Wirtschaft
Droht Deutschland eine Deindustrialisierung?

Die Konjunktur lahmt und große Konzerne wie VW stecken in Schwierigkeiten. Politiker und Wirtschaftsvertreter warnen, Deutschland drohe eine „Deindustrialisierung“. Viele gut bezahlte Arbeitsplätze gingen verloren. Stimmt das?

    Blick auf das ehemalige Futterphosphatwerk in Rüdersdorf östlich von Berlin in Brandenburg, aufgenommen am 26.06.2004. In diesem Werk waren zu DDR-Zeiten rund 500 Menschen beschäftigt. Die Fabrik wurde inzwischen stillgelegt.
    Was nach 1989 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR passierte, wird häufig als Deindustrialisierung bezeichnet. Hier ein geschlossenes Futterphosphatwerk. (picture-alliance / ZB / Patrick Pleul)
    Die Lage ist ernst, so die Botschaft. Bereits im März 2024 warnte das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vor einer „Deindustrialisierung“ Deutschlands. „Eine schleichende Deindustrialisierung ist eine reale Gefahr“, erklärte im September die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller. Politiker wie CSU-Chef Markus Söder schlagen in dieselbe Kerbe. Doch es gibt Experten, die die Lage als weit weniger düster beschreiben.

    Inhalt

    Was bedeutet Deindustrialisierung?

    Mit "Deindustrialisierung" bezeichnet man eigentlich einen wirtschaftlichen Strukturwandel. Das Gabler Wirtschaftslexikon erläutert den Begriff wie folgt: "Auf hohem volkswirtschaftlichen Entwicklungsniveau verliert die industrielle Produktion im Vergleich zu den Dienstleistungen relativ an Bedeutung."
    In der deutschen Geschichte gab es schon mehrere derartige wirtschaftliche Umwälzungen. Das gilt etwa für den Niedergang der Industrie der ehemaligen DDR nach 1989. Dort verschwanden innerhalb weniger Jahre ehemals große Betriebe und Millionen Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Ähnliches erlebten auch etwa das Ruhrgebiet oder das Saarland seit den 1960er-Jahren, wo Bergbau und Schwerindustrie verschwanden oder stark an Bedeutung verloren.
    Mit dem Bedeutungsverlust der Industrie sind allerdings nicht nur Befürchtungen verbunden, sondern auch die Hoffnung auf neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen. Diese Vorstellung war lange Zeit verbreitet, wie der Wirtschaftssoziologe Timur Ergen vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung erläutert. Der wirtschaftliche Strukturwandel war "eine Art postkapitalistische Utopie“.
    In der politischen Debatte ist der Begriff Deindustrialisierung heute allerdings fast nur negativ besetzt, wobei der Verlust meist gut bezahlter Jobs im Fokus steht. Denn auch wenn neue Arbeitsplätze entstehen, so sind sie gerade im Dienstleistungsbereich oft weniger gut bezahlt.

    Warum wird aktuell vor einer Deindustrialisierung gewarnt?

    Erst Mitte September senkten führende Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Prognosen. Demnach wird 2024 bestenfalls eine Stagnation, ein Null-Wachstum, erwartet. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel rechnet sogar damit, dass das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 2024 um 0,1 Prozent zurückgehen wird.
    Deutschland ist im letzten Jahr in eine Rezession gerutscht: Im Jahr 2023 war das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) preisbereinigt um 0,3 Prozent niedriger als im Vorjahr. Für 2024 wird lediglich eine Stagnation erwartet.
    Veränderung des Bruttoinlandsprodukts im Vergleich zum Vorjahr bis 2023 (statista / Statistisches Bundesamt)
    Hinzu kommen Negativ-Nachrichten von Unternehmen wie ThyssenKrupp, dessen traditionsreiche Stahlsparte in großen Schwierigkeiten steckt. Ein anderes Beispiel ist Volkswagen. Werksschließungen in Deutschland und Entlassungen werden dort nicht mehr ausgeschlossen. Auch andere volkswirtschaftlich wichtige Branchen wie die Chemieindustrie klagen über Schwierigkeiten.
    Eines der Hauptprobleme sind laut Wirtschaftsvertretern die im internationalen Vergleich hohen Energiepreise. Diese sowie die fehlende Planbarkeit der Energieversorgung seien für Unternehmen in Deutschland "mehr denn je ein Produktions- und Investitionshemmnis", konstatiert etwa die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK). Laut einer DIHK-Umfrage ist die Zahl der Industriebetriebe, die Produktionseinschränkungen oder eine Abwanderung ins Ausland erwägen, kontinuierlich gestiegen – von 21 Prozent im Jahr 2022 auf jetzt 37 Prozent.
    Überdurchschnittlich stark ist diese Tendenz bei Industriebetrieben mit 500 oder mehr Beschäftigten. Hier hat sich der Anteil der Unternehmen mit Produktionseinschränkungen und Abwanderungsplänen von 37 Prozent im Jahr 2022 auf aktuell 51 Prozent erhöht.
    Nicht nur die Energiepreise machen es den deutschen Kernindustrien schwerer, im internationalen Wettbewerb zu bestehen, meint Stefan Kooths, Konjunkturforscher vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel (IFW). Auch die alternde Bevölkerung und der damit verbundene Fachkräftemangel sei ein Faktor.

    Was spricht gegen einen Trend zur Deindustrialisierung?

    Deutschland ist immer noch eines der Länder in der EU, in denen der Industriesektor eine relativ starke Rolle spielt. Allerdings verändert sich die Bedeutung von Industriebereichen. Während etwa bei VW und dem Autozulieferer ZF aktuell Tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, wächst die Branche "Datenverarbeitungsgeräte, elektronische und optische Erzeugnisse" kontinuierlich. Zu der Branche gehören etwa Hersteller von Messinstrumenten und Medizintechnik.
    Von einer Deindustrialisierung in dem Sinne, dass die Industrie völlig abwandere, könne keine Rede sein, sagt entsprechend Stefan Kooths. Dennoch sei in den vergangenen sechs, sieben Jahre der Anteil der industriellen Wertschöpfung an der gesamten Wertschöpfung auffällig rückläufig.
    Auch Bundesbank-Präsident Joachim Nagel rechnet nicht damit, dass deutsche Unternehmen in Scharen das Land verlassen. Mehr noch: Das Narrativ der Deindustrialisierung sei aus den Daten "schwer ableitbar", sagt er. "Wenn Sie sich im ganzen Pharmabereich die Entwicklung anschauen, auch im chemischen Bereich, wo oft vermutet wird, dass da große Abwanderungen stattfinden, ich sehe die einfach nicht", so Nagel. Die Wirtschaftsstruktur in Deutschland sei so schlecht nicht, meint der Bundesbank-Präsident. "Ich sage nicht, dass wir nichts zu tun hätten, aber wir dürfen uns auch nicht schlechter machen, als wir in Wirklichkeit sind."