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Dein Publikum - das unbekannte Wesen

Marktforscher erheben massenweise Daten - Einschaltquoten, Verkaufszahlen, Klicks im Internet, Charts und Bestsellerlisten - mit dem Ziel, das unberechenbare Publikum ein bisschen berechenbarer zu machen. Aber nur in ökonomischer Hinsicht. Die wissenschaftliche Erforschung, auch aus soziologischer und historischer Perspektive, steckt noch in den Kinderschuhen.

Von Ulrike Burgwinkel | 30.06.2011
    "Man weiß immer mehr über das Publikum und hat immer mehr Probleme mit dem Publikum, eben weil man mehr über das Publikum weiß. Das ist paradox."

    Dr. Tobias Werron, Soziologe an der Bielefelder Uni und sein Historikerkollege Dr. Klaus Nathaus vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung erkunden das Publikum, das unbekannte Wesen. Vermutlich ein Phantom.

    "Man, und das ist vielleicht noch ein zweites Paradox, hat beides gleichzeitig: Eine fortschreitende Fragmentierung und Differenzierung in Spezial-Teilpublika, Leute, die sich für immer abseitigere Dinge zu interessieren scheinen, aber gleichzeitig hat man so Riesenzusammenballungen und das ist eine Sache, die man nicht so richtig auflösen kann."

    Das kleine Publikum kann zu einem großen werden, wie zum Beispiel bei der letzten Fußballweltmeisterschaft, als ein Massenpublikum beim Public Viewing die Fanmeilen überschwemmte und die Kalkulation der Veranstalter, beruhend auf Erfahrungen bei ähnlichen Veranstaltungen und Umfragewerten, sich als Fehleinschätzung herausstellte.
    Ob ein Event oder ein Produkt floppt oder ein Renner beim Publikum wird, das ist für den Anbieter nicht absehbar. Tobias Werron:

    "Man kann davon ausgehen, immer mehr Daten zur Verfügung zu haben und jeder kann hineinschauen und sich ein Bild vom Publikum machen, immer genauere Fantasien über das Publikum entwickeln, aber es bleiben eben Fantasien. Fantasien, die die Konkurrenten auch haben. Das heißt in einem Feld, in dem man mit anderen rechnen muss, die dasselbe tun. Und eben ein paradoxer Effekt, der in dieser unwiderlegbaren und unänderbaren Unbekanntheit steckt, liegt darin, dass man stattdessen zu den Konkurrenten schaut, weil die gewissermaßen eine Sicherheit bieten, die das Publikum nicht zu bieten vermag."

    Man schaut also genau hin: Was macht die Konkurrenz, was bieten die an und mit welchem Erfolg. Das übernimmt man, möglicherweise mit geringfügigen Änderungen und hofft, "sein" Publikum zu finden, zu halten oder sogar dem Konkurrenten etwas abzujagen. Statt sich auf die Nachfrager zu beziehen, verlässt sich der Anbieter lieber auf die Konkurrenz. Die Übernahme diverser Unterhaltungsformate der privaten Fernsehkanäle durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten mag als hinreichendes Beispiel gelten. Ein solches Verhalten führt, so Werron, zu einem gewissen Konservatismus. Nathaus sekundiert:

    "Die Orientierung an der Konkurrenz sorgt für eine große Stabilität, Isomorphie wird das genannt. Alle machen das Gleiche und alle sind irgendwie damit zufrieden. Wie bricht man das auf, das ist dann die Frage."

    Beispielsweise, indem man soziale Netzwerke, Blogs, Chats und Foren beobachtet, möglicherweise sogar aktiv eingreift in dort laufende Diskussionen. Der Zugriff auf Subkulturen und Milieus, in einer Spannbreite von Fastfoodfans über Climbing-Spezialisten bis zu HipHoppern oder Studi-Feten ermöglicht die Entdeckung neuer Zielgruppen.

    "Durch das Internet und durch die partizipativen Medien heutzutage kann man genauer sehen, was zwischen den Angehörigen dieser Subkultur gemacht wird. Man muss sich die nicht mehr so sehr als "da draußen" vorstellen, sondern man kann sie bei der Verständigung untereinander beobachten und das eröffnet neue Möglichkeiten und neue Publikumsvorstellungen."
    Also weg mit Einschaltquoten oder Verkaufszahlen als Grundlage für Erfolg? Das sei zumindest überdenkenswert, so Nathaus:

    "Stattdessen kann man vielleicht sagen, ja, dieses neue TV-Programm wurde auch auf diversen für uns interessanten Networking-Sites diskutiert. Das ist ein anderes Publikumsparadigma , wenn es darum geht, bestimmte Subgruppen, die man genauer definieren kann, zu erreichen, dann kann man das Programm stärker auf die zuschneiden, und wenn das intelligente Subgruppen sind, dann kommt möglicherweise intelligentes Fernsehprogramm raus."

    Spartenfernsehen oder -rundfunk statt kleinster gemeinsamer Nenner beim Versuch, die Massen zu ködern; "narrowcasting" statt "broadcasting" könnte ein eher homogenes Publikum anziehen. Das sich möglicherweise untereinander kennt, weil vernetzt? Silke Fürst von der Universität Münster analysiert in ihrer Doktorarbeit, wie Medien über Publika, deren Verhalten und Reaktionen berichten und sie spiegeln:

    "Es ist ganz spannend festzustellen, wie Publikumsbilder festgemacht werden, sobald ein neues Medium entsteht. Dann diskutieren wir nicht übers Internet und seine Gefahren, fragen zum Beispiel: Macht das Internet blöd? Sondern wir stellen gleichzeitig - wie es der Spiegel getan hat 2008- bestimmte Nutzertypen vor: Der typische Nutzer des Internets, das ist der Unternehmer, der Spieler, der Zocker. Und so etablieren sich mit der Medienvorstellung gleichzeitig Publikumsvorstellungen."

    Diese Bilder vom Publikum könnten die Anbieter von Programmen, von Produkten oder Dienstleistungen aufbrechen. Tun sie aber nicht.

    "Was mich daran interessiert, ist, dass beim Internet beispielsweise auch wieder die Quantität durchschlägt. Wir reden zwar alle von der Partizipation und der neuen Qualität des Kontakts, und trotzdem guckt letztendlich jeder auf die Klicks und auch da ist der intermediale Diskurs interessant. Wer viele Klicks auf Youtube kriegt, der landet auch im Fernsehen. Und wer im Fernsehen landet, kriegt mehr Klicks auf Youtube. Das ist nicht mehr so zu trennen, dass da auch die Publika ineinanderfließen, und am Ende macht es oft die Quantität, aus der dann eine Qualität gemacht wird."