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Claudia Roth (Grüne) zur Türkei
"Warum schweigt die Europäische Union so laut?"

Nach Ansicht der Grünen-Politikerin Claudia Roth stellt der Flüchtlingspakt mit der Türkei die Glaubwürdigkeit der EU infrage. Wenn es darum gehe, sei man plötzlich ganz freundlich zueinander - ungeachtet der aggressiven Außenpolitik der Türkei. Roth plädierte dafür, EU-Beitrittshilfen auszusetzen.

Claudia Roth im Gespräch mit Mario Dobovisek | 27.03.2018
    Die Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth
    Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth forderte von der deutschen Bundesregierung auch einen Stopp der Waffenexporte in die Türkei (dpa / Maurizio Gambarini)
    Mario Dobovisek: In Syrien führt die Türkei Krieg gegen Kurden, gegen Terroristen, sagt Ankara. Die Stadt Afrin haben türkische Truppen erst beschossen, dann belagert und schließlich eingenommen. Damit stößt die türkische Regierung auf Unverständnis bei ihren NATO-Partnern, die sich allerdings nach wie vor schwer damit tun, das auch deutlich so zu formulieren. Ein EU-Beitritt der Türkei rückt in weite Ferne, spätestens seit dem niedergeschlagenen Putschversuch und den sogenannten Säuberungsaktionen im Anschluss, den Menschenrechtsverletzungen aus europäischer Sicht. Die EU-Beitrittsverhandlungen liegen seitdem auf Eis, aber man redet noch miteinander, gestern etwa bei einem gemeinsamen Abendessen im bulgarischen Warna.
    Am Telefon begrüße ich Claudia Roth von den Grünen, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Guten Morgen, Frau Roth!
    Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Herr Dobovisek.
    "Es reicht nicht aus, wenn Herr Tusk sagt, die EU sei besorgt"
    Dobovisek: Welches Signal geht Ihrer Meinung nach vom gestrigen Treffen in Warna aus?
    Roth: Es geht ganz sicher nicht das Signal aus, dass es zu einer Entspannung gekommen wäre oder zur Annäherung, was ja das Ziel von Tusk und Juncker war, sondern Erdogan entfernt sich rasant weiter. Da reicht es natürlich nicht aus, wenn Herr Tusk dann sagt, die EU sei besorgt und …
    Dobovisek: Es waren konstruktive Gespräche, sagen beide Seiten.
    Roth: Ja, konstruktiv. Das ist wirklich diplomatischer Sprech. Da war überhaupt nichts konstruktiv, wenn Erdogan sich hinstellen kann und sagen kann, die Türkei sei ein demokratischer Rechtsstaat, der die Menschenrechte, die Grundrechte, die Freiheiten respektiert, und gleichzeitig er die EU davor warnt, übertrieben Kritik zu üben. Das muss für Tausende von Menschen, die die Repression in der Türkei erleben, die eine autoritäre Präsidialdiktatur erleben, wirklich zynisch klingen.
    Etwa 50 Prozent der Türken setzten "auf die europäische Perspektive"
    Dobovisek: Im Mai soll es einen EU-Beitrittsgipfel geben, vor allem mit den westlichen Balkan-Staaten, und die Türkei ist explizit nicht dabei. Stattdessen gestern eher dieses informelle Abendessen. Ist das ein starkes Signal in Richtung Türkei?
    Roth: Das weiß ich nicht, ob das ein starkes Signal ist. Ich glaube, es reicht auf jeden Fall nicht aus. Was wichtig ist: Es gibt ja die Position des österreichischen Regierungschefs Kurz, die auch geteilt wird von unserer CSU, der FDP oder der Linken, die den Abbruch der EU-Beitrittsperspektive für die Türkei wollen. Ich glaube, diesen Gefallen dürfen wir Erdogan nicht geben, nicht schenken, denn wir dürfen nie vergessen, dass Erdogan nicht die Türkei ist und dass die Türkei nicht gleichzusetzen ist mit Erdogan. Es sind etwa 50 Prozent der Menschen, die auf die europäische Perspektive, auf eine demokratische, auf eine rechtsstaatliche Türkei setzen. Deswegen herumzuspielen, ob jetzt die Beitrittsperspektive zu Ende ist oder nicht, glaube ich, hilft nur Erdogan, ist nur Wasser auf seine Mühlen.
