Sonntag, 28. April 2024

Sprachforschung
Wie andere EU-Länder über Flucht und Migration diskutieren

Das Thema Flucht und Migration steht in den Ländern Europas weit oben auf der politischen Agenda. Sprachforscher haben die Debatten verglichen. Es zeichnen sich Muster ab sowie eine starke Instrumentalisierung der Sprache.

15.11.2023
    Eine Reihe von Flüchtlingen sind im Regen unterwegs.
    In Deutschland, Polen und Großbritannien verbindet man mit "Migrant" weniger Gutes als mit einem "Flüchtling". In den Niederlande wird eher über "Flüchtlinge" berichtet. In Schweden ist die Debatte offener. (Imago / Ikon Images / Gary Waters)
    In der Europäischen Union entscheiden 27 Staaten über die Migrations- und Flüchtlingspolitik. In der Debatte darüber nutzt jedes Land eigene Wörter und Satzkonstellationen. Dabei transportiert die Sprache nicht nur Fakten, sondern auch Wertungen. Die Art der öffentlichen Debatte hat also auch Einfluss auf politisches Handeln. 
    Die Diskussionen in anderen Staaten nehmen wir jedoch vor allem über den eigenen nationalen Diskurs wahr. Forscherinnen und Forscher haben deshalb untersucht, wie sich die Wortwahl europaweit unterscheidet.

    Inhalt

    Welche Wörter europaweit besonders häufig auftauchen

    Im Jahr 2015 kamen laut Eurostat 1,3 Millionen Menschen nach Europa. Am 31. August 2015 hat die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das“ geprägt. Diesen Satz haben Linguistinnen und Linguisten als Ausgangspunkt genommen, um die Berichterstattung über Flucht und Migration zu untersuchen.
    Analysiert wurde, welche Wörter und Satzkonstellationen in der Debatte besonders oft aufgetaucht sind. Die Ergebnisse zeigen übergreifende Muster. Es häufen sich Sprachbilder von Menschen, die als Massen nach Europa kommen. Selten geht es um die individuellen Perspektiven. Außerdem wird „Migration“ anders als „Flucht“ häufiger negativ dargestellt.
    Juliane Schröter hat mehr als 6000 Zeitungsartikel in Österreich über Migration ausgewertet. Die Professorin für germanistische Linguistik an der Universität Genf hat unter anderem herausgefunden, dass die Wörter „Migranten“ und „Flüchtlinge“ besonders oft zusammen mit Zahlwörtern wie „eine Million“ „Hunderttausende“ oder „Tausende“ auftauchten. Außerdem kommen sie auffällig oft mit Wörtern wie „Aufteilung“, „Verteilung“, „aufnehmen“, „Rückführungen“ und „Umverteilung“ vor. 

    Wie diese Wörter wirken

    Auf den ersten Blick wirkten die Ergebnisse nicht spektakulär, meint Linguistin Juliane Schröter. Doch wenn man sich überlege, "was das für Wörter sind, bemerkt man, dass wir diese Wörter normalerweise in Zusammenhang mit großen Mengen an Waren oder Gütern verwenden, nicht unbedingt mit Menschen.“
    Außerdem, so hat die Forscherin festgestellt, tauchen in den Texten sehr viele Ortsbezeichnungen auf. Dabei handelt es sich eher um Orte aus den Zielländern oder von den Fluchtrouten. Um die Herkunftsländer mit den Geschichten der Menschen oder die Fluchtursachen geht es kaum.
    Viele Forschungsergebnisse für Österreich decken sich mit denen anderer Länder. Auch da wurden die ankommenden Menschen häufig im Plural in einer homogenen Gruppe und damit relativ distanziert beschrieben. 
    „Wenn dann doch Geflüchtete gefragt werden, dann meistens nur als Experten für ihr Leid", bekräftigt Benno Nothardt, Forscher am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, die Ergebnisse. "Für das Leid im Heimatland und das Leid auf der Flucht vor allem.“ Als kritische Akteure der Migrationspolitik würden sie indes nicht wahrgenommen, so Nothardt.

