Freitag, 19. April 2024

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Christen in der friedlichen Revolution
"1989 war ein Wunder"

Im Sommer 1989 war nicht abzusehen, "dass ein bis an die Zähne bewaffnetes diktatorisches Regime zusammenbricht", sagte der Theologe Thomas Seidel im Dlf. "Dafür gibt es kein anderes Wort als das Wort Wunder". Diese Revolution hatte, so Seidel, "eine sehr stark protestantische Signatur".

Thomas A. Seidel im Gespräch mit Andreas Main | 26.08.2019
DDR-Bürger mit Transparenten vor der Gethsemanekirche 1989.
Die Gethsemanekirche in Ostberlin war ein wichtiger Treffpunkt für DDR-Bürger während der friedlichen Revolution. (picture alliance / Chris Hoffmann)
Andreas Main: Wer hatte damals damit gerechnet, dass so viele Menschen in der DDR so viel riskieren würden, um ein ungeliebtes Regime loszuwerden? Aber sie taten es. Dass das möglich wurde, hat auch damit zu tun, dass übers ganze Land verteilt Kirchengemeinden sich öffneten für diese oppositionellen Christen und Nicht-Christen. Hier wurde ihnen eine Kraft zuteil, die das Unmögliche möglich machte. Gerät in Vergessenheit, welche Rolle die Kirche spielte in der Friedlichen Revolution? Wird da - in geschichts- und religionsvergessener Zeit etwas verdrängt oder ignoriert, was wichtig wäre für den gesellschaftlichen Frieden in diesem Land?
Darüber spreche ich mit Thomas A. Seidel. Er ist evangelischer Theologe und Historiker, er schreibt viel und er ist geschäftsführender Vorstand der Internationalen Martin Luther Stiftung. Er ist 60 Jahre alt, 1958 geboren im sächsischen Neukirchen in der Nähe von Zwickau. 1989 - im entscheidenden Jahr - war er tätig als Gemeinde- und Kreisjugendpfarrer in Ollendorf - einem Dorf mit 400 Menschen zwischen Weimar und Erfurt. Thomas Seidel - also wahrlich ein Mann der Basis. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet. Thomas Seidel, schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Guten Morgen, Herr Seidel.
Thomas A. Seidel: Einen schönen guten Morgen.
Main: Herr Seidel, welches Ereignis in jenen Tagen des Jahres 1989, als Sie Kreisjugendpfarrer waren, hat Sie besonders ergriffen und prägt Sie bis heute?
Der evangelische Theologe und Historiker Thomas A. Seidel
Der evangelische Theologe und Historiker Thomas A. Seidel (Kultusministerium Thüringen / Andreas Müller)
Seidel: Dieses Jahr ist so voller besonderer Ereignisse, dass ich gar nicht so richtig weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht fange ich mal mit den Diskussionen und Auseinandersetzungen an, die innerhalb des Pfarrkonventes damals eine Rolle spielten, schon im Frühjahr, im Nachgang zu den Kommunalwahlen. Da war es so, dass einige Kolleginnen und Kollegen - oder Schwestern und Brüder, wie wir zu sagen pflegten – doch recht engagiert gewesen sind. Sie haben sich gegenüber den staatlichen Organen zu dem Wahlbetrug geäußert.
Das hatte in meinem Falle die Folge, dass der damalige Superintendent mir ein Disziplinarverfahren androhte, das dann allerdings im Herbst des gleichen Jahres wieder zurückgenommen wurde. Das ist jetzt vielleicht ein bisschen weitschweifig. Vielleicht mache ich es einfach mal punktgenauer und nenne zwei Daten, die für dieses Jahr für mich in besonderer Weise emotional eine Rolle gespielt haben. Das eine ist der 9. Oktober. Da war ich in Vilnius, 1989. Und das andere ist der 9. November.
