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Corona in Lateinamerika
Ein Virus, das alle Probleme vergrößert

Lateinamerika ist das neue Epizentrum der Coronavirus-Pandemie. Die Zahl der Fälle steigt dort derzeit am schnellsten. Wie stark einzelne Länder betroffen sind, hängt auch von der Bedeutung der informellen Arbeit ab - denn wer von der Hand in den Mund lebt, kann keine Quarantäne einhalten.

Von Victoria Eglau |
Straßenverkäufer in Lima mit Mundnasenschutzmasken während der Coronavirus-Pandemie
Peru mit seinen 32 Millionen Einwohnern liegt im weltweiten Pandemie-Ranking an fünfter Stelle. Dass „social distancing“ so schlecht funktioniert, liegt an der Notwendigkeit vieler Peruaner, täglich draußen ein bisschen Geld zu verdienen.* (Imago/ ZUMA Wire)
Seit fast 16 Wochen ist in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires nichts mehr so wie früher: Die vielen Cafés und Restaurants, die Schulen, Parks, Theater und Shopping-Center haben geschlossen. Busse und U-Bahnen, sonst proppenvoll, sind fast leer. Und auf den ungewöhnlich ruhigen Straßen tragen alle Passanten den vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz. Seit dem 20. März müssen die eigentlich geselligen Menschen auf soziales Leben verzichten. Weil manche das nicht mehr aushalten, treffen sie sich heimlich. In Argentinien herrscht die längste Pflicht-Quarantäne der Welt, und sie hat die Ausbreitung des Coronavirus' unter seinen 44 Millionen Einwohnern gebremst – aber nicht gestoppt.
Leerer Bahnhof in Buenos Aires 
Zwischen Quarantäne und Verschwörungstheorien
Der Umgang mit Corona in lateinamerikanischen Ländern ist sehr unterschiedlich: Die Präsidenten von Argentinien und Peru schalten in den nationalen Krisenmodus. In Brasilien übt sich der Staatschef in Verharmlosung.
Im Unterschied zum Nachbarstaat Brasilien, wo die Pandemie mit mehr als eineinhalb Millionen Fällen und bis gestern knapp 65.000 Toten gigantische Ausmaße angenommen hat, ist Corona in Argentinien bislang nicht außer Kontrolle geraten. Knapp 80.000 Menschen sind erkrankt, etwas mehr als 1.500 gestorben. Aber seit Wochen steigen die täglichen Neuinfektionen und Todesfälle, vor allem im Großraum Buenos Aires. Die Regierung hat Angst, das Gesundheitswesen könnte doch noch an seine Grenzen stoßen. Anfang Juli hat sie die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die zwischenzeitlich etwas gelockert worden waren, wieder verschärft. Der peronistische Präsident Alberto Fernández bat seine Landsleute im Fernsehen um Geduld und Mithilfe:
"Verstehen Sie uns: Wir wollen verhindern, dass sich bei uns wiederholt, was in Europa passiert ist: Dass Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht. Ich will Ihnen etwas sagen: Sie wissen nicht, wie sehr ich die Freiheit wertschätze. Aber um frei zu sein, muss man leben. Hüten wir das Leben!"
Karte von Mittel- und Südamerika
Mittel- und Südamerika (Wikipedia / Deutschlandradio)
Mehr Corona-Infektionen als in Europa
Während die meisten Menschen in Europa und Asien zumindest vorläufig aufatmen können, ist Lateinamerika zum neuen Hotspot der Pandemie geworden. Zwischen Mexiko und Feuerland bewegt sich die Zahl der offiziell gemeldeten Fälle auf die Drei-Millionen-Marke zu. In Lateinamerika gibt es inzwischen mehr Corona-Infektionen als in Europa, und fast so viele wie in den USA.
In einer Weltregion mit mangelhaften Gesundheitssystemen, schwach entwickelten Wohlfahrtsstaaten, einer tiefen Kluft zwischen Arm und Reich und Millionen von prekär Beschäftigten hat COVID-19 eine beispiellose sanitäre, wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst. Der Umgang mit ihr bewegt sich zwischen Extrem-Positionen: Brasiliens ultrarechter Präsident Jair Bolsonaro verharmloste das Virus als "kleine Grippe" – sein argentinischer Kollege Fernández wiederholt Mantra-mäßig die Devise "Bleib zu Hause".
Großaufnahme von Präsident Bolsonaro, der einen schwarzen Mund-Nasenschutz trägt. Sein Gesicht wird halb verdeckt von Anhängern, die ihm zuwinken.