    Dobovisek: Sie wollen weiter verhandeln, obwohl es nichts zu verhandeln gibt, zumindest im Moment nicht?
    Roth: Nein! Ich will die Tür nicht ganz zumachen. Denn wenn jetzt die Beitrittsverhandlungen abgebrochen würden, dann könnten sie nur wieder aufgenommen werden, wenn alle Mitgliedsländer dafür sind. Das ist höchst unwahrscheinlich. Deswegen sage ich, es kann im Moment keine Fortsetzung geben und es muss endlich ein aktives Reagieren geben – sei es nun von einzelnen Mitgliedsländern, da ist die Bundesrepublik Deutschland ganz vorne dran, oder von der Europäischen Union, die zwar Kritik übt, aber die tatsächlich nicht wirkliche Maßnahmen, die man ergreifen könnte, ergriffen hat.
    "Es ist richtig, wirtschaftliche Kooperation einzufrieren"
    Dobovisek: Solange verhandelt wird, fließt weiter Geld in die Türkei. Das nennt man auch EU-Beitrittshilfen. Wäre das eine Aktivität, die Sie fordern, das einzustellen?
    Roth: Ja. Ich glaube, dass Erdogan wirklich etwas spürt, und das ist der wirtschaftliche Druck. Denn er hat ja ein großes Interesse, tut auch sehr viel dafür, wenn ich mir anschaue, wie er die Pressefreiheit komplett hinter Gitter sperrt, wie er Online-Medien verbietet, wie er die Presse gleichschaltet. Er hat ein großes Interesse, die Wahl für sich zu gewinnen im nächsten Jahr, und er spürt, wenn überhaupt, dann wirtschaftlichen Druck. Das heißt, es ist richtig, die Zollunion nicht auszuweiten. Es ist richtig, wirtschaftliche Kooperation einzufrieren. Es ist richtig und notwendig, dass Beitrittshilfen strikt kontrolliert werden, ob sie denn auch tatsächlich an Menschenrechtsorganisationen, an demokratische Initiativen gehen, die für die Rechtsstaatlichkeit arbeiten sollen. Da er die aber alle verboten hat, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass es sinnvoll ist und zu begründen ist, warum es Beitrittshilfen in dieser Zeit gibt.
    "Die Türkei hat mehr Geflüchtete aufgenommen als die ganze EU zusammen"
    Dobovisek: Eine weitere Dimension der Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei ist der Flüchtlingspakt, der geschlossen wurde. Da haben gestern beide Seiten noch mal bekräftigt, dass die noch offenen drei Milliarden Euro für diesen Pakt in diesem Jahr noch fließen sollen. Ist das dann ein Fehler?
    Roth: Schauen Sie, das ist natürlich wirklich etwas, was die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union, was die Glaubwürdigkeit auch deutscher Politik massiv infrage stellt. Angesichts der Repression im Innern in der Türkei, angesichts einer hemmungslosen aggressiven Außenpolitik in Afrin, die sich weiter ausbreitet in Richtung Aleppo – ich rede von Syrien -, die sich ausbreitet auf den Irak, ist man plötzlich ganz zufrieden und ganz freundlich zueinander, wenn es um diesen Flüchtlingspakt geht, diesen Flüchtlingsdeal geht, weil die Europäische …
    Dobovisek: Ordnen wir das mal gemeinsam ein, Frau Roth. Es geht ja um drei Millionen Flüchtlinge, die die Türkei aufgenommen hat, und mit denen hat Ankara ja schon oft genug gedroht, die dann "loszuschicken".