"Minuten, die man sein ganzes Leben lang nicht vergisst"
Der 9. Oktober in Vilnius bei Freunden, wir sind – meine Frau und ich – mit dem Zug da hingefahren. In Vilnius selber bei den Freunden waren wir natürlich begierig darauf zu hören, was passiert denn eigentlich in der DDR. Wir haben Radio gehört, die Deutsche Welle, und hörten am 9. Oktober von dem, was man heute das Wunder von Leipzig nennt, dass über 70.000 Menschen auf dem Leipziger Ring demonstrierten. Wir waren so gerührt, alle zusammen. Und ich habe es offen gestanden nicht für möglich gehalten, dass so viele Menschen diesen Mut aufbringen und so offen da auch demonstrieren.
Das zweite Ereignis war der 9. November: der Tag, an dem die Mauer fiel. Wir hatten im Gemeindesaal im Gasthof "Zur Linde" in Ollendorf eine Bürgerversammlung, zu der der zuständige Genosse aus dem Kreis gesprochen hat. Und als er gerade seine Rede beendet hatte und die Diskussion munter losging, stürmte sein Fahrer in den Saal und sagte: "Die Mauer ist gefallen. Die Grenze ist offen." Wir wollten es gar nicht glauben. Also, das sind zwei Stunden oder Minuten oder so, die man wahrscheinlich sein ganzes Leben lang nicht vergisst.
"Wahnsinn" oder "Wunder"
Main: Der Essayist und Philosoph Sebastian Kleinschmidt hat in dieser Sendung die Friedliche Revolution vor 30 Jahren als ein "Wunder" bezeichnet. Sie haben das eben auch gerade getan. Kleinschmidt meinte ein Wunder im Sinne von Ausnahme. Wenn Sie die Demonstrationen 1989 auch als Wunder bezeichnen, in welchem Sinne?
Seidel: Genau in diesem Sinne wie Sebastian Kleinschmidt. Es sind Ausnahmesituationen. Es war noch im Frühjahr/Sommer 1989 noch nicht absehbar, ob sich eine größere Anzahl von einfachen Menschen in der DDR wirklich wagen würde, zu demonstrieren und auf die Straße zu gehen. Dass das passierte, und dass es im Vorfeld auch immer wieder Einzelne gab, die in den verschiedenen Oppositionsgruppen Mut bewiesen haben, glaube ich, kann man natürlich auch als eine Art von Selbstermächtigung beschreiben.
Menschen strömen vom Westteil Berlins zum Übergang Potsdamer Platz. Nach der Maueröffnung durch die DDR wurde drei Tage später, am 12.11.1989, am Potsdamer Platz ein neuer Grenzübergang eingerichtet.
Fall der Berliner Mauer: der 12.11.1989 am Potsdamer Platz. (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
Aber, dass es dann auch zum Erfolg führte und ein bis an die Zähne bewaffnetes diktatorisches Regime zusammenbricht, nicht nur in der DDR, sondern im ganzen vormaligen Ostblock, dafür gibt es eigentlich aus meiner Sicht kein anderes Wort als das Wort "Wunder". Damals redeten alle von "Wahnsinn". Das war sozusagen der Ruf vieler. Das ist für mich einfach nur eine andere Umschreibung des gleichen Wortes – Wunder.
"Kräfte, die unsere eigenen übersteigen"
Main: Benutzen Sie das Wort jetzt in diesem Zusammenhang eher alltags- und umgangssprachlich oder deuten Sie das auch theologisch?
Seidel: Als Theologe und als gläubiger Christ deute ich das natürlich auch vor diesem Hintergrund, also an der biblischen Botschaft, und würde sagen, dass wir als Menschen zwar eine ganze Menge tun können und auch herausgefordert und aufgefordert sind, verantwortlich zu leben und das Leben zu gestalten, aber dass vieles von dem, was geschieht, in unserem ganz privaten Leben, aber auch im gesellschaftlich-politischen Leben, angewiesen ist auf Kräfte, die unsere eigenen übersteigen. Davon bin ich überzeugt.
"Ein völlig sklerotisiertes System"
Main: Was waren die wundersamen Eckpunkte, die dazu geführt haben, dass die Geschichte zu jener Geschichte wurde, die wir heute erzählen?
