfern. Der heimische Elitesport wird als „bürgerliche Ideologie“ und "kapitalistische Praxis“ dämonisiert. Rotgardisten attackieren prominente Sportler, Trainer, Funktionäre. Sie zerstören Trophäen und Medaillen. Mehrere Tischtennisspieler, die in den Fünfziger und Sechziger Jahren als Helden verehrt wurden, begehen Suizid.

Hunderte Fußballfans randalieren in Peking

Anfang der Siebziger Jahre bestehen zwischen den USA und der Volksrepublik noch keine diplomatischen Beziehungen. 1971 findet die Tischtennis-WM im japanischen Nagoya statt. Versehentlich steigt der US-Spieler Glenn Cowan in einen Bus mit chinesischen Spielern. Sie kommen ins Gespräch und vereinbaren Freundschaftsspiele. Einige Monate später besucht US-Außenminister Henry Kissinger erstmals die Volksrepublik, 1972 folgt ihm Präsident Richard Nixon. Die Geburt der „Pingpong-Diplomatie“.
Nach zwei Jahrzehnten Isolation tritt die Volksrepublik 1979 dem IOC bei. Auf Druck Pekings wird Taiwan ins Abseits gedrängt. Der Inselstaat darf als „Chinese Taipeh“ weiter an Olympia teilzunehmen. Möglich wird das durch die Doppeldeutigkeit des Namens: Die Volksrepublik betrachtet Taipeh als Stadt Chinas. Dagegen schreibt Taiwan dem Adjektiv „Chinese“ keine staatliche, sondern eine kulturelle Bedeutung zu. Bei Olympia tritt das demokratische Taiwan mit einer neutralen Flagge und Hymne an.
1984 verabreden London und Peking die Rückgabe der britischen Kronkolonie Hongkong an China für 1997. Sechs Monate später treffen in Peking die Fußballnationalteams der Volksrepublik und von Hongkong aufeinander. Mit einem Sieg können die Chinesen die Qualifikation für die WM 1986 fast sicherstellen, es wäre ihre erste. Doch sie verlieren gegen den Außenseiter und scheitern. Hunderte chinesische Fans ziehen durch das Botschaftsviertel und randalieren.

In Teamsportarten meist Mittelmaß

2011 gewinnt die Chinesin Li Na als erste asiatische Tennisspielerin ein Grand-Slam-Turnier, die French Open. In ihrer Rede bedankt sich Li bei Sponsoren, Betreuern und Fans, doch ihre Heimat erwähnt sie nicht. Später sagt sie gegenüber Journalisten, dass sie nicht für ihr Land gewonnen habe, sondern für sich selbst. Viele Chinesen bezeichnen Li als unpatriotisch und undankbar. Noch heute spielt sie in der Geschichtsschreibung eine untergeordnete Rolle.
2015 reist Staatspräsident Xi Jinping nach Großbritannien. Auf einem Stadionfoto in Manchester lächelt er neben dem britischen Premierminister David Cameron und dem Fußballer Sergio Agüero. Fortan investieren chinesische Unternehmen im heimischen und internationalen Fußball. Handelsnetzwerke entstehen. So sind chinesische Firmen an den Stadionbauten für die WM in Katar in diesem Jahr beteiligt. Die Volksrepublik möchte die WM 2030 austragen, doch ihr Fußball verharrt im Mittelmaß.
Für die Begrenzung des Bevölkerungswachstums dürfen chinesische Familien zwischen 1979 und 2015 nur ein Kind bekommen. Viele Eltern wollen nicht riskieren, dass sich ihr Nachwuchs in robusten Teamsportarten verletzt. Als Weg zu Wohlstand wird Bildung betrachtet. Jahrelang geht es für Jugendliche darum, an die besten Universitäten zu kommen. Unter diesem Wettbewerbsgedanken leidet wohl auch die Teamfähigkeit im Sport leidet. Die meisten Olympiamedaillen gewinnen chinesische Athleten in Einzeldisziplinen.

Strafen für Tätowierungen

2018 besucht Xi Jinping in Dakar das neue Nationalstadion für Ringen, einen beliebten Sport im Senegal. Die Volksrepublik hat in mehr als hundert Ländern über 2000 Infrastrukturprojekte gefördert. Regierungsgebäude, Bahnhöfe, Krankenhäuser. Und auch mehr als 100 Stadien, zwei Drittel davon in Afrika. Mit dieser „Stadiondiplomatie“ möchte sich Peking vor Ort Rohstoffe und politische Loyalität sichern. Doch häufig werden die Bauten gar nicht gebraucht, und lokale Arbeitskräfte bleiben außen vor.
Seit Jahren werden Freiheitsrechte in Hongkong zurückgedrängt. Mehrfach hatten Fans dort bei Fußballspielen die chinesische Hymne ausgebuht. Nach Einführung eines neuen Gesetzes könnte ein solcher Protest nun mit Gefängnis bestraft werden. Im Februar 2021 wird in Hongkong gegen 47 Aktivisten der Demokratiebewegung Anklage erhoben. In den Wochen danach stehen Fußballfans bei Spielen in der 47. Minute auf und applaudieren.
Die Kommunistische Partei möchte mit Sport die Disziplin der Nation vermitteln. Einige Sportler erhalten Sperren, weil sie ihre Tätowierungen nicht abgedeckt oder sich während der Nationalhymne ins Gesicht gefasst haben. 2018 versammelt der chinesische Fußballverband fünfzig Jungprofis in einem Militärcamp. 2020 fordert das Bildungsministerium von Schulen die Einstellung pensionierter Sportler, um „die Männlichkeit der Schüler zu kultivieren“. Die Winterspiele sollen dem chinesischen Nationalismus nun die nächste große Bühne bereiten.