Bis vor Kurzem hielt es Präsident Bolsonaro nicht einmal für nötig, in der Coronakrise eine Maske zu tragen. (imago / Agencia EFE / Joedson Alves)
Faktoren für die Ausbreitung der Pandemie
Hängt es allein vom Corona-Management der Regierung ab, wie stark ein lateinamerikanisches Land von der Pandemie betroffen ist? Nein, sagt Andrés Malamud, argentinischer Politologe an der Universität Lissabon. Er nennt noch andere Faktoren:
"Länder mit geringer Bevölkerungsdichte kommen glimpflicher davon. Sowohl in Uruguay als auch in Brasilien wurde keine frühe Pflicht-Quarantäne verhängt. Das dünnbesiedelte Uruguay steht gut da, aber in den Ballungsräumen Brasiliens hat Corona zu einem Desaster geführt. Ein weiterer Faktor: Die Größe des informellen Sektors. Menschen ohne festes Arbeitsverhältnis leben oft von der Hand in den Mund und können es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Vergleichen wir Argentinien und Peru, zwei Länder mit strikter Pflicht-Quarantäne: In Peru hat sich Corona deutlich schlimmer entwickelt. Mehr Leute haben die Ausgangsbeschränkungen verletzt, denn das Land hat 70 Prozent informell Beschäftigte!"
Beispiel Peru
Peru mit seinen 32 Millionen Einwohnern liegt im weltweiten Pandemie-Ranking an fünfter Stelle. Nach den USA, Brasilien, Indien und Russland meldet das Land die meisten Infektionen. Dass das von der Regierung verordnete "social distancing" so schlecht funktioniert, liege in der Tat an der Notwendigkeit vieler Peruaner, täglich draußen ein bisschen Geld zu verdienen, bestätigt der Ökonom Hugo Ñopo vom Entwicklungsforschungs-Institut GRADE in der Hauptstadt Lima.* Zum informellen Sektor gehören Kleinstselbstständige wie Straßen- und Marktverkäufer, auch Hauspersonal, Bauarbeiter oder landwirtschaftliche Hilfskräfte. Sie zahlen keine Steuern und sind nicht sozialversichert, erhalten kein Kranken- oder Arbeitslosengeld. Ñopo nennt aber noch weitere Gründe für die starke Ausbreitung des Coronavirus‘ in seiner Heimat:
"Zu Hause bleiben zu müssen, bedeutet nicht für alle Peruaner dasselbe. Die Lebensverhältnisse sind extrem unterschiedlich. In jedem fünften Haushalt wohnen Menschen äußerst beengt zusammen. Und: Die Hälfte der peruanischen Haushalte besitzt keinen Kühlschrank. Das heißt, jeden Tag muss jemand rausgehen, um frische Lebensmittel zu besorgen."

Entwicklungsforscher Hugo Ñopo ist es wichtig, nicht nur Negatives zu vermelden. Zu den guten Nachrichten aus Peru gehört für ihn diese: "Es ist der Regierung gelungen, unser Gesundheitssystem innerhalb von hundert Tagen zu stärken. Vorher war es in einem erbärmlichen Zustand. Es gab nur ein paar Hundert Intensivbetten – für 30 Millionen Einwohner! Aber die Fähigkeit unseres Gesundheitswesens, der Pandemie standzuhalten, ist erheblich gewachsen. Dadurch sind Tausende von Menschenleben gerettet worden!"
In der Tat hat Peru in der kritischen Phase ab März die Zahl der Intensivbetten vervielfacht und Hunderte von Beatmungsgeräten aus den USA und China gekauft. Ende Juni begann das Land, selbst Atemgeräte herzustellen. So wie Peru haben sich auch viele andere lateinamerikanische Länder in den vergangenen Monaten bemüht, Kliniken und Gesundheitszentren aufzurüsten – mit unterschiedlichem Erfolg.
Menschen in Lima, Peru, warten vor einem Krankenhaus darauf, behandelt zu werden.