    Wie sich die Wortwahl zu Flucht und Migration europaweit unterscheidet

    Eine Unterscheidung ist die zwischen „Migranten“ und „Flüchtlingen“. In Polen bezieht sich der Begriff „Flüchtling“ auf Geflüchtete aus der Ukraine. Dabei geht es um Menschen, die aufgrund des Kriegs gezwungen waren, das Land zu verlassen, sagt Robert Staniszewski, Politikwissenschaftler von der Uni Warschau. „Der ‚Flüchtling‘ flieht vor Kampfhandlungen. Der ‚Migrant‘ verlässt sein Land auf eigenen Wunsch hin. Hier ist der Motor der Wunsch nach einem besseren Leben, Geld spielt eine Rolle.“
    Das „Image“ von Migranten in Polen ist eher schlecht. Viele denken an Menschen, die Sozialsysteme ausnutzen wollen. Der Begriff wird in der Berichterstattung bestimmter Medien mit Gefahr verknüpft.
    Ähnlich ist es in der Berichterstattung in Großbritannien. Auch hier waren „Flüchtlinge“ Menschen, die vor Krieg fliehen und Hilfe und Solidarität brauchen, aus Syrien zum Beispiel. Mit dem Begriff „Migrant“ wurden eher Menschen in den Flüchtlingscamps in Calais bezeichnet, Menschen aus Afrika. Auch sie wurden häufiger als Gefahr dargestellt. 
    Diese Unterscheidung findet sich in vielen Ländern. Aber mit Nuancen: In den Niederlanden zum Beispiel war viel häufiger von „Flüchtlingen“ die Rede und weniger von „Migranten“. In Schweden war die Kommunikation offener als in anderen Ländern. Der Autor Daniel Wojahn schreibt, dass die Schweden ihre Gesellschaft als eine offene und humanitäre sehen. Das hätten die Daten gezeigt. Aber auch in Schweden sind die Ankommenden in der Medienberichterstattung eine große einheitliche Gruppe.
    Das müsse so nicht sein, betont Linguistikprofessorin Juliane Schröter und verweist auf den Migrationsdiskurs in Genf. Sie selbst wohnt dort und sagt: „Hier ist die Sichtweise diskursiv sehr dominant, dass Migration Teil der Genfer Identität ist.“ Migration gehöre zur Geschichte der Stadt und habe viel Positives gebracht. „Talente, Wissen, Kunst, Kultur, Wohlstand und so weiter“, sagt Schröter.

    Wie sich die Worte in der Berichterstattung verändert haben

    Oft sind es Schlüsselereignisse, die die Berichterstattung beeinflussen. Sie wirken in Wellen, und zwar unterschiedlich in den jeweiligen Ländern. In Deutschland war ein solches Schlüsselereignis zum Beispiel die Silvesternacht in Köln 2015. Danach wendete sich der Diskurs eher gegen Geflüchtete. 
    Linguistikprofessorin Juliane Schröter hat sich für das Jahr 2022 noch einmal angeschaut, welche Wörter mit dem Begriff „Flüchtling“ in Verbindung gebracht wurden. Sie untersuchte Printmedien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In diesem Zeitraum sei es vor allem um ukrainische Flüchtlinge gegangen, erklärt sie. Begriffe wie „Ansturm“, „Zustrom“, „Umverteilung“, „Aufteilung“ fehlten. Stattdessen sei sie auf Wörter wie „Ankommen“, „Unterkunft“, „Unterbringung“, „Versorgung“, „Helfen“ und „Hilfe“ gestoßen. Laut Schröter ging es in der Berichterstattung mehr um Solidarität und den Krieg als Fluchtursache.
    Diese Erkenntnis bestätigt Benno Nothardt vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Der Ukrainediskurs sei anders verlaufen, sagt er: „Da hatten wir extrem aktive Geflüchtete.“ Nothardt zufolge sind sie als politische Akteure sowohl in ihrer Heimat Ukraine als auch in der neuen Heimat Deutschland dargestellt worden. „Das wäre für mich das Vorbild, wie das in anderen Bereichen funktionieren sollte“.

    Wie Rechtspopulisten und Extremisten Einfluss auf die Sprache nehmen

    Einen gesamteuropäischen Diskurs über Flucht und Migration gibt es kaum. Das liegt auch daran, dass es keine weitverbreiteten europäischen Leitmedien gibt. Der Politik- und Rechtswissenschaftler Maximilian Pichl hält das für ein Problem. Er ist Professor für Soziales Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule Rhein-Main. Wenn jedes Land für sich selbst diskutiere, so Pichl, verfalle die Debatte immer wieder in nationalstaatliche Logiken. Das wiederum können sich Rechtspopulisten zunutze machen.
    2018, bei einer AfD-Bürgerversammlung in Lutherstadt Eisleben, hat der rechtsextreme AfD-Politiker Björn Höcke gesagt: „Wer die Begriffe prägt, der prägt die Sprache. Wer die Sprache prägt, der prägt das Denken. Wer das Denken prägt, prägt den politischen Diskurs, und wer den politischen Diskurs prägt, der beherrscht die Politik, egal ob er in der Opposition ist oder in der Regierung. Kampf um die Begriffe! Der Begriff ‚Flüchtling‘ ist so ein Kampfbegriff. Dieser Begriff Flüchtling, der erzeugt Anteilnahme, Mitleid.“
    Hinter dem, was Höcke sagt, steckt Pichl zufolge eine Strategie. Höckes Ziel sei, den vorpolitischen Raum zu besetzen. Diese Strategie findet sich laut Pichl in verschiedenen Ländern. Als „Labor“ für rechte Begriffsverschiebungen nennt er Ungarn. Dort zeichneten Ministerpräsident Viktor Orbán und die Fidesz-Partei Migration schon länger als Gefahr. Das wiederum übertrage sich in Gesetze, so Pichl: „Das hat zur Folge, dass Geflüchtete kriminalisiert werden, dass auch Anwältinnen, die sich für Geflüchtete einsetzen, auf einmal ins Visier der Behörden geraten.“
    Diese Stimmungsmache hat inzwischen in vielen europäischen Wahlkämpfen eine Rolle gespielt. Deshalb haben in Deutschland 270 Forschende aus der Migration- und Fluchtforschung, darunter auch Maximilian Pichl, eine Stellungnahme veröffentlicht. Darin beklagen sie, der Diskurs rund um Migration werde inzwischen geradezu faktenfrei geführt.

    mfied