Donnerstag, 25. April 2024

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Corona und soziale Ungleichheit
"Notwendig wäre eine kontinuierliche Hilfe für Arme"

Nicht das Coronavirus erzeuge soziale Ungleichheit in Deutschland, sondern die Verhältnisse und Wirtschaftsstrukturen in unserer Gesellschaft, sagte der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge im Dlf. Unternehmen würden in der Pandemie kontinuierlich gefördert, Arme dagegen abgefertigt.

Christoph Butterwegge im Gespräch mit Josephine Schulz | 25.01.2021
Christoph Butterwegge im Oktober 2018 auf der Frankfurter Buchmesse.
Über eine sozialgerechtere Steuerpolitik die Umverteilung des Reichtums von oben nach unten bewirken - das fordert Armutsforscher Christoph Butterwegge (picture alliance / Federico Gambarini)
Die Corona-Pandemie droht die soziale Ungleichheit in vielen Ländern zu verschärfen. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Hilfsorganisation Oxfam, für den unter anderem fast 300 Wirtschaftswissenschaftler aus 79 Ländern befragt wurden. Demnach ist zu erwarten, dass die Einkommensungleichheit in diesen Ländern als Folge der Pandemie zunehmen wird.
Besonders Menschen in Armut sind dem Coronavirus am stärksten ausgesetzt, heißt es in dem Bericht. Viele, insbesondere im informellen Sektor Tätige, könnten nicht von zu Hause aus arbeiten. Überdies befürchtet die Hilfsorganisation, dass sich die Ungleichheit auch besonders stark bei der weltweiten Bereitstellung von Corona-Impfstoffen zeigen wird.

Stärkere Umverteilung des Reichtums gefordert

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge forscht seit Jahrzehnten zu sozialökonomischer Ungleichheit. Diese sei auch hierzulande stark ausgeprägt, so Christoph Butterwege. Dafür sei jedoch nicht das Cronavirus verantwortlich, sagte der Politikwissenschaftler im Deutschlandfunk, sondern diejenigen, die politisch verantwortlich sind und Entscheidungen treffen - "wie zum Beispiel auch in der Pandemie verteilungspolitisch eher die Starken zu unterstützen als die Schwachen."
Christoph Butterwege fordert daher eine stärkere Umverteilung des Reichtums in Deutschland von "oben nach unten". Notwendig sei dazu auch eine kontinuierliche Hilfe für ökonomisch Schwache und Hartz-IV-Empfänger. Die Bundesregierung müsse hier nachbessern.
Peter Weiß (CDU) spricht bei der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag. Die Hauptthemen der 204. Sitzung der 19. Legislaturperiode sind unter anderem der Rentenversicherungsbericht 2020, eine Novelle des digitalen Wettbewerbs­rechts, die Verlängerung der Abgabefrist für Steuererklärungen und eine Aktuelle Stunde mit dem Titel "Nach dem Sturm auf das US-Kapitol – Strategien zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und der Welt".
Hartz IV und Corona-Zusatzkosten - Regelsätze "kann man nicht einfach erhöhen"
Sozialverbände fordern eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze. Doch die Grundsicherung sei kein Willkürsystem, wo man einfach etwas drauflegen könne, sagt CDU-Sozialpolitiker Peter Weiß.
Josephine Schulz: Herr Butterwegge, zu der Forderung, den Hartz-IV-Satz zu erhöhen, hat der CDU-Abgeordnete Peter Weiß heute bei uns im Programm gesagt, der Satz sei genau ausgerechnet und das sei kein Willkürsystem, wo man einfach was draufpacken könnte. Was würden Sie da erwidern?
Christoph Butterwegge: Ich würde erwidern, dass die Berechnung sehr unseriös ist. Man stellt Berechnungen an, wie hoch dieser Regelbedarf bei Hartz IV sein soll. Dann zieht aber die Bundesregierung wieder bei einigen Posten etwas ab und so kommt man auf den Satz von 446 Euro im Jahr 2021 für einen Alleinstehenden. Würde man berücksichtigen, dass die Preise natürlich seit 2005 viel stärker gestiegen sind, auch die Löhne und erst recht die Gewinne in unserer Gesellschaft, dann müsste der Hartz-IV-Regelsatz sehr viel höher sein, und es ist, finde ich, auch nicht seriös, wenn man Statistiken heranzieht und das Ausgabeverhalten von armen Menschen zugrunde legt für diesen Regelbedarf. Wenn die Menschen sehr arm sind und nichts ausgeben können, dann kommt natürlich beim Regelsatz für Hartz IV auch entsprechend wenig am Ende heraus.

