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Deutscher Bundestag
Schwierige Selbstbehauptung in Coronazeiten

Im März gelang ein nie dagewesener Kraftakt. Der Bundestag stellte in Rekordzeit die Weichen für den Umgang mit der Coronapandemie. Jetzt versucht das Parlament den Weg zurück in eine Art Normalität. Unter erschwerten Bedingungen, denn es bleiben nicht nur Stühle frei.

Von Gudula Geuther | 06.05.2020
Blick von oben auf den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner am Rednerpult im Bundestag.
In Notsituationen wie der Coronakrise hat das Parlament normalerweise wenig zu melden. Jetzt versucht der Bundestag den Weg zurück in eine Art Normalität. (imago / IPON)
"Wir sind alle komplett umgestiegen auf Telefonkonferenzen, Videokonferenzen, wir tauschen uns sehr intensiv aus. Manchmal ist es sogar arbeitsverdichteter als an Tagen vor Corona, wo wir uns physisch in einer Stadt treffen konnten – weil es ja eine Videokonferenz so einfach macht, zusammenzukommen. Und da kann man halt ruhig drei oder vier am Tag machen, die dann alle unheimlich arbeitsintensiv sind und alle natürlich auch mit Arbeitsaufträgen, Vorbereitung verbunden sind."
Bundestagsabgeordneten wie Britta Haßelmann geht es in Zeiten der Pandemie wie manchen anderen in Deutschland. Für die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen funktioniert die Arbeit im Homeoffice – mit Abstrichen.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Auch für sie gilt, was die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Eva Högl, beklagt:
"Der schönste Teil meiner Arbeit fehlt mir ganz gewaltig, und das ist der Kontakt zu Menschen. Also zu den Bürgerinnen und Bürgern in meinem Wahlkreis, zu Leuten, mit denen ich sonst Kontakt habe. Das geht alles per Telefon. Das geht, aber es ersetzt nicht das persönliche Gespräch. Und das fehlt mir."
Der Bundestag lebt von der Diskussion und der Auseinandersetzung
Dass die Vernetzung auch auf Distanz funktionieren kann, zeigt ihr Beispiel. Kurz nach diesem Interview benannte ihre Fraktion sie als Kandidatin für das Amt des oder der Wehrbeauftragten. Der Bundestag arbeitet weiter - und doch trifft ihn die Pandemie in besonderer Weise. Im Wort Parlament steckt die Unterhaltung oder Erörterung. Und zwar auch im direkten Gespräch:
"Die Parlamentsdebatte kann nicht durch Videokonferenzen ersetzt werden und auch nicht durch E-Mail-Abstimmungen oder so", befindet der Präsident des Bundestages, Wolfgang Schäuble, im ZDF.
"Wir müssen schon Argument Pro und Contra in Rede und Gegenrede diskutieren. Und wir müssen entscheiden."
"Hier in Berlin versuchen wir das Parlament arbeitsfähig zu halten und müssen immer abwägen zwischen der Tagung, der Beratung, der Entscheidung und auch der Kontrolle der Regierung und dem Infektionsschutz", so Britta Haßelmann, die als Erste Parlamentarische Geschäftsführerin zu denen gehört, die über die Abläufe im Bundestag bestimmen. Es gilt, Kompromisse zu schließen, solche, bei denen alle mitmachen können. Einer davon ist die Entscheidung, im Plenum zwischen den Abgeordneten jeweils zwei Sitze freizulassen.
"Die Grünen zum Beispiel haben 67 Abgeordnete und 67 Sitze im Parlament. Wir werden aber immer nur mit 25 Abgeordneten vertreten sein, und die anderen Abgeordneten sitzen entweder auf der Besucher*nnentribüne oder in ihren Abgeordnetenbüros und folgen der Debatte im Parlament über das Parlamentsfernsehen. Die sind da, die arbeiten in ihren Büros."