    Roth: Das stimmt. Die Türkei hat deutlich mehr Geflüchtete aufgenommen als die ganze Europäische Union zusammen. Das zeigt aber auch den Wettlauf der Schäbigkeit in der Europäischen Union, wo es ja Mitgliedsstaaten gibt, die sich komplett verweigern. Aber die Konsequenz kann doch nicht sein, dass man die Verantwortung auf die Erdogan-Türkei abschiebt und sagt, ist mir doch egal – ich übertreibe jetzt ein bisschen -, was die innere Situation in der Türkei ist. Ich glaube, die Europäische Union müsste dringend sich aus der Abhängigkeit von Erdogan lösen, denn diese Abhängigkeit, die ist natürlich die, dass er droht mit den Geflüchteten. Aber ein Kotau, weil man selber nicht in der Lage ist, eine eigene solidarische, faire, gerechte Flüchtlingspolitik zu definieren, innerhalb der Europäischen Union, kann doch nicht die Folge sein.
    Deutschland: "Rüstungsexportgeschäfte mit einer Dimension von 4,4 Millionen"
    Dobovisek: Wettlauf der Schäbigkeit, sagen Sie. Der langjährige EU-Kommissar Günter Verheugen sagt auch, man könne die innenpolitische Entwicklung der Türkei nicht gutheißen, aber das sei auch eine Folge des Versagens der EU, die viele Möglichkeiten ungenutzt gelassen hätte, um die weiteren rechtsstaatlichen Reformen des Landes zu unterstützen. – Welche Fehler hat die EU gemacht seit 1963, denn so lange ist sie ja Beitrittskandidat?
    Roth: Die EU hat tatsächlich geschaut, was ist von eigenem Interesse für die Europäische Union, und nicht, wie können wir …
    Dobovisek: Das ist ja grundsätzlich nicht falsch.
    Roth: Ja, aber nur vom eigenen Interesse und nicht darauf zu achten, wie kann man die Demokratiebewegung, die Demokratie in der Türkei unterstützen. Warum schweigt die Europäische Union so laut? Warum schweigt die NATO so laut zu diesem Angriff, zu diesem militärischen Angriff auf Afrin? Warum schweigt die deutsche Bundesregierung so laut dazu? Wir erleben eine Besetzung, eine Belagerung, die Ankündigung, dauerhaft Gebiete zu belagern. Wir erleben die Vertreibung von 200.000 Menschen. Das Ziel Erdogans ist, 200.000 andere Syrer, die jetzt in der Türkei sind, dort in Afrin anzusiedeln. Man könnte das auch als ethnic cleansing bezeichnen. Warum ist da keine Reaktion da? Warum gibt es keine Reaktion von der deutschen Bundesregierung, die sich immer noch sehr, sehr, sehr schwertut, das als das zu bezeichnen, was es ist, ein völkerrechtswidriger Angriff? Warum tagt der NATO-Rat nicht dazu, wenn ein NATO-Land, die Türkei, genau diejenigen Gruppen angreift, die uns geholfen haben, uns vor dem Islamischen Staat zu schützen, und die von einem anderen NATO-Mitglied unterstützt werden? Das ist alles nicht glaubwürdig und das geht wirklich an die Glaubwürdigkeit der EU, der NATO und an die deutsche Politik.
    Und warum deutsche Politik? Dazu will ich einen Punkt noch nennen. Es kann doch nicht sein, angesichts dieser militärischen Aggression, dass nach wie vor Rüstungsexporte genehmigt worden sind. In den letzten fünf Wochen sind noch mal 20 Rüstungsexportgeschäfte mit einer Dimension von 4,4 Millionen genehmigt worden. Und der neue Herr Außenminister Maas, der kann sich nicht dazu durchringen, mal vielleicht einen Blick in die eigenen Rüstungsexportrichtlinien zu werfen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.