Menschen in Lima, Peru, warten vor einem Krankenhaus darauf, behandelt zu werden (AFP / ERNESTO BENAVIDES )
Beispiel Mexiko
Mexiko ist einer der Staaten mit besonders vielen Corona-Infektionen. Fast 260.000 bestätigte Fälle – damit liegt das Land weltweit an neunter Stelle. Seine 126 Millionen Einwohner leben teils hoch verdichtet. Mehr als 40 Prozent der Mexikaner sind arm, über die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung schlägt sich im informellen Sektor durch. Alles Lateinamerika-typische Faktoren, die die Ausbreitung des Coronavirus' begünstigen. Mexiko fällt auch durch seine hohe Corona-Sterblichkeitsrate auf, sie liegt weit über dem internationalen Durchschnitt: Für zwölf Prozent der Erkrankten verlief die Krankheit bisher tödlich. José Fernández Santillán, Demokratie-Forscher von der Universität Tecnológico de Monterrey, kritisiert das Krisenmanagement:
"Das Problem ist: Wir haben bis heute keinen allgemeinen Aktionsplan gegen die Pandemie. Mexiko hat aus den Erfahrungen der Länder, die bei der Bekämpfung des Coronavirus‘ erfolgreich waren, nicht gelernt. Bei uns wird zu wenig getestet, und es wird zu wenig getan, um Personen aufzuspüren, die Kontakt zu Infizierten hatten – um sie dann unter Quarantäne zu stellen. Außerdem ist unser Gesundheitssystem teilweise kollabiert, es ist überfordert mit der Versorgung so vieler Kranker. Wahrscheinlich gibt es viel mehr Coronafälle als die Regierung meldet, es könnten drei Mal so viele sein."
Mexikos linker Präsident Andrés Manuel López Obrador hatte von Anfang an öffentlich den Eindruck vermittelt, er nehme die Pandemie nicht besonders ernst. Demokratie-Forscher Santillán zieht Parallelen zu den rechten Präsidenten Brasiliens und der USA, Jair Bolsonaro und Donald Trump. Trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtung teile López Obrador mit ihnen den Populismus:
"Sie haben die Pandemie geringschätzig behandelt. Ihre politischen Kampagnen waren ihnen wichtiger, was typisch für Demagogen ist. Hier in Mexiko wird im kommenden Jahr gewählt, und López Obrador will seine Mehrheit im Kongress behalten. Als die Regierung Anfang Juni einen großen Teil der Aktivitäten des öffentlichen Lebens wieder zugelassen hat, hat sich der Präsident sogleich vor Scharen seiner Anhänger gezeigt! Als wäre er im Wahlkampf – und trotz der Ansteckungsgefahr für die Leute!"
Proteste vor Regierungspalast
Ein Jahr Präsident Obrador - Hoffnung im Narco-Land?
Menschen verschwinden oder werden hingerichtet. Drogenkartelle haben die Macht. Mexiko ist zum Symbol eines gescheiterten Staates geworden. Hat der neue Präsident eine Chance, etwas zu ändern?
López Obrador hat sein Land in die "neue Normalität" geschickt, obwohl das Land noch mitten in der Pandemie steckt. Aber angesichts düsterer Konjunkturprognosen, dem Verlust von mehr als einer Million regulärer Arbeitsplätze und der verzweifelten Situation des informellen Sektors beschloss Mexikos Regierung, die Wirtschaft wieder hochzufahren.
Denn – ob sie nun Populisten sind oder nicht – vor einem Problem stehen die lateinamerikanischen Präsidenten so wie alle Regierungen weltweit: Dem Spagat zwischen dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und dem Schutz ihres wirtschaftlichen Wohlergehens. Viele Länder Lateinamerikas steckten bereits vor der Pandemie in Krisen oder Rezessionen. Das Heer von informell Beschäftigten – mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen, prozentual doppelt so viel wie in Europa – macht nun die Bekämpfung der Pandemie besonders schwer. Andrés Malamud, argentinischer Politologe:
"Tatsache ist, dass die Existenz dieses großen informellen Sektors strikte Quarantänen unmöglich macht. Es sei denn, eine Regierung ist in der Lage, die Armen zu ernähren und die Firmenbankrotte in Kauf zu nehmen."
Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador auf einer bei einer Aufforstungsinitiative im Juni 2019.
Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador. (Getty Images / Toya Sarno Jordan)
Beispiel Argentinien
Im vierten Monat der Pflicht-Quarantäne in Argentinien wirken die Straßen der Hauptstadt Buenos Aires desolat. Ein Großteil der Läden hat die Rollläden heruntergelassen. An immer mehr Ladenlokalen hängen Schilder mit der Aufschrift "Zu vermieten".
