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Der Sport auf der Suche nach dem Wir (9)
Fußball in Kroatien: Stütze für den jungen Staat

Vor dreißig Jahren, im Juni 1991, erlangte Kroatien seine Unabhängigkeit von Jugoslawien. Der Sport galt in den Neunzigerjahren als elementar bei der Herausbildung einer "kroatischen Nation". Bis heute ist vor allem der Fußball auch eine Bühne für Nationalismus.

Von Ronny Blaschke |
Kroatische Fußballfans am 12.6 vor dem Anpfiff der EM-Partie in der Gruppe D zwischen der Türkei und Kroatien in Paris.
Kroatische Fußballfans am 12.6 vor dem Anpfiff der EM-Partie in der Gruppe D zwischen der Türkei und Kroatien in Paris. (AFP PHOTO/MIGUEL MEDINA)
Das Fußballzentrum von Zagreb ist das Maksimir, das Stadion von Dinamo. An der Fassade ist von weitem eine Malerei zu sehen: Ein reitender Feldherr mit blauer Fahne, daneben das Vereinslogo und katholische Kirchtürme. Wenige Meter weiter: eine Gedenktafel. Das Motiv zeigt Soldaten mit Gewehren, umgeben von Fans im Stadion. Die Tafel erinnert an den 13. Mai 1990. Damals treffen im Maksimir Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad aufeinander, die besten Mannschaften Jugoslawiens. Feindselige Banner, Hassgesänge, Schlägereien auf und neben dem Rasen. Im Chaos tritt der junge Dinamo-Spieler Zvonimir Boban einen jugoslawischen Polizisten.
Noch Jahre später feiern kroatische Nationalisten diesen Tritt als Widerstand gegen jugoslawische Institutionen, sagt der Nationalismusforscher Dario Brentin von der Universität Graz: "In Kroatien ist das ein etablierter politischer Mythos, der als eine Grundsäule kroatischer postjugoslawischer Identität gesehen werden kann."

Hooligans ziehen in den Krieg

Zu jener Zeit 1990 streben immer mehr Teilrepubliken nach Unabhängigkeit von Jugoslawien. Fans von Dinamo Zagreb unterstützen den Wahlkampf des früheren Offiziers Franjo Tuđman. Dessen antijugoslawische Partei, die HDZ, gewinnt 1990 die erste freie Parlamentswahl in Kroatien. Wenige Wochen später bestreitet das jugoslawische Nationalteam in Zagreb ein Testspiel. Viele kroatische Zuschauer zeigen, was sie von ihrem alten Mutterstaat halten: sie pfeifen die jugoslawische Hymne aus.
Die Spieler der Mannschaften stehen zu einem durchmischten Mannschaftsfoto zusammen.
Spielfeld für Separatismus
In einigen Regionen Spaniens dient der Fußball als emotionale Kulisse für das Streben nach Unabhängigkeit. Im Baskenland ist der Traditionsklub Athletic Bilbao Symbol für Eigenständigkeit.
In den folgenden Monaten ziehen etliche kroatische Fans und Hooligans in den Krieg gegen die serbisch dominierte Armee Jugoslawiens. Dario Brentin sagt: "Von Seiten der Fußballfans in Kroatien ist das ein Versuch, sich selber zu verorten als zentrales Element kroatischer Staatsbildung und Nations-Werdung."
Als zweite Teilrepublik nach Slowenien erklärt Kroatien im Juni 1991 seine Unabhängigkeit. Kroatien zieht seine Fußballvereine aus dem jugoslawischen Spielbetrieb zurück und baut ein eigenes Nationalteam auf. Der kroatische Präsident Franjo Tuđman lässt den Zagreber Verein Dinamo in Croatia umbenennen, erinnert der kroatische Journalist Juraj Vrdoljak, der sich mit politischen Themen im Fußball befasst: "Der Name Dinamo galt als Symbol des Kommunismus – und Tuđman wollte diese Vergangenheit weißwaschen. Doch für viele Fans gehörte Dinamo zu ihrer Identität. Sie protestierten gegen die Umbenennung, auch mit Gewalt. Tuđman sagte sogar: ,Wer für Dinamo singt, ist ein Agent aus Belgrad‘. Nach Tuđmans Tod wurde die Namensänderung wieder rückgängig gemacht."