Die Sitzordnung ist die bekannteste Veränderung bei der Arbeit des Bundestages. Andere sind weniger sichtbar und sehr viel folgenreicher. Denn während die Abgeordneten unter erschwerten Bedingungen arbeiten, muss das Parlament als Ganzes sich in der Stunde der Exekutive als Institution behaupten. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erhob diese Selbstbehauptung in der ersten Sitzung zu Coronazeiten im März zur Systemfrage:
"Wir werden gemeinsam beweisen, dass die freiheitliche Demokratie mit ihren Regeln und Prinzipien, auch die föderale Ordnung unseres Staates, der Tragweite dieser Krise gewachsen sind."

Noch deutlicher formuliert es Eva Högl, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD:
Eva Högl (SPD), aufgenommen vor Beginn der Fraktionssitzung der SPD im Bundestag. Högl soll neue Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags werfen.
Eva Högl, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD fehlt momentan der Kontakt zu den Menschen (Michael Kappeler/dpa)
"Wir müssen auch - wenn ich jetzt mal international gucke - unter Beweis stellen, dass liberale Demokratien in so einer Krise auch dazu in der Lage sind, solche Probleme zu bewältigen, und dass es nicht nur autoritäre Regime können."
Es ist eine Gratwanderung. Denn gleichzeitig sagt auch der Parlamentspräsident:
"In Krisen ist die Exekutive in Bund, Ländern und Gemeinden besonders gefordert."
Welche Geschäfte schließen müssen oder öffnen dürfen, Schul- und Kita-Öffnung, Demonstrationen, Gottesdienste und Maskenpflicht – all das bestimmt die Exekutive. Für den Bundestag bleiben gleichwohl Entscheidungen von ganz ungewöhnlicher Tragweite.
Noch im März hat er die Basis für weitgehende Grundrechtseinschränkungen gelegt, wie sie das neue Infektionsschutzgesetz vorsieht. Immer wieder seitdem geht es um Ausgaben in bisher nicht gekannter Höhe, so hoch, dass dafür das Grundgesetz geändert werden musste. Hilfsmaßnahmen, Sozialschutz, Mietrecht – es sind zentrale Weichenstellungen, die der Bundestag vorgenommen hat. Und trotzdem hatte auch auf sie die Exekutive mehr Einfluss als sonst. Denn was die Ministerien vorlegten, konnte nicht in der üblichen Form beraten und verändert werden, beklagt Britta Haßelmann:
"Nicht umsonst haben wir im normalen Plenumsalltag, im Parlamentsalltag, eine erste Lesung, dann eine Anhörung zu Gesetzen mit Fachexpertinnen und -experten von außen, dann eine weitere Erörterung im Fachausschuss und erst dann die zweite und dritte Lesung. Diesmal haben wir praktisch von Samstag bis Mittwoch alles gemacht – Formulierungshilfen der Ministerien, Änderungen eingespeist, gesagt, das geht nicht oder hier müssen Veränderungen passieren. Und dann die Einbringung und den Abschluss der Gesetze."

Das sei nötig gewesen, Menschen hätten sonst vor dem Nichts gestanden. Parlamentsarbeit funktioniere so aber nicht. Und es passierten Fehler. Als solchen wertet sie eine begrenzte Selbstentmachtung des Parlaments. Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes bekam der Bundesgesundheitsminister weitgehende Vollmachten – darunter sogar das Recht, vom Gesetz abzuweichen. Es ist dieser Punkt, den Staatsrechtsexperten am schärfsten kritisieren. Denn, sagt Christoph Möllers, Professor für öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-Universität, die Exekutive könne keine Gesetze ändern:
Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Rechtsprofessor Christoph Möllers sieht den Bundestag deutlich besser aufgestellt als viele Landesparlamente (imago/Reiner Zensen)
"Ausnahmen davon gibt es in sehr begrenztem Rahmen, aber nicht in dieser Weite und Pauschalität, wie wir das jetzt im Infektionsschutzgesetz sehen. Mir ist nicht ganz klar, was das soll. Ich glaube auch nicht, dass der Eilbedarf so hoch ist. Es ist jedenfalls mit Genauigkeit zu beobachten, weil es in gewisser Weise einen Einbruch darstellt in die verfassungsrechtlichen Regeln, die wir sonst so kennen zur Delegation."