"Den Unternehmen hilft man kontinuierlich – die Armen fertigt man ab"

Schulz: Die Forderung der Sozialverbände und Gewerkschaften ist ja jetzt, ungefähr 150 Euro Erhöhung beim Regelsatz plus noch mal 100 Euro Mehrbedarf wegen der Corona-Zeit. Das ist ja schon nicht wenig. So viel Geld gibt doch niemand für Desinfektionsmittel und Masken aus, oder?
Butterwegge: Na ja. Es kommt darauf an, wie man das sieht. Seit März, seit Beginn der Pandemie haben zum Beispiel während der beiden Lockdowns die Eltern das Problem, dass ihre Kinder, die auch im Hartz-IV-Bezug sind, nicht in die Gemeinschaftseinrichtungen gehen können, weder in die Kita, noch in die Schule. Und das heißt, dieses kostenlose Mittagessen, was sie dort bezogen haben, das fällt jetzt weg, wird häufig auch nicht nachgeliefert, was technisch schwierig ist. Und dann muss mitgekocht werden, vielleicht sogar extra deshalb gekocht werden, weil die Kinder zuhause sind, und das bringt schon, denke ich, einige Mehrkosten. FFP2-Masken sind natürlich genauso wie Desinfektionsmittel auch nicht billig und für einen Hartz-IV-Bezieher ist das dann schon etwas, was ins Gewicht fällt.
Schulz: Aber es gab ja zum Beispiel auch so Sachen wie den Kinderbonus, 300 Euro für Familien. Sind das nicht genau Gelder, die diese Probleme adressieren?
Butterwegge: Na ja. Mit dem Corona-Kinderbonus im September und Oktober des letzten Jahres ist ein halbes Jahr später den Eltern natürlich im Hartz-IV-Bezug etwas gezahlt worden, was für die sicherlich sehr wichtig war. Aber notwendig wäre eine kontinuierliche Hilfe. Den Unternehmen hilft man auch kontinuierlich, also über die ganze Pandemie hinaus. Die Armen fertigt man ab, ich möchte es beinahe sagen, mit einer solchen Ablasszahlung, einmal in zwei Raten 300 Euro, und damit war es das dann. Ich finde, das geht so nicht. Die Bundesregierung muss nachbessern.

Unternehmen, die Dividende ausschütten, "darf der Staat nicht unterstützen"