Nationalspieler Šuker besucht Grab eines Faschisten

In den 1990er Jahren beruft sich Franjo Tuđman positiv auf die Zeit vor dem jugoslawischen Staatssozialismus. Zwischen 1941 und 1945 ist im "Unabhängigen Staat Kroatien" die faschistische Ustascha-Bewegung an der Macht, unter Duldung der Nazis. Die Ustascha strebt ein homogenes Großkroatien an. Sie verbietet serbische Vereine, löst gemischte Ehen auf, verdrängt das serbisch-kyrillische Alphabet. Die Ustascha lässt hunderttausende Serben, Juden und Roma ermorden.
Davor Suker bei seiner Wahl zum neuen Präsidenten des kroatischen Fußballverbandes am 5. Juli 2012 (picture alliance / dpa / Antonio Bat).
Davor Suker, Präsident des kroatischen Fußballverbandes. (picture alliance / dpa / Antonio Bat)
Es sind Verbrechen, die auch Jahrzehnte später von vielen Kroaten verharmlost werden, auch im Fußball, sagt Juraj Vrdoljak: "1996 besuchte der kroatische Nationalspieler Davor Šuker in Madrid das Grab des früheren Ustascha-Anführers Ante Pavelić. Er wurde von prominenten Mitgliedern der Zagreber Unterwelt begleitet. Šuker hat sich von diesem Besuch später nie distanziert."

Sportler als Botschafter des Staates

Ab den Neunzigerjahren etablieren sich kroatische Sportler als nationale Leitfiguren: Der NBA-Basketballer Dražen Petrović, der Tennisspieler Goran Ivanišević, der Handballer Ivano Balić. 1996, bei der Fußball-EM in England, scheitert die kroatische Auswahl erst im Viertelfinale. Zwei Jahre später bei der WM in Frankreich erreicht sie den dritten Platz. Alte Symbole werden international bekannt, etwa das rotweiße Schachbrettmuster im kroatischen Wappen, das seinen Ursprung zwar im 15. Jahrhundert haben soll, aber später auch von der Ustascha gepflegt wurde.
Juraj Vrdoljak sagt dazu: "Der Fußball brachte dem jungen Staat Kroatien einen Schub. Und das kurz nach dem Jugoslawienkrieg. Die Sportler wurden als Botschafter angesehen, das hatte Ähnlichkeit mit dem Sport im Sozialismus. Präsident Tuđman reiste zur WM nach Frankreich. Er besuchte das Trainingslager, die Umkleidekabinen und die VIP-Logen. Die Spieler machten Fotos mit ihm. Und das stützte seinen autoritären Regierungsstil."

Erinnerung an Panzer und Milizen

Die Folgen der Tuđman-Präsidentschaft sind in Kroatien noch heute zu spüren. Im Fußball engagieren sich wenige Gruppen gegen den weit verbreiteten Nationalismus, zum Beispiel der Amateurklub NK Zagreb 041. Eine der treibenden Kräfte unter den 150 Mitgliedern ist Filip, seinen Nachnamen möchte er nicht nennen: "Wir haben viel Ablehnung erlebt. Einmal wurden wir bei einem Spiel von Hooligans angegriffen, sie kamen aus dem Umfeld von Dinamo Zagreb. Als alles vorbei war, haben wir auf dem Rasen ein Messer gefunden. Zum Glück wurde niemand ernsthaft verletzt."
Bei einem Spiel zwischen Partizan und Roter Stern Belgrad im März 2019 ist ein Transparent mit dem Konterfei des ehemaligen bosnisch-serbischen Kriegskommandanten Ratko Mladic und ein Totenkopf zu sehen.
Kriegsspiele auf dem Balkan
Am 13. Mai 1990 treffen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad aufeinander. Bei jenem Spiel wird deutlich wie selten zuvor: der Vielvölkerstaat Jugoslawien ist am Ende.
Filip hat Sympathien für Hajduk Split, den Klub seiner Heimatregion. Auf seinem Handy hat er Videos von Torcida gespeichert, der größten Fangruppe von Hajduk. Im August 2019 stellt Torcida in einer Stadion-Choreografie die Zerstörung eines serbischen Panzers dar. Auch andere kroatische Fangruppen präsentieren Wappen und Fahnen von Milizen aus dem Krieg.
Filip und seine Mitstreiter arbeiten für eine andere, offene Kultur: "Wir veranstalten Turniere und Konzerte für Geflüchtete. Aber damit stehen wir im kroatischen Fußball ziemlich allein. In Zagreb sind viele Gebäude mit Symbolen der Ustascha beschmiert, sogar meine alte Schule."
Der Fußball scheint dieses gesellschaftliche Klima zu legitimieren. Nach der Qualifikation des kroatischen Nationalteams für die WM 2014 ruft der Spieler Josip Šimunić in Zagreb den alten Gruß der Ustascha. "Za dom spremni", für die Heimat bereit. Bei der WM 2018 scheitert die kroatische Auswahl erst im Finale. Bei der Willkommensfeier in Zagreb ist auch Marko Perković dabei, Gründer von Thompson. Die Rechtsrockband liefert für viele Fans und Spielern den Soundtrack zum kroatischen Fußball. Vielleicht auch bei dieser Europameisterschaft, so fern Kroatien weit kommen sollte.