Selbstkritisch gesteht auch die SPD-Frau Eva Högl zu:
"Das haben wir zu wenig diskutiert, muss ich ehrlich sagen. Und wir haben als Rechtsausschuss auch kritisiert, dass wir da nicht beteiligt waren, weil das eine massive Einschränkung des parlamentarischen Systems, wie es sonst ist, beinhaltet und auch Freiheitsrechte tangiert und so weiter."
Ein Selbstentmachtung scheint abgewendet
Eine andere Selbstentmachtung hätten FDP, Linke und Grüne dagegen gemeinsam abgewendet, freut sich die Grüne Haßelmann:
"Wir haben beim Infektionsschutzgesetz deutlich gemacht: Nein, eine epidemische Lage und Notsituation, die ruft nicht ein Bundesgesundheitsminister oder eine Bundesregierung aus. Diese Entscheidung liegt beim Bundestag, beim Parlament."
Und damit letztlich die Entscheidung über viele der Grundrechtseinschränkungen, denn für die ist diese Notlage die Voraussetzung.
"Ja, wir müssen uns als Parlamentarier zu Wort melden, sonst werden wir übergangen", glaubt Eva Högl. Und dass der Bundestag wieder mehr gehört werden will, machten Vertreter aller Fraktionen in der Zweiten Corona-Sitzungswoche Ende April klar. Darunter Ralf Brinkhaus, der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion:
"Wenn wir jetzt grundlegende ethische Fragen haben, wie wir beispielsweise mit Lockerungen umgehen, wie das Verhältnis ist Freiheit auf der einen Seite, Einschränkungen auf der anderen Seite, dann ist der Ort dieser Debatte sicherlich nicht eine Ministerpräsidentenkonferenz oder ein Kabinettssaal, sondern der Ort dieser Debatte ist das Parlament."


Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sieht hier die Parlamente am Zug – zumindest, wenn sie das wollen:
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sitzt an seinem Platz im Plenum und stützt den Kopf auf seine rechte Hand.
"Die Parlamentsdebatte kann nicht durch Videokonferenzen ersetzt werden", sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) zu Beginn der Corona-Pandemie (imago/Christian Thiel)
"Über die Einzelfragen entscheiden die Regierungen. Und wenn es den Parlamenten nicht gefällt, dann können sie natürlich die Landesparlamente die Landesregierungen, der Bundestag die Bundesregierung zwingen, das zu korrigieren."
So der Anspruch. Tatsächlich sieht der Jurist Christoph Möllers hier gleich mehrere Probleme. Denn zum einen sei das Gesetz, das der Bundestag einmal verabschiedet habe, das Infektionsschutzgesetz, nicht wirklich für all die weitgehenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens gedacht gewesen, die jetzt darauf gegründet werden.
Zum anderen seien es eben die Länder, die das Gesetz umsetzten – mit Entscheidungen zum Beispiel über Kita-Öffnungen. Wie das Bundesgesetz ausgeführt wird, kontrollieren also die Landesparlamente – ein Problem, das es auch sonst gibt, das hier aber besonders sichtbar wird. Und: Auch der überzeugte Verfechter des Föderalismus Möllers glaubt, dass der Bundestag deutlich besser aufgestellt ist als viele Landesparlamente:
"Ja, es ist auch ein Problem für den Parlamentarismus, wenn auch kein ganz neues, weil wir natürlich oft ein Auseinanderfallen von öffentlichem Interesse an Bundespolitik und Kompetenzen der Länder und der Landesparlamente haben. Man muss es vielleicht auch als eine Aufforderung sehen an die Landesparlamente, sich mehr zu professionalisieren und die Kompetenzen, die sie haben, auch in einer Art und Weise wahrzunehmen, die das Publikum überzeugen."