Seidel: Zunächst eben ganz Unspektakuläres, nämlich, dass in vielen Kirchen, nicht nur in Leipzig, sondern eben auch auf dem Lande, in Mitteldeutschland, aber auch in Mecklenburg, Menschen sich Woche für Woche zu den sogenannten Montagsgebeten versammelt haben und ganz einfach das getan haben, was nach Martin Luther das Handwerk eines Christenmenschen ausmacht, nämlich zu beten.
Sie haben sich versammelt. Sie haben gebetet. Sie haben danach miteinander gesprochen und sie haben ihre Frustration, ihren Ärger, ihre Verzweiflung über ein in sich völlig sklerotisiertes System ausgetauscht.
Sie haben über ihre Hoffnung gesprochen und sind dann im Herbst des Jahres 1989 aus diesen Kirchen heraus auch auf die Straße gegangen. Und das sind sozusagen die kleinen Kristallisationspunkte, von denen aus heraus sich die Friedliche Revolution entwickelt hat.
Main: Wehte aus Ihrer Sicht damals ein Wind durch die Kirchen, den Sie mit Ruach, dem Wind der Bibel, gleichsetzen würden, also mit Geist, Wind, Atem und im Neuen Testament dann mit Heiligem Geist?
Am Montag, dem 9. Oktober 1989, findet nach dem Montagsgebet in der Nikolaikirche die historische, friedliche Montagsdemonstration mit über 70.000 Teilnehmern statt. Schweigend und ohne Transparente ging es vom Karl-Marx-Platz um den Leipziger Innenstadtring - im Bild am so genannten Blauen Wunder, einer Fußgängerbrücke am Richard-Wagner-Platz, unmittelbar neben dem Konsument-Kaufhaus "Blechbüchse".
Am 9. Oktober 1989 findet nach dem Montagsgebet in der Nikolaikirche die historische, friedliche Montagsdemonstration mit über 70.000 Teilnehmern statt (dpa-Zentralbild)
Seidel: Ich glaube schon, dass es so etwas war wie ein – die Theologen sagen - ein Kairos, ein besonders gefüllter Zeitabschnitt. Ich habe das immer wieder auch mal erlebt, nicht nur in meinen eigenen Gemeinden in Ollendorf und Großmölsen und Ballstedt – das waren die Dörfer, für die ich zuständig war – sondern auch in anderen Gemeinden, dass in einer solchen Situation das Wort der Bibel, der Heiligen Schrift, oftmals so klar war und so unmittelbar zu den Menschen gesprochen hat, wie zum Beispiel die Befreiung de Volkes Israel aus der Knechtschaft Ägyptens. Die Menschen waren – wie soll ich sagen? – davon direkt angesprochen im Kopf und im Herzen.
"Wir wurden vorgeführt als Christen, die Schwachsinn glauben"
Main: Thomas Seidel, evangelischer Theologe in Weimar, im Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft". Herr Seidel, die Rolle von Theologie und Kirche in der Friedlichen Revolution 1989, das lässt sich abstrakt analysieren. Wir haben uns für diesen sehr persönlichen Einstieg entschieden. Zu Ihrer Person, um so einen Lebensweg besser verstehen zu können und vielleicht auch als Beitrag, dass DDR-Biografien angemessen gewürdigt werden: Prägend war für Sie, dass Ihre Eltern überzeugte Christen waren. Welche Auswirkung hatte das auf Sie?
Seidel: Ja, meine Eltern haben ihr ganz formelles evangelisches Christsein sehr ernst genommen und haben das getan, was Luther eben "Mit Ernst Christ sein …" nennt.
Für mich und meinen Bruder hatte das zur Folge, dass wir nicht Mitglieder dieser Kinder- und Jugendorganisationen, also der Pioniere oder der FDJ wurden. Das hatte natürlich in der Schule immer wieder mal auch Konflikte zur Folge. In meiner Klasse waren wir etwa vier, die nicht Pioniere gewesen sind.
Ich kann mich gut erinnern, dass wir so etwa in der Mitte der Schulzeit, also so in der 5. Klasse von der damaligen Klassenlehrerin, die eine ziemlich scharfe Verteidigerin des real existierenden Sozialismus war, versuchsweise vorgeführt wurden als Christen, die ja doch an irgendwelchen Schwachsinn glauben.
