Samstag, 27. April 2024

Debattenkultur
Über die Kunst, sich konstruktiv aufzuregen

Ob Maskenpflicht, Gendersternchen oder Asylpolitik - Reizthemen lauern überall. Das Buch "Triggerpunkte" beleuchtet, warum es uns bei bestimmten Themen so schwer fällt, sachlich zu diskutieren - und wie es dennoch gelingen kann.

Von Kathrin Kühn | 11.11.2023
    Eine Akupunkturnadel sticht in einen menschlichen Körper.
    Triggerpunkte: Es ist schwierig, sachlich Probleme zu lösen, wenn Emotionen wie Wut in gesellschaftspolitischen Diskussionen die Oberhand gewinnen. (picture-alliance / dpa / Gambarini Federico)
    Gendersternchen, Sozialleistungen für Asylbewerber oder Tempolimit – das sind Themen, bei denen sich die Debatte darüber besonders schnell erhitzt. Warum streiten Menschen bei bestimmten Themen so emotional? Die Berliner Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser untersuchen diese Frage in ihrem Buch „Triggerpunkte“.
    Darin verbinden sie vorhandenes Wissen mit eigener empirischer Forschung. Die Ergebnisse sind eine Handreichung zum Innehalten in besonders aufgewühlten Debatten - und für einen sachlichen Blick auf das, was die Gemüter so erregt.

    Überblick

    Was sind Triggerpunkte in Debatten?

    Auf den ersten Blick wirken hitzige Debatten über Lastenräder, Gendersprache oder Obergrenzen für Geflüchtete wie Pseudodiskussionen. Über diese Themen wird leidenschaftlicher berichtet und diskutiert als über größere strukturelle Themen wie etwa Verkehrswende, Gleichberechtigung oder Migrationspolitik. Die Soziologen Mau, Lux und Westheuser beschreiben diese Triggerpunkte als Momente, in denen Konsens und die Bereitschaft, andere Positionen hinzunehmen, im Ernstfall in Gegnerschaft umschlagen können.
    Dann wird „schneller und stärker aus dem Bauch heraus argumentiert“. Wer auf die Gründe schaut, erkennt, dass es sich allerdings gerade nicht um Pseudodiskussionen handelt, sondern - im Gegenteil - tiefliegende moralische Grunderwartungen ausgehandelt werden.

    Warum provozieren bestimmte Themen Streit?

    Jeder Mensch trägt einen eigenen moralischen Kompass in sich: Was ist wichtig, wonach strebt man und was erwartet man von anderen? Dieser Kompass wird schon in Kindheit und Jugend angelegt. Auch wenn sich Wertvorstellungen später ändern, vor allem bei veränderten Lebensbedingungen, so ist dieses Gerüst doch sehr stabil - das untersuchte etwa Philipp M. Lesch in seiner Studie "Change of Personal Culture over the Life Course".
    Werden diese Werte von außen in Frage gestellt, reagieren Menschen oft impulsiv und emotional. Aletta Diefenbach, die an der Freien Universität Berlin zu „Streitsache Emotionen“ forscht, sagt, bei Triggerpunkten gehe es um das, "was wir für wahr und richtig halten oder komplett falsch finden".
    "Das sitzt nicht nur in unserem Kopf, sondern es sitzt auch in unserem Körper", so Diefenbach. "Ein Wert wird herabgesetzt, und dagegen wehren wir uns auch körperlich. Dadurch erhitzt sich die Debatte.“

    Unterschiedliche Wertvorstellungen

    Da Wertvorstellungen unterschiedlich sind, sind auch Gefühle wie die Empörung innerhalb einer Gesellschaft und im interkulturellen Vergleich unterschiedlich verteilt: Das beleuchtet etwa eine Studie des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Frankfurt am Main.

    Wie lassen sich Streitpunkte genauer analysieren?

    Das Autorenteam von „Triggerpunkte“ hat Kriterien entwickelt, mit denen sich neuralgische Stellen in Diskussionen genauer betrachten lassen. Die Forscher verfolgten dafür Gruppendiskussionen, verschiedenste Menschen unterhielten sich dabei über kontroverse Themen. Die Wissenschaftler waren hinter einer Scheibe verborgen.
    Aus den Diskussionsmustern ergaben sich dann vier typische Formen von Triggern:
    Ungleichbehandlungen: Hier geht es um Verstöße gegen das Gerechtigkeitsempfinden. Entweder, weil Menschen andere als bevorteilt ansehen oder weil es als ungerecht empfunden wird, dass dieselben Maßstäbe für alle gelten sollen - trotz unterschiedlicher Voraussetzungen.
    Normalitätsverstöße: In einem Miteinander gibt es offizielle und nicht-offizielle Regeln - was im Umgang als angemessen und tolerabel gilt. Verstöße dagegen können als Überschreitung des „Normalen“ bewertet werden.
    Entgrenzungsbefürchtungen: Im Mittelpunkt stehen hier Sorgen oder sogar Ängste, dass etwas zu einem Kontrollverlust führen kann. Nach dem Prinzip: Was, wenn alle ihren Müll in die falsche Tonne werfen würden?
    Verhaltenszumutungen: Anders als bei den Normalitätsverstößen geht es hier um Punkte, wo sich nicht andere anders verhalten, sondern einem selbst ein anderes Verhalten abverlangt wird, womöglich sogar per Zwang.