Schulz: Wenn Sie jetzt die Hilfen für die Unternehmen ansprechen, für die Wirtschaft, die dienen ja gerade dazu, Arbeitsplätze über die Pandemie zu retten und damit vorzubeugen, dass Menschen gar nicht erst in den Arbeitslosengeldbezug rutschen. Das ist doch sinnvoll, oder? Das ist doch eine gute präventive Maßnahme.
Butterwegge: Ich bin nicht dagegen, Unternehmen in der Krise zu unterstützen und zu stützen, sondern ich habe Probleme damit, dass man zum Beispiel einem Konzern wie BMW für 20.000 Kurzarbeiter Kurzarbeitergeld bezahlt hat, obwohl der Konzern zur selben Zeit im Mai des letzten Jahres 1,64 Milliarden Euro an Dividende ausgeschüttet hat, dabei fast die Hälfte davon an die reichsten Geschwister unseres Landes, an Susanne Klatten und Stefan Quandt. Und das zum Beispiel findet in Staaten wie Dänemark oder in Frankreich nicht statt, sondern da sagt man, wenn ein Unternehmen so kapitalkräftig ist und Gewinne macht, dass es Dividende ausschüttet, dann darf der Staat es nicht unterstützen. Der Meinung bin ich allerdings auch.
Mietwohnungen in München
In der Cronakrise zeigt sich die soziale Ungleichheit beim Wohnen
Wer viel verdient, hat Glück – lebt auf großem Raum, mit Garten, Terrasse. Wer wenig verdient, lebt auf engem, dunklen Raum. Verschärft die Coronakrise die soziale Frage Wohnen?
Schulz: Wenn wir jetzt schon bei den großen Vermögen sind – ich würde gerne noch mit Ihnen auf den Oxfam-Bericht von heute schauen. Der Bericht, wo von einer zunehmenden Einkommens- und Vermögensungleichheit ausgegangen wird. Der heißt: "Das Ungleichheitsvirus". Trifft es der Titel denn aus Ihrer Sicht?
Butterwegge: Ich finde, der Titel ist eigentlich das einzige, was man an diesem Bericht kritisieren kann, und zwar deswegen, weil nicht das Corona-Virus die Ungleichheit erzeugt, sondern die Verhältnisse in der Gesellschaft. Die Wirtschaftsstrukturen, die Verteilungsmechanismen, die wir haben, führen zu Ungleichheit, und wenn jetzt ein solches Virus kommt, vor dem eigentlich alle Menschen gleich sind, aber wenn Menschen zum Beispiel schlechte Arbeitsbedingungen oder Wohnverhältnisse haben, wie die Werkvertragsarbeiter in der Fleischindustrie, dann verstärkt sich die Ungleichheit. Insofern finde ich, man sollte nicht das Virus verantwortlich machen, sondern diejenigen, die politisch verantwortlich sind und solche Entscheidungen treffen, zum Beispiel auch in der Pandemie verteilungspolitisch eher mit Schieflage, eher die Starken zu unterstützen als die Schwachen.

"Für die Armen der Welt bleibt kaum Impfstoff übrig"