Das alles prägt, aber genauso prägt auch natürlich das Positive im Sinne einer gemeindlichen Eingebundenheit in der Kirchgemeinde in Werdau, wo ich damals wohnte und lebte. Eine Zeit, die, glaube ich, zur Persönlichkeitsbildung Wesentliches beigetragen hat.
"Kein Ingenieur-Studium, sondern Elektromonteur"
Main: Der Staat hat dann alles getan, um Ihnen so viele Steine in den Weg zu legen wie irgend möglich. Sie bekamen – wie so viele – die Quittung fürs Christsein, nämlich massiv beschränkte Ausbildungsmöglichkeiten. Was passierte genau?
Schulalltag in der DDR - Schüler im Unterricht an der 6. Polytechnischen Oberschule Karl-Friedrich-Schinkel in Berlin
Christliche Kinder und Jugendliche mussten damit rechnen, dass ihnen Bildungswege vermauert werden (Imago / Seeliger)
Seidel: Also, die Möglichkeit auf die erweiterte Oberschule, also zu wechseln, einen Gymnasiumsabschluss zu machen, wie das heute heißt, sozusagen das Abitur zu machen, wurde mir verwehrt, obwohl die Leistungen dafür mehr als ausgereicht hätten. Am Ende der 10. Klasse wurde ich erstaunlicherweise auf Auszeichnung geprüft. Das heißt also, dass ich in fünf Prüfungen, mündliche Prüfungen, kam, um dann am Ende einen Zensuren-Durchschnitt von 1,0 zu erreichen. Das hat …
Main: Nicht schlecht.
Seidel: Das hat sogar geklappt. Die damit verbundene Auszeichnung, die auch eine Prämie zur Folge gehabt hätte von – ich glaube – 400 DDR-Mark – das war relativ viel für einen Schüler – wurde dann doch abgesagt.
Mein Klassenlehrer war sichtlich betreten, als er mir mitteilte, dass er auf höhere Weisung hin diese Auszeichnung nicht verleihen konnte. Das war schon ein bisschen frustrierend, denn das Geld war für den Urlaub schon gut verplant.
Aber viel schlimmer war, dass die Versuche dann, ein Ingenieur-Studium zumindest aufzunehmen, alle fehlschlugen und ich dann letztlich – was auch kein Drama war, aber doch eben zunächst aus meiner Frustration in dem Betrieb, in dem mein Vater tätig war, nämlich im VEB Starkstrom-Anlagenbau Leipzig-Halle, den Beruf eines Elektromonteurs gelernt habe. Das war so nicht beabsichtigt, aber war so im Rückblick betrachtet auch ganz in Ordnung.
Main: Dann nach der Zeit als Elektromonteur, die auch ganz in Ordnung war, sind Sie doch ins Studium eingestiegen, aber eben nicht ein technisches, sondern das der Theologie. Also, für Nachgeborene oder westdeutsch sozialisierte Menschen müssen Sie das mal erklären. Wie war das dann doch plötzlich möglich und warum?
Seidel: Ich habe zu dieser Zeit mit den Kindern des damaligen Superintendenten Musik gemacht. Wir hatten so eine Art Sacro-Pop-Band, würde ich das heute mal nennen. Und eines Tages fragte mich der Superintendent Wartenberg, ob ich Interesse hätte, Theologie zu studieren. Ich habe gesagt, ich weiß zwar nicht genau, was das ist, aber klingt reizvoll. Und so sind wir beide zusammen nach Leipzig gefahren. Und da gab es zwei Möglichkeiten, wie übrigens an anderen Orten der vormaligen DDR auch. Also, es gab die Möglichkeit, an der Karl-Marx-Universität "Sektion Theologie" zu studieren oder an einer kirchlichen Hochschule, dem "Theologischen Seminar". Ich habe mich für Letzteres entschieden und habe es auch nicht bereut und habe dann von 1979 bis 1986 Theologie studiert.
