Donnerstag, 09. Mai 2024

Kommentar zur Debattenkultur
Es ist erlaubt, noch keine Meinung zu haben

Wir leben in einer Zeit von Meinungsmanie und Bekenntniszwang, meint Thorsten Jantschek. Er findet: Wir sollten uns wieder die Zeit nehmen, uns in Ruhe eine Meinung zu bilden, statt immer gleich mitzuteilen, was wir denken.

Ein Kommentar von Thorsten Jantschek | 24.12.2023
Das Logo des sozialen Netzwerks Facebook ist auf dem Display eines Smartphones zu sehen. Im Hintergrund wird auf einem Bildschirm ein das Zeichen für "Gefällt mir nicht" (Daumen runter) angezeigt.
Das Meinung-Haben sei vor das Meinung-Bilden getreten, kommentiert Thorsten Jantschek. Dafür oder dagegen, ein Drittes gebe es nicht. (picture alliance / Monika Skolimowska / dpa-Zentralbild / dpa / Monika Skolimowska)
Dafür oder dagegen. Tertium non datur. Ein Drittes gibt es nicht. In Krisen und Kriegszeiten herrscht die Logik binären Denkens. Und die erzeugt eine permanente Meinungsmanie. 
Nirgendwo zeigt sich das derzeit deutlicher als in der Diskussion über die Terroranschläge in Israel vom 7. Oktober. Zumindest in der deutschen Debatte. Es geht um Solidarität, Antisemitismus, das Schweigen der Linken oder das falsche Dröhnen der Kultur und so weiter, und so weiter.
Auf einen offenen Brief folgen sogleich drei Gegenbriefe, eine Flut von Distanzierungen, Bekräftigungen oder Entschuldigungen. Die Meinungsmaschinen Facebook und X überbieten sich mit Zugespitztem im Kurzformat. In den Kommentarspalten spaltet sich die Meinungsgesellschaft, immerzu mit dem widerstreitenden Anspruch auf Gesinnungskonformität.

Ausschluss aus dem Diskursuniversum

Aus dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments, den der Philosoph Jürgen Habermas dereinst ausgerufen hatte, ist längst die mit Ausschluss aus dem Diskursuniversum sanktionierte Forderung geworden, man möge endlich diese oder jene Meinung teilen.
„Der erhabenste Ruhmestitel“, hat der Kulturphilosoph Ralf Konersmann einmal geschrieben, „den die westliche Kultur an ihre Intellektuellen zu vergeben hat, ist die Auszeichnung als Unruhestifter.“ Und eigentlich ist das ja gut so: Im Diskurs braucht es Zuspitzung, um das eigene Argument zu schärfen und zu entwickeln. 

Wer nicht zustimmt, stört

Dumm nur, dass Meinungsmanie und Bekenntniszwang unsere gegenwärtigen Diskurse in hohem Maße durcheinanderbringen. Längst können wir nicht mehr unterscheiden zwischen politischen Akteuren, intellektuellen Unruhestifterinnen, Aktivisten und einem Publikum, das offenbar zu allem bereits eine Meinung hat. Alle sind gleichermaßen zu plattformgerechten Diskursteilnehmerinnen und Meinungsverteilern geworden.
Dabei ist das Meinung-Haben vor das Meinung-Bilden getreten. Dafür oder dagegen, ein Drittes gibt es nicht. Das Meinung-Haben – so scheint es – bringt die eigene Unruhe, die Orientierung in Zeiten, in denen unentwegt Gewissheiten zusammenbrechen, für einen Augenblick zur Ruhe. Die Meinung steht. Wer nicht zustimmt, stört. 

Es gilt, zurückhaltend zu werden

Zugleich aber ist das, worauf sich die Meinungen beziehen, unaufhörlich in Bewegung. Alle möglichen Informationen (und damit auch möglichen Falschinformationen) stehen ebenfalls allen Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmern in Echtzeit zur Verfügung.
Damit aber trifft die binäre Logik der Meinungen auf eine zunehmend granulare, auf eine feinkörnige Welt, die immer feinkörniger wird. Eine Welt, die – je näher man an ihre Phänomene herantritt – politisch komplexer wird, moralisch widersprüchlicher und im wahrsten Sinne des Wortes: unübersichtlicher.
In dieser wirklichen Welt werden israelische Geiseln von den Terroristen der Hamas brutal misshandelt, gequält und getötet. In der wirklichen Welt ereigneten sich am 7. Oktober unfassbare Gräueltaten. In der wirklichen Welt sterben im Gazastreifen täglich Zivilisten. In der wirklichen Welt werden tragischerweise israelische Geiseln von israelischen Soldaten erschossen und Kinder in Krankenhäusern von Raketen getroffen.
Gegenüber dieser grauenhaft granularen, sich ständig – wie ein Vexierbild – ändernden Wirklichkeit gilt es, zurückhaltend zu werden. Weder Moral noch Empathie, weder Politik noch Militär bieten im Angesicht dieser Situation eine Sicherheit, auf der eine Überzeugung wirklich stehen kann. Sich Zeit zu nehmen, um eine Meinung zu bilden, ohne jeden Schritt auf diesem Weg rauszublasen, mag wohl ein frommer Weihnachtswunsch sein. 

Auf Distanz zum Meinungsaktivismus

Dennoch wäre das die Haltung eines modernen Stoikers, wie ihn sich der Philosoph Ralf Konersmann in seinem Buch „Die Unruhe der Welt“ vorgestellt hat. Der moderne Stoiker versucht, das unruhige Leben nicht dadurch zu meistern, dass er sich zurückzieht, er geht nur auf Distanz zum Meinungsaktivismus. Und hebelt dadurch die binäre Logik aus:
Zwischen dem Dafür oder Dagegen darf man sich erlauben, noch keine Meinung zu haben. Die Seelenruhe des modernen Stoikers besteht dann genau darin, sich nicht aus der Unruhe bringen zu lassen, erst recht nicht durch eine vorschnelle Meinung.