"In Buenos Aires werden voraussichtlich 20 Prozent der Geschäfte pleitegehen. Und: Fast ein Zehntel der Arbeitnehmer im Großraum Buenos Aires hatte bereits im April seinen Job verloren. Von den informell Beschäftigten hat jeder Dritte keine Einkünfte", nennt der Soziologe Eduardo Donza von der Universidad Católica Argentina beunruhigende Zahlen. Das Armuts-Observatorium der Hochschule untersucht die sozioökonomischen Folgen der Pflicht-Quarantäne. Bislang seien in Argentinien rund 900.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Die Wirtschaftskrise in Argentinien hatte schon vor der Pandemie begonnen. Das Land ist hoch verschuldet und versucht seit Wochen, durch Verhandlungen mit seinen Gläubigern die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden.
Eine Frau steht außerhalb eines Gemüsehändlers in Buenos Aires, Argentinien
Argentinien - Alltag mit Inflation, Armut und Staatsschulden
Argentinien hat schon viele Wirtschaftskrisen mitgemacht. Diesmal treffen Inflation und Armut auch die Mittelschicht. Wie Alberto Fernández das Land aus der Misere befreien will, ist unklar.
Argentinien ist nur ein Beispiel für die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie in Lateinamerika. Hiobsbotschaften kommen aus allen Ländern: Bankrotte Firmen, Fluggesellschaften und Tourismus-Betreiber. Die Exporte brechen ein, mit ihnen die Preise der Rohstoffe, von deren Verkauf viele lateinamerikanische Volkswirtschaften abhängen. Der Internationale Währungsfonds erwartet in diesem Jahr für die Region einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5,2 Prozent.
Die Generalsekretärin der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, Alicia Bárcena, prognostizierte Mitte Juni: "Wir erwarten, dass 16 Millionen Lateinamerikaner infolge der Pandemie in die extreme Armut abrutschen, und dass wir insgesamt 83 Millionen Arme haben werden. Viele dieser Menschen hatten ihre materielle Situation in den vergangenen Jahren verbessert und fallen nun erneut unter die Armutsgrenze. Wir müssen daher tiefgreifende Anstrengungen unternehmen, um eine Ernährungskrise zu verhindern."
Das Elendsviertel Bajo Flores gehört zu Buenos Aires.
Argentinien - Die Pandemie, die Armen und die Priester
Die Elendsviertel von Buenos Aires trifft die Coronakrise besonders hart. Arbeiterpriester versuchen, das Schlimmste zu verhindern als Seelsorger, Sozialarbeiter und politische Akteure.
Beispiel Chile
Die staatlichen Nothilfen in Lateinamerika fallen bisher nicht üppig aus. Die finanziellen Möglichkeiten der Regierungen, die Coronakrise sowohl für die Armen als auch für die Mittelschicht und die Unternehmen abzufedern, sind begrenzt. In vielen Ländern dauerte es außerdem zu lang, bis das Geld floss. Rossana Castiglioni, Politologin von der chilenischen Universidad Diego Portales:
"Die Regierung Chiles hat früh erkannt, dass die Pandemie der Wirtschaft schaden würde, aber sie hat zunächst nur dem formellen Arbeitsmarkt unter die Arme gegriffen. Zwar ist der in Chile relativ groß, aber es gibt auch Millionen von Menschen, die von der Hand in den Mund leben. Für sie wurden erst nach mehreren Monaten substantielle Hilfen bereitgestellt. Mit der Folge, dass die Quarantäne vor allem in den Armenvierteln nicht eingehalten wurde."
Einer der Gründe, weswegen COVID-19 in Chile außer Kontrolle geraten ist. Das 18-Millionen-Einwohner-Land liegt im weltweiten Corona-Vergleich an siebter Stelle und meldete bisher knapp 300.000 Infektionen, das Gesundheitssystem befindet sich seit Wochen am Rande des Kollapses. Der rechtsliberale Präsident Sebastián Piñera hatte keine frühzeitige Pflicht-Quarantäne verhängt. Erschwert wurde sein Krisenmanagement dadurch, dass die Pandemie während einer historischen Protestwelle über das Land hereinbrach. Sie hatte sich im vergangenen Oktober an der Preiserhöhung des Metro-Tickets in der Hauptstadt Santiago entzündet und wurde rasch zu einem Aufstand gegen die in Chile tief verwurzelte soziale Ungleichheit.
"Das große Problem ist, dass eine unpopuläre Regierung und eine politische Klasse, die jegliche Legimitation verloren hat, eine Krise biblischen Ausmaßes bewältigen müssen", sagt Politologin Castiglioni. Die große Frage ist, ob die Proteste nach der Pandemie wieder aufflammen könnten. Im April wollte die chilenische Regierung eigentlich ein Referendum über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung abhalten – ein Erfolg der Protestbewegung. Wegen Corona wird es erst Ende Oktober stattfinden.