Auch die Opposition will wieder mehr mitreden
Im Bundestag zeigt sich der Wille, nach der ursprünglichen Einmütigkeit wieder mehr mitzureden, mehr zu widersprechen, auch in der Opposition, wenn auch in ganz unterschiedlicher Tonlage und Lautstärke. Mit Grünen und Linken, die vor allem auf mehr staatliche Ausgleichsleistungen drängen, einer AfD, die auf Lockerungen besteht, und einer FDP, die den Abstand zum Regierungshandeln in der Debatte am deutlichsten benannte.

Parteichef Christian Lindner: "Und weil die Zweifel gewachsen sind, Frau Bundeskanzlerin, endet heute auch die große Einmütigkeit in der Frage des Krisenmanagements."
Solche Rückkehr zum Widerspruch ist auch ein Zeichen dafür, dass der Bundestag in kleinen Schritten zur Normalität zurückkehrt. Ausschüsse tagen wieder – allerdings in kleinerer Besetzung, immerhin, auch wenn es keine Dauerlösung sein kann, einzelne Abgeordnete von den Debatten auszuschließen. Statt des größeren Ältestenrats, der normalerweise über die Tagesordnung des Bundestages berät, entscheiden derzeit die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer.
Alice Weidel und Alexander Gauland im Bundestag während einer Regierungserklärung zur Bewältigung der Covid-19- Pandemie in Deutschland und Europa im Bundestag in Berlin (23.04.2020)
AfD in der Coronakrise - Abgeschlagen, aber angriffslustig
Krisen sind die Stunden der Exekutive, Oppositionsparteien haben es schwer. Das bekommt auch die AfD zu spüren, deren Umfragewerte in Bund und Ländern sinken. Doch in der Partei hofft man von der Coronakrise zu profitieren.
Und Fraktionssitzungen finden zwar immerhin wieder statt – anders als ganz zu Beginn und vor der entscheidenden Sitzung im März, wo die CDU/CSU darauf verzichtete. Aber auch diese Fraktionssitzungen finden teilweise unter ganz anderen Vorzeichen statt. Während Linke und AfD sich physisch treffen, die SPD ebenfalls, verteilt auf zwei Räume, tagen die anderen Fraktionen per Videokonferenz.
In der Union ginge das gar nicht anders, glaubt der CDU-Abgeordnete Christoph Ploß: "Wir sind ja in der Fraktion mit Mitarbeitern über 200 bis 300 Personen."
Alle hätten sich zwar an das Videoformat gewöhnt, das physische Treffen könne es jedoch nicht gleichwertig ersetzen:
"Es fehlt natürlich im Moment der persönliche Austausch. Man sieht auch nicht, wie sind die Reaktionen von Kollegen, weil jeder in seinem Homeoffice sitzt und auf seinen Bildschirm starrt und vielleicht noch einen Kollegen sieht, der gerade spricht. Und das ist etwas, das natürlich auch im parlamentarischen Betrieb sehr stark fehlt. Deswegen hoffe ich, dass wir bald wieder den Normalbetrieb haben."

Dabei, glaubt der Jurist Möllers, geht es nicht nur um einen Wohlfühlfaktor, sondern auch um Fragen der Demokratie.
"Grundsätzlich sind ja alle Regelungen im Grundgesetz und auch im Parlamentsrecht darauf zugeschnitten, dass die Leute sich in einem Raum begegnen und interagieren – also keine Videokonferenzen halten. Damit ist also sehr, sehr viel an auch impliziten Annahmen transportiert darüber, wie da kommuniziert wird, wie Aufmerksamkeit erregt wird, wie Widerspruch funktioniert, die wir nicht so ohne weiteres ins Digitale übersetzen können."
