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Deutsch-türkische Beziehungen
"Den schäbigen Flüchtlingsdeal endlich beenden"

Die Bundesregierung habe sich abhängig vom türkischen Präsidenten Erdogan gemacht, kritisierte die Grüne Claudia Roth im Dlf. Daher müsse eine eigenständige Antwort innerhalb der EU auf die Flüchtlingstragödie gesucht und deutsche Rüstungsexporte in die Türkei sofort gestoppt werden.

Claudia Roth im Gespräch mit Daniel Heinrich | 20.07.2017
    Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth (Grüne), äußert sich am 30.05.2016 in Berlin zum Thema Rassismus.
    Sie fordert, "endlich mal klar Position zu beziehen": Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, die Grüne Claudia Roth. (dpa)
    Daniel Heinrich: Ich spreche mit Claudia Roth, Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Frau Roth, die Bundesregierung hat unter anderem die Reisehinweise verschärft. Die staatliche Absicherung von Türkei-Geschäften, die sogenannten Hermes-Bürgschaften, die sollen auch auf den Prüfstand kommen. Geht so Kehrtwende?
    Claudia Roth: Ja, man kann sagen, es hat viel zu lange gedauert, bis die Bundesregierung überhaupt agiert, überhaupt reagiert. Man hatte wirklich leider lange Zeit das Gefühl, dass die Bundesregierung Erdogan eher hofiert, anstatt endlich mal klare Position zu beziehen zu einer Türkei, die mehr und mehr zu einer präsidialen Autokratie wird, man könnte auch sagen eine Diktatur, in der jeder und jede Terrorist ist, der oder die nicht Erdogan unterstützt. Herr Gabriel reagiert; ich finde, man muss die Bürgschaften für Investitionen nicht überdenken, sondern ganz klar sagen, es wird keine Hermes-Bürgschaften mehr geben. Reise- und Sicherheitshinweise sind sicher notwendig. Dann sollte man aber auch Menschen, die umbuchen wollen oder die nicht in die Türkei reisen wollen, die Möglichkeit geben, unbürokratisch umzubuchen. Aber die Hauptforderungen, die wirklich etwas bewirken würden und die absolut überfällig sind, die hat die Bundesregierung immer noch nicht benannt.
    Roth: Rüstungsexporte "nicht akzeptabel"
    Heinrich: Und zwar?
    Roth: Ja, das sofortige Ende jeder Rüstungsexporte. Es ist doch absolut unerträglich aus meiner Sicht, dass nach wie vor Rüstungsexporte in die Türkei geliefert werden, obwohl dort ein brutaler Krieg herrscht in den kurdischen Provinzen, Zerstörungen, Verhaftungen, Absetzung gewählter Bürgermeister, Druck auch zunehmend auf die Christen. Das ist nicht akzeptabel. Das widerspricht…
    Heinrich: Frau Roth, an dieser Stelle mal kurz die Unterbrechung. Rüstung gehört zur Wirtschaft. Der DIHK, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag geht davon aus, durch diese heute getätigten Aussagen, dass die Exporte in die Türkei um zehn Prozent zurückgehen. Der Außenwirtschaftschef Volker Treier sagte im DLF, das sei ein "Schlag ins Kontor". Kann das nicht zum Bumerang für deutsche Unternehmen werden?
    Roth: Schlag ins Kontor ist, dass ein deutscher Staatsangehöriger, Peter Steudtner, verhaftet worden ist, der Menschenrechtler ist, der Menschenrechtsausbildung betreibt, der überhaupt nicht mit Türkei-Politik bisher bekannt geworden ist, der im Rahmen von Amnesty arbeitet. Das ist ein Schlag ins Gesicht, dass dieser Mann festgenommen worden ist, dass man ihm die Unterstützung einer terroristischen Organisation unterstellt. Seit wann ist Amnesty terroristisch? Schlag ins Gesicht ist, dass…
    Rüstungsstopp "würde auch ein NATO-Partner Türkei endlich verstehen"
    Heinrich: Aber, Frau Roth, wäre es denn nicht hilfreicher gewesen, gerade in so einer Situation, um Herrn Steudtner und Herrn Yücel unter anderem zu helfen, die Situation eher zu deeskalieren, anstatt zu eskalieren, was ja anscheinend gerade passiert?
    Roth: Es ist keine Eskalation, wenn man klar macht, dass man es nicht hinnimmt, dass ein Journalist, Deniz Yücel, seit 157 Tagen ohne Anklage in Untersuchungshaft ist, dass er wie eine Art Geisel von Herrn Erdogan gilt, oder Mesale Tolu, eine Journalistin, die nur die deutsche Staatsbürgerschaft hat, auch in Haft ist. Und ich darf noch mal auf die Rüstungsexporte zurückkommen. Das sind nicht irgendwelche Geschäfte. Das sind Geschäfte mit dem Tod. Und es widerspricht absolut unseren deutschen Rüstungsexport-Richtlinien, die eigentlich bindend sind, dass in Länder, in denen die Menschenrechte verletzt werden, Rüstungsgüter geliefert werden, oder dass deutsche Unternehmen an Rüstungskonsortien sich beteiligen wie Rheinmetall, das jetzt in der Türkei Kampfpanzer bauen will. Das kann nicht sein und das würde auch ein NATO-Partner Türkei endlich verstehen.