"Die Welt ist buchstäblich zugenagelt, zugemauert"
Main: Wie war die kirchlich-gesellschaftliche Stimmung während Ihres Studiums, also jetzt speziell in den Jahren vor 1989? War da etwas spürbar von dem, was kommen würde?
Seidel: Also, ich habe sozusagen die 80er-Jahre eigentlich eher so als eine Zeit auch der Depression erlebt. Die Vorgängergeneration sozusagen, die Generation unserer Lehrer, auch der theologischen Lehrer, war immer noch stark verletzt und geprägt durch die Ereignisse wie Ungarn 1956, die Niederschlagung dort der Bewegung, oder auch schon 1953, die Niederschlagung sozusagen des Aufbegehrens in der DDR. Aber auch 1968.
Alle diese Ereignisse haben für diese Generation gezeigt: Es hat eigentlich keinen Sinn. Die Welt ist so buchstäblich zugenagelt, zugemauert. Sodass also ein Großteil eigentlich dieser älteren Generation mehr oder minder resigniert hatte oder zumindest vorsichtig war ob dieser Erfahrungen.
Ein Großteil der DDR-Bevölkerung nutzte die Zeit, um sich einzurichten in den kleinen Nischen des Privaten. Man versuchte, sich das Leben nett zu machen, oder man reiste eben quasi via Fernseher abends dann in den Westen aus – bevor es dann nach 1989 physisch möglich wurde.
"Eine protestantische Revolution"
Main: Thomas Seidel, evangelischer Theologe in Weimar. Wir erinnern an jene Friedliche Revolution, die sich in den Staaten Ost-Mittel-Europas und in der DDR vollzog vor 30 Jahren. Wir sind bisher, Herr Seidel, vor allem auf Ihre persönlichen Erfahrungen eingegangen. Wie zentral ist aus Ihrer Sicht aufs Ganze gesehen die christliche Signatur dieses Geschehens?
Bürger der DDR treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche.
Bürger der DDR treffen sich am 05.02.1988 nach den Äußerungen des inhaftierten Musikers Stephan Krawczyk zu einem Fürbitt-Gottesdienst in der überfüllten Ostberliner Gethsemane-Kirche. (picture alliance / dpa)
Seidel: Erhart Neubert, der Theologe und auch Bürgerrechtler, später dann, glaube ich, auch Mitglied der CDU, hat diese Revolution einmal "eine protestantische Revolution" genannt. Das ist jetzt vielleicht ein bisschen übergriffig, aber in der Sache doch nicht ganz falsch, weil die allermeisten Akteure mindestens sozusagen aus dem protestantischen Milieu stammten.
Es gab natürlich auch Menschen, die sich keiner Kirche zugehörig fühlten und die aktiv in verschiedenen Umwelt- oder Friedensgruppen mitgemacht haben. Auch katholische Geschwister haben sich engagiert.
Aber insgesamt hat diese Revolution doch eine sehr starke protestantische Signatur, von der ich mir wünsche, dass sie jetzt 30 Jahre danach noch mal nachgezeichnet wird.
"Protestantisches Gewissheitspathos, das für Nachdenklichkeit wenig Raum lässt"
Main: Das ist genau der Punkt. Ich gehe nämlich, genau wie Sie, davon aus, dass diese christliche Signatur der Friedlichen Revolution selbst in den Kirchen kaum mehr präsent ist bei all der Verzagtheit, die sich hier und da ausbreitet. Was könnten – positiv gesprochen – Christen im Umkehrschluss lernen, wenn sie sich jener theologischen Perspektiven dieser Ereignisse eben auch vielleicht auf einer tieferen Ebene bewusst würden?
Seidel: Also, das eine ist die Lernerfahrung aus den Montagsgebeten. Das heißt, die Einkehr – würde ich das nennen – die Einkehr bei Gott, die Einkehr in der biblischen Tradition, die Einkehr in der Gemeinde, aus der heraus dann auch – wie Dorothee Sölle das mal sagte – die Rückkehr, und zwar die engagierte und mutige und couragierte Rückkehr, in die Welt erfolgen kann und soll.