"Ein Teil der politischen Rechten hat erwogen, die Volksabstimmung noch einmal zu verschieben. Wenn das geschehen sollte, halte ich einen erneuten sozialen Aufruhr für wahrscheinlich."
Demonstration auf der Plaza Italia in Santiago de Chile
Aufarbeitung der Diktatur - Die Wut der jungen Chilenen
Die Folgen der Militärdiktatur Pinochets sind in Chile bis heute spürbar. Seit Monaten protestieren viele Menschen dort für soziale Gerechtigkeit. Vor allem junge Chilenen wollen das Erbe der Diktatur nicht mehr länger tragen.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Coronakrise die bestehenden Ungleichheiten, die in Lateinamerika ja seit Jahrhunderten vorherrschen, nur noch verstärkt. Ich glaube, mit der zunehmenden wirtschaftlichen Katastrophe werden die Menschen immer unruhiger und werden sich nicht mehr viel länger in ihren Wohnungen einsperren lassen", prophezeit die Juristin Marie-Christine Fuchs, Leiterin des Rechtsstaatsprogramms Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá.
"Besonders die Regierungen, die weiter ihren autoritären Stil fahren und nicht auf ihre Bevölkerung hören, die wird diese Protestwelle nach der Auflösung der Quarantäne-Maßnahmen noch stärker treffen als es vorher schon der Fall war."
Beispiel El Salvador
In Teilen Lateinamerikas hat die Pandemie autoritäre und populistische Tendenzen verstärkt. Und zu den repressiven Regierungen Venezuelas und Nicaraguas gesellt sich inzwischen die von El Salvador. Der nach rechts gedriftete Präsident Nayib Bukele ließ die wegen Corona verhängte Ausgangssperre mit Militär- und Polizeigewalt durchsetzen. Tausende von Bürgern wurden verhaftet und wochenlang in überfüllten Massenunterkünften mit hohem Ansteckungsrisiko festgehalten. Marie-Christine Fuchs von der Konrad-Adenauer-Stiftung:
"Die Verfassungskammer des obersten Gerichts El Salvadors hat die Maßnahmen sehr schnell als gegen die Menschenrechte verstoßend erklärt, aber das hat Präsident Bukele leider recht wenig interessiert, und er hat munter weitergemacht. Das Schlimme dabei ist, dass Präsident Bukele die höchste Zustimmungsrate in ganz Lateinamerika hat - und die im Rahmen der Coronakrise noch ordentlich gestiegen ist. Mein Schluss ist, dass Rechtsstaat leider immer noch für viele Menschen in der Region ein Luxusgut ist, und das Erste, was sie interessiert ist, ist erstmal das tägliche Brot, und zweitens Sicherheit."
Nayib Bukele hält eine Ansprache in einem representativen Raum.
El Salvadors Präsident Bukele - Vom Hoffnungsträger zum Autokraten?
Mit dem Versprechen, die grassierende Gewalt im Land zu bekämpfen, wurde Nayib Bukele vor einem Jahr zum salvadorianischen Präsidenten gewählt. Die Mordrate hat sich seitdem halbiert. Kritiker werfen dem Politiker vor, dabei antidemokratisch vorzugehen.
Viele Verlierer, kaum Gewinner
Im Rahmen der Corona-Notstandsmaßnahmen hat es in ganz Lateinamerika Fälle von polizeilicher Willkür und Gewalt gegeben. Mehrere Hundert Zivilisten wurden von Sicherheitskräften getötet. Juristin Fuchs setzt ihre Hoffnungen auf die Justiz, die sich trotz der widrigen Bedingungen in Pandemie-Zeiten bemühe, ihre Rolle auszufüllen.
Wie wird die Pandemie die politische Lage in den lateinamerikanischen Staaten beeinflussen? Es werde wohl viele Krisenverlierer geben, meint der argentinische Politikwissenschaftler Andrés Malamud, und nur wenige Gewinner:
"Mir scheint, die Bevölkerung wird die Regierungen vor allem daran messen, wie sie die Rezession bewältigen. Aber auch der Umgang mit der Pandemie selbst hat Folgen. Präsidenten mit einem schlechten Corona-Management, wie Jair Bolsonaro in Brasilien, werden von der öffentlichen Meinung bereits bestraft. Aber jene Regierungen, die gut auf Corona reagiert haben, werden dafür wegen der Wirtschaftskrise nicht unbedingt belohnt werden."

*Wir haben die in der ersten Version genannte falsche Währung korrigiert.