Schulz: Dass die Armut zunimmt, das ist ja relativ logisch zu erklären. Aber warum werden die Reichsten in der Pandemie reicher?
Butterwegge: Man kann sich das so vorstellen, um es mal an einem praktischen Beispiel zu erläutern. Die in der Pandemie eher von Einkommenseinbußen betroffenen Familien müssen in dieser Situation eher beim Lebensmittel-Discounter einkaufen. Dadurch werden die Eigentümer dieser Ketten wie Aldi Nord und Aldi Süd oder auch von Kaufland und Lidl – der reichste Deutsche Dieter Schwarz ist dort der Eigentümer -, die werden noch reicher in der Pandemie. Ich finde, diese Strukturen, die sorgen für mehr Ungleichheit.
Anke Döring, Internistin im Städtischen Klinikum Dresden, hält im Impfzentrum für Mitarbeiter ein Injektionsfläschchen mit dem Impfstoff gegen Corona in den Händen. Am Montag haben die Corona-Impfungen mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer im Städtischen Klinikum für medizinisches Personal in den Hochrisikobereichen und den Covid-19-Stationen begonnen.
Klagen über Impfstoff-Knappheit in Deutschland
Im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien und Israel laufen die Corona-Impfungen in Deutschland eher schleppend. Haben Deutschland und die EU bei der Impfstoffbestellung versagt?
Schulz: Wenn man jetzt auf die globale Verteilungsungerechtigkeit guckt – in dem Oxfam-Bericht gibt es die Forderung, die reichen Staaten müssten den Ländern des globalen Südens bei der Pandemie-Bekämpfung mehr helfen. Angela Merkel sagt ja sehr häufig, dass Deutschland sich da durchaus seiner Verantwortung bewusst sei, und es wurden ja auch Zahlungen erhöht, zum Beispiel an die Impf-Allianz Gavi, im Herbst noch mal 100 Millionen Euro mehr. Da kann man ja jetzt nicht sagen, dass das nur Lippenbekenntnisse sind, oder?
Butterwegge: Oxfam weist allerdings auch zurecht darauf hin, dass sich die reichen Industrieländer einen ganzen großen Teil der Impfstoffe schon vorab gesichert haben und die eingekauft haben bei den entsprechenden Pharmafirmen, so dass für die Armen in der Welt, was die Impfstoffe angeht, kaum noch etwas übrig bleibt.
Schulz: Es wird ja in Deutschland gerade viel darüber debattiert, ob es genug Impfstoff gibt, ob Deutschland mehr Impfstoff für sich hätte bestellen sollen. Offenbar ist schon die europäische Solidarität schwer vermittelbar. Glauben Sie nicht, es wäre fast unmöglich vermittelbar, wenn es in Deutschland noch nicht genug Impfstoff gibt, jetzt zu sagen, Deutschland kauft mit für andere Kontinente?
Butterwegge: Es geht ja nicht darum, dass man nicht auch genügend Impfstoff kaufen soll, sondern es geht darum, dass die reichen Industrieländer, insbesondere die USA, aber auch die Europäische Union, ein Vielfaches von dem an Impfstoffen vorab bestellt und gekauft haben, als das, was sie wirklich für sich brauchen. Gut, es wird behauptet, man gebe es dann weiter an die armen Länder, aber ob das dann tatsächlich passiert, das steht in den Sternen. Das heißt, Bekenntnisse zur Solidarität sind das eine; praktisch dafür zu sorgen, dass die Ungleichheit auf der Welt abnimmt, ist das andere. Genau das wäre nötig, auch und gerade in der Bundesrepublik, wo in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Ungleichheit doch stark zugenommen hat.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)

Reichtum stärker "von oben nach unten" umverteilen

Schulz: Die anderen Forderungen von Oxfam, wenn man jetzt mal auf die praktische Umsetzung guckt, sind ja, ich sage mal, relativ dicke Bretter: ein global gerechtes Steuersystem, der Umbau der Wirtschaft hin von Profitinteresse zu Gemeinwohl. Was wären Ihrer Meinung nach konkrete Maßnahmen, die zum Beispiel Deutschland realistisch gesehen zeitnah umsetzen könnte?
Butterwegge: Was wichtig wäre, wäre zum Beispiel eine Finanztransaktionssteuer, dass man diejenigen, die solche Finanztransaktionen tätigen, stärker besteuert und dass man über eine sozialgerechtere Steuerpolitik natürlich dann auch Umverteilung des Reichtums von oben nach unten bewerkstelligt. Das ist eine Forderung, die Oxfam auch teilt und die dringend nötig wäre. Wenn man sich allerdings anguckt, was die politisch Verantwortlichen in Deutschland, jetzt hier auch die Große Koalition an Steuerpolitik macht, dann stellt man fest: In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind alle Kapital- und Gewinnsteuern entweder ganz abgeschafft worden, wie die Vermögenssteuer, oder stark gesenkt worden, wie der Spitzensteuersatz oder die Körperschaftssteuer, was die großen Unternehmen zahlen müssen. Umgekehrt ist die Mehrwertsteuer 2007 unter der Regierung Merkel, die da gerade gebildet war, erhöht worden. Das heißt: Die Armen, die hauptsächlich davon getroffen wurden, die wurden gewissermaßen noch stärker besteuert, wo hingegen die Gewinne von Unternehmen und auch die Vermögen von sehr reichen Menschen heute gar nicht mehr besteuert werden in Deutschland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Zurückgelassenes Schild mit der Bitte um eine Spende für Essen und Trinke auf einer Straße in Berlin.
Armut in Deutschland als Folge von sozialer Ungleichheit (imago / Müller-Stauffenberg)