Ich beobachte mit einer gewissen Skepsis, dass meine Kirche, die Evangelische Kirche, heute im Grunde bei der Rückkehr ansetzt und die Einkehr ein bisschen aus dem Blick verloren hat.
Das führt leicht zu Überhitzungserscheinungen, und zwar nicht nur im Sinne von Burn-out einzelner Amtsbrüder – die Zahlen sind beängstigend –, sondern eben auch mit Blick auf politische, in der Tat auch schwierige Fragen. Da wird mit einer Art, mit einer, wie soll ich das nennen, mit einem protestantischen Gewissheitspathos mitunter agiert, das für Nachdenklichkeit wenig Raum lässt.
"Konservative Positionen nicht der AfD überlassen"
Main: Wie wirkt sich das aus?
Seidel: Das wirkt sich so aus, dass aus meiner Sicht die Einschätzungen auch zur Situation, der heutigen politischen Situation in den neuen Ländern seitens der durch die Westkirchen stark geprägten Diskussion in der EKD zu wenig zu Wort kommen. Das zeigt sich auch im Personal. Wenn man sich die Zusammensetzung des Rates anschaut oder auch die Zusammensetzung der Synode der EKD, da wünschte ich mir mehr Menschen, die wirklich aus der vormaligen DDR kommen und diese Erfahrung einbringen. Das spricht nicht für eine stärkere Ost-West-Trennung. Mir liegt überhaupt nicht daran, diese Debatte allzu stark aufzumachen, aber es gibt einfach unterschiedliche Sozialisierungen, die auch unterschiedliche Reflexionsformen zeitigen – um es mal ein bisschen allgemein zu halten. Ich kann es auch konkreter machen.
Joachim Gauck, der Protestant aus dem Osten, der eine Zeit lang das höchste Amt im Staate innehatte, hat vor kurzem ein Buch vorgelegt – "Toleranz". Ich habe es im Urlaub auch gelesen und bin überaus verwundert darüber, was sowohl bei der Ankündigung als jetzt danach passiert ist. Nämlich zunächst gab es hohe Aufmerksamkeit, weil Joachim Gauck auf eine Selbstverständlichkeit hingewiesen hat, nämlich, dass rechts zu sein nicht zwingend rechtsradikal heißt, und dass die Ausgrenzung rechter, sprich konservativer Positionen die politische Vitalität beeinträchtigt.
Aber an sich hat das an der aktuellen Debatte "Rechts/Links" nichts geändert. Also, es wird weiter auch von Kirchenvertretern munter vom "Kampf gegen rechts" gesprochen, ohne zu differenzieren. Das Buch von Joachim Gauck sehe ich kaum besprochen. Es wird sozusagen jetzt beschwiegen. Das halte ich für komplett falsch.
Dieser Anstoß, den der Altbundespräsident gibt, sollte zwingend aufgenommen werden, weil wir aktuell, und zwar nicht nur im Interesse der Kirche, sondern im Interesse der Lebendigkeit der Demokratie im gesamten Deutschland diese Art von Streitkultur brauchen, die eben auch konservative Positionen – so würde ich das mal nennen, was Gauck anmahnt – auch stärker zu Wort kommen lässt und das nicht der AfD überlässt.
"Kraftorte, die Veränderung ermöglichen"
Main: Noch mal zurück zur Lebensleistung von DDR-Christen. Auch über die Kirchen hinaus, was könnte sich verbessern im vereinten Deutschland, wenn diese Erfahrung, die sie im Osten als Christen gemacht haben, heute eine größere Rolle spielen würden?
Seidel: Also, zum einen ist es die Erfahrung, dass es nicht unbedingt die große Zahl ist an Christen, die etwas bewegt, sondern dass auch kleine Gruppen, dass kleine Gemeinden, dass das da, wo Menschen sich ganz schlicht gesprochen um Bibel und das Abendmahl versammeln, wo sie miteinander den Gottesdienst feiern, Kraftorte sind, von denen aus auch Veränderung möglich ist.