    Beispiel Maskenpflicht: Hohes Triggerpotenzial

    Ein gutes Beispiel für hohes Triggerpotenzial in allen vier genannten Bereichen ist die Empfehlung oder sogar Pflicht, während der Coronapandemie eine Maske zu tragen.
    So konnte es zum Beispiel als ungerechte Ungleichbehandlung empfunden werden, dass manche Menschen die Masken während der (körperlichen) Arbeit, etwa in der Fertigung,  tragen mussten, während andere dies im Homeoffice nicht mussten.
    Das Verhüllen des eigenen Gesichts - etwa aus religiösen Gründen - ist in Deutschland in bestimmten Teilen des öffentlichen Lebens verboten und somit negativ behaftet (Normalitätsverstöße).

    Entgrenzungsängste spielen eine Rolle

    Auch wenn das gesetzliche Verbot gesundheitliche Fragen explizit ausnimmt, war das Masketragen hier, anders als zum Beispiel in einigen asiatischen Ländern, nicht üblich. Und auch Entgrenzungsbefürchtungen spielten eine Rolle: Was, wenn ich das jetzt immer machen soll? Für manche war das Masketragen als eine von außen abverlangte Verhaltensänderung auch eine Verhaltenszumutung.
    „Es gibt in unserer Gesellschaft eine kulturell spezifische Erwartung, dass ich eine Privatsphäre habe, in der ich eigentlich machen kann, was ich will", sagt der Autor Linus Westheuser. Die Gesellschaft solle hier "außen vor bleiben".

    Wie sind konstruktive Diskussionen über Triggerpunkte möglich?

    Triggerpunkte sind also Bruchpunkte, an denen tief sitzende Wertvorstellungen zutage treten und gesellschaftliche Veränderungen verhandelt werden.
    Die Soziologin Aletta Diefenbach spricht von Momenten, in denen es eigentlich „besonders rational wird" - weil Menschen "nicht mehr einfach nur einem abstrakten Wert zustimmen, wie `Migration ist okay´ oder `Wir finden Demokratie gut´, sondern weil wirklich um das Eingemachte gestritten wird und die Leute sagen, was sie auch denken.“
    Daraus folgt, wie mit solchen Debatten umgegangen werden kann: Ein Unterdrücken blockiert den Aushandlungsprozess. Ein Anfeuern schadet diesem allerdings genauso und fördert Instrumentalisierung.

    Die Wut ergründen

    Es gilt also immer zu schauen, ob sich eine erhitzte Debatte von selbst entwickelt oder ob und von wem diese mit Kalkül für eigene Zwecke entfacht wird. Bei Letzterem sei es dann wichtig, dies zu entlarven, sagt Diefenbach.
    Wichtig ist, der Wut nachzugehen und auf das Konfliktfeld unter einem Triggerpunkt zu schauen. Worum geht es hier gerade wirklich? Über welche Wertvorstellungen wird gestritten?
    Gerade wenn die Person gegenüber andere Perspektiven vertritt, gilt aufrichtiges Zuhören als Eisbrecher, um ins Gespräch zu kommen. „Generell sieht man an Triggerpunkten oft Konflikte, die noch nicht ganz ihre Form gefunden haben, wo Routinen für einen Interessensausgleich fehlen“, betont Linus Westheuser.

    Wie wichtig ist einem der Gesprächspartner?

    Geht es um sehr erhitzte Diskussionen, etwa unter Freunden, so empfiehlt Aletta Diefenbach, sich zu fragen, ob es einem wichtig ist, mit der anderen Person im Gespräch zu bleiben. Letztlich komme man nicht darum herum, die eigenen moralischen Überzeugungen in solchen Debatten zu erklären.
    Keine Lösung sei, der anderen Seite einfach das Wort abzusprechen, sie quasi zu „canceln“. Denn die Meinungsbildung der Menschen gehe ja woanders weiter. Aber natürlich könne man immer wieder überprüfen, wie viel Emotionalität man selbst aushalte - und dies im Zweifel ansprechen.

    Welche Rolle spielen die Medien?

    Triggerpunkte haben einen „Dual-Use-Charakter“. Sie können im Positiven zu gesellschaftlichen Veränderungen und Fortschritt beitragen. Oder im Negativen zum Beispiel von Populisten oder Extremisten missbraucht werden, um Debatten für eigene Zwecke zu steuern– etwa um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder Wählerstimmen zu gewinnen.
    Neu ist dies nicht. Allerdings haben sich mit dem Internet die Dynamiken von Debatten verändert. Medien sind hier Reichweitenverstärker und spielen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, wann und wie Triggerthemen etwa aus TikTok, X & Co in eine offizielle öffentliche Debatte und in politisches Handeln überspringen.
    Das Fazit von Buchautor Linus Westheuser: Auch hier ist ein Blick auf die Strukturen nötig, die diese Mechanismen befeuern. „Es hilft nicht, sich vorzunehmen, netter miteinander umzugehen. Dazu ist das Problem zu tief verwurzelt.“
    Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser: "Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft"
    Suhrkamp, Berlin, 2023
    540 Seiten, 25 Euro