    "Wir haben uns abhängig, erpressbar gemacht"
    Heinrich: Frau Roth, zur Wirtschaft gehören nicht nur Rüstungsunternehmen. Es gibt ungefähr 7000 deutsche Unternehmen in der Türkei. Das Handelsvolumen, das liegt ungefähr bei 37 Milliarden Euro. Das hat sich auch seit dem gescheiterten Putsch im vergangenen Jahr nicht stark verändert. Gibt es denn nicht bei so einer Eskalation der Situation am Ende nur auf beiden Seiten Verlierer?
    Roth: Erst mal hat ja nicht Deutschland eskaliert, sondern Erdogan eskaliert auf eine Art und Weise, die eine Antwort braucht. Und ich glaube schon, dass es wichtig ist, Herrn Erdogan klar zu machen, dass er vor allem der Türkei und der türkischen Wirtschaft schadet. Es ist doch nicht Deutschland, das der Wirtschaft schadet, sondern es ist die Türkei. Deutschland ist der wichtigste Abnehmer türkischer Produkte und der zweitwichtigste Lieferant. Da haben Sie schon recht, dass das ein entscheidender wichtiger Punkt ist. Aber wir können doch nicht die Augen verschließen vor dem, was in der Türkei los ist, wie mindestens 50 Prozent der Menschen dort, die nicht Erdogan zugestimmt haben, darauf warten, dass wir auch endlich agieren, dass wir endlich auch mal eine klare Politik zeigen, und übrigens auch nicht verstehen, dass wir uns abhängig gemacht haben, erpressbar gemacht haben mit einem Flüchtlingsdeal. Ich glaube, die ganze Zeit nicht agieren und nicht wirklich mal klare Kante zu zeigen, hat ja damit zu tun, dass wir einen Flüchtlingsdeal haben mit einem Land, das man ganz sicher nicht als sicheren Drittstaat bezeichnen kann. Deswegen, glaube ich, wäre es auch eine notwendige Antwort, mit allen schwierigen Konsequenzen, den Flüchtlingsdeal, diesen schäbigen Deal endlich zu beenden und eine eigenständige solidarische Antwort innerhalb der Europäischen Union auf die Flüchtlingstragödie zu suchen.
    "Friedliches Zusammenleben auch im Blick haben"
    Heinrich: Frau Roth, wenn wir schon von Herrn Erdogan sprechen, lassen Sie uns mal bei dem bleiben. Ibrahim Kalin – das ist der Sprecher von Tayyip Erdogan -, der hat heute gesagt, die Feindseligkeit gegenüber Recep Tayyip Erdogan in Deutschland gleicht einem Verfolgungswahn. Sigmar Gabriel hat heute zuerst mit Martin Schulz gesprochen und dann mit der Bundeskanzlerin. Wie viel Bundestagswahlkampf, meinen Sie denn, steckt hinter dieser geraden Eskalationsstufe?
    Roth: Das finde ich, ehrlich gesagt, auch irritierend, dass er im Namen der Bundesregierung spricht, aber dann dauernd den Spitzenkandidaten der SPD zitiert. Ich sehe tatsächlich, dass es eine Gefahr eines Überbietungswettbewerbs in der Eskalationsspirale gibt. Aber das heißt nicht, dass man nicht handeln darf, sondern dass man immer genau fragt, wie treffen wir einen Autokraten, der dieses Land in eine Diktatur überführen will, und wie zeigen wir gleichzeitig, dass die Türkei nicht Erdogan ist und dass wir nicht vergessen, dass Deutschland die allerengsten Beziehungen hat über Millionen von Menschen, deren Wurzeln in der Türkei sind und die heute bei uns leben als Mitbürger Deutschlands, und dieses friedliche Zusammenleben müssen wir natürlich auch im Blick haben.
    "Auftrittsverbot von Erdogan in Deutschland nicht richtig"
    Heinrich: Frau Roth, an dieser Stelle: Ganz viele von diesen Menschen, die Sie gerade angesprochen haben, die stehen hinter Tayyip Erdogan. Wie verlieren wir denn diese Menschen nicht, indem wir gerade so weitermachen, wie wir es gerade tun?
    Roth: Was uns wichtig sein muss, ist, dass wir hier in der Bundesrepublik Deutschland sehr friedlich zusammenleben können, dass die Konflikte, die es in der Türkei gibt, muss ich sagen, dann ist das unser Interesse, dass diese Auseinandersetzungen und diese Konflikte nicht bei uns ankommen und bei uns spalten. Dafür braucht es aber, dass wir zeigen, was Demokratie ist. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich fand die Forderung nach Auftrittsverbot von Erdogan in Deutschland nicht richtig, weil wir sollten zeigen, dass wir eine Demokratie sind, wo es die Meinungsfreiheit gibt, solange die Sicherheit gewährt ist, wo es das Demonstrationsrecht gibt, anders als in der Erdogan-Türkei, und wenn dann Anhänger von Erdogan bei einem solchen Auftritt da sind, dann müssen noch deutlich mehr Kritiker da sein, dass wir den Unterschied markieren, was ein Rechtsstaat ist, eine Demokratie, und dass wir nicht in eine Spirale geraten Auge um Auge, Zahn m Zahn.
    Heinrich: Das sagt und fordert Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Frau Roth, vielen Dank für das Gespräch.
    Roth: Herzlichen Dank, Herr Heinrich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.