Das ist auch für die heutige Kirche eine Zusage. Ihr seid das Salz der Erde – heißt es. Und nicht: Ihr seid das Salz, in das man einen Löffel Suppe kippt. Das wäre so das sinnlose Gegenbild. Also, diese Art von Würzkräftigkeit und von, ja, überhaupt von Durchdringungskraft, das ist etwas, was eigentlich in die christliche Religion und auch in die christlichen Gemeinden eingeschrieben ist. Und das immer wieder zu entdecken, ist, glaube ich, etwas, was auch für heute Kraft und Mut geben kann.
"Kirchliche Komplettausgrenzung stärkt die AfD"
Main: In Ihrem Bundesland, in Thüringen, wird alsbald gewählt. Wir beobachten dort, sagen wir mal, selbstironisch und mit Westbrille formuliert, abweichendes Wählerverhalten vieler Ostdeutscher. Wie könnten die Kirchen dazu beitragen – positiv gefragt –, dass die Ost-West-Spaltung, sofern es sie gibt, sich nicht weiter vertieft, sondern dass da Gräben sich ein wenig schließen?
Ein Wahlplakat der Partei Alternative für Deutschland (AfD) mit der Aufschrift "Wir sind das Volk!" ist in Brandenburg zu sehen.
"Wir sind das Volk": Wahlplakat der AfD in Brandenburg. (picture alliance / dpa / Revierfoto)
Seidel: Ich glaube, dass die Kirchen eine Position einnehmen können, die auch verfeindete politische Gruppen sprachfähig hält. Also, die in den letzten Jahren nicht nur von der evangelischen, sondern auch von der katholischen Kirche vorgenommene Komplettausgrenzung dieser neuen Partei AfD hat ja nicht nur dazu geführt, wie Bernhard Schlink und andere immer mal wieder gezeigt haben, dass diese Partei gestärkt wird, sondern dass im Grunde genommen das Protestverhalten des Ossis eher noch wächst. Das führt letztlich zur Stärkung dieser Partei über die Maßen.
Ich glaube, dass Kirche Räume bieten sollte, wo auch so unterschiedliche, mitunter auch sehr merkwürdige politische Auffassungen mindestens geäußert werden. Das heißt ja nicht, dass sie widerspruchslos hingenommen werden, weder von links noch von rechts außen, sondern dass sie überhaupt ins Gespräch gebracht werden.
Da, glaube ich, würde Kirche ihre Rolle wahrnehmen, so, wie sie das in den 80er Jahren in der DDR auch getan hat, indem man den Gruppen und den Agilen und den vielleicht auch über das Ziel Hinausschießenden Räume des Gesprächs geöffnet hat und dazu ganz gezielt auch einlädt.
Also, dass der Evangelische Kirchentag Vertreter der "Alternative für Deutschland" sozusagen komplett außen vor lässt, halte ich für demokratieschädigend.
"Offen, öffentlich und streitbar widersprechen"
Main: Wobei Sie als Antimarxist womöglich auch nicht allzu viel Sympathien für große Russlandnähe oder für Judenhass und Ähnliches haben, die in einigen Flügeln dieser Partei durchaus stark vertreten sind.
Seidel: Also, ich bin alles andere als ein Freund der AfD und insbesondere in Thüringen mit Björn Höcke an der Spitze, den ich für einen Rechtsschwärmer halte – um so eine Begrifflichkeit von Luther aufzunehmen. Nichtsdestotrotz ist es notwendig, dass das, was argumentativ vorgetragen wird, was auch sich zum Teil außerhalb dessen bewegt, was wir als aufgeklärte Staatsbürger noch zu tolerieren bereit sind, dass das gesagt wird und auch dem offen, öffentlich und streitbar widersprochen wird. Die Ausgrenzung hilft nicht nur nichts, sondern schadet eher.
Main: Thomas Seidel, evangelischer Theologe und Historiker, geschäftsführender Vorstand der Internationalen Martin-Luther-Stiftung und Autor diverser Bücher über Maria, den Tod oder auch, "… wenn Gott Geschichte macht - 1989 contra 1789". Thomas Seidel, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben für den Besuch beim NDR in Erfurt, danke für Ihre Erinnerungen und Ihre Einschätzungen.
Seidel: Gerne geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.