Daraus ergäben sich zwar keine harten Regeln, was geht und was nicht. Aber was durch solche Veränderungen in der Kommunikation geschehe, müsse genauer in den Blick genommen werden.
"Denn es steht ja doch zu vermuten, dass die ohnehin ja immer zu beobachtende Dominanz der Spitze, der Vorsitzenden, der Regierungschefs, der Fraktionsvorstände, die eine ganz offene Diskussion ja bis zu einem gewissen Grad sowieso schon beschränken, durch solche Medien noch einmal verschärft wird. Und wenn das so ist, wenn wir sozusagen gar keine Meinungsbildung mehr von oben nach unten und von unten nach oben haben, sondern nur noch von oben nach unten, dann hätten wir halt ein massives Problem – was unseren formellen Normen so etwas entgleitet, aber auf das wir auf jeden Fall achtgeben müssten."
Vieles geht ohne Aussprache durchs Parlament
Geändert hat sich auch die Debatte im Plenum – über die Frage der Sitzordnung hinaus. Statt an drei, wird nur noch an zwei Tagen beraten, auf lange Nachtsitzungen wird verzichtet. Und das heißt, so SPD-Fraktionsvize Eva Högl:
"Bei der Tagesordnung des Bundestages ist es so, dass wir gemeinsam beschlossen haben, nur die unbedingt notwendigen Dinge draufzusetzen, damit wir hinkommen mit der reduzierten Tagungszeit, nur Mittwoch und Donnerstag, mit den Abständen und der Beteiligung auch, also das war so ein Abstimmungsprozess."
Mit der Folge, dass Vieles ohne Aussprache durchs Parlament geht. In der vergangenen Sitzungswoche waren das über 30 Punkte, darunter auch zuvor so prominent diskutierte wie der Gesetzentwurf gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität oder die Europäische Staatsanwaltschaft – beides liegt jetzt im Rechtsausschuss, ohne dass es vorher Niederschlag in der Tagespresse gefunden hätte.
Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, sitzt im Plenarsaal des Bundetags auf einem blauen Sessel und telefoniert mit einem Handy.
In der Coronakrise kämen andere Themen zu kurz, bemängelt die Grünen-Politikerin Britta Haßelmann (imago / Metodi Popow)
In dieser Woche stehen immerhin noch elf Überweisungen im vereinfachten Verfahren auf der Tagesordnung, wie etwa das Gesetz zum Schutz elektronischer Patientendaten. Andere Themen fallen ganz unter den Tisch. Die SPD-Innenpolitikerin Högl sorgt sich um die Innere Sicherheit, um die Gefahr erstarkenden Extremismus gerade in der Krise. Die Grüne Haßelmann fürchtet, Klimaschutz und Flüchtlinge könnten zu kurz kommen. Und das Wahlrecht. Vielleicht sei das kein Zufall, mutmaßt sie:
"Natürlich ist es dem einen oder dem anderen sicherlich ganz recht, dass darüber gerade nicht so intensiv geredet und auch gerungen wird."
Gemeint sind CDU und CSU, die das selbstverständlich bestreiten. Klar ist: Hier drängt die Zeit, soll noch eine Lösung gefunden werden, die verhindert, dass der Bundestag auf möglicherweise über 800 Abgeordnete anwächst. Und die mediale Aufmerksamkeit wäre größer, würde nicht die Pandemie alles andere dominieren.
Anderen Fraktionen wären noch ganz andere Themen wichtig. Die AfD etwa will, dass das Recht auf freie Religionsausübung verwirkt werden kann, und hat einen entsprechenden Antrag zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht, die FDP sorgt sich um Menschenrechte in China, die Linkspartei um die Patientendaten. Sie alle werden es schwer haben, gehört zu werden, möglicherweise noch viele Monate lang.
"Aber irgendwann müssen wir wieder zum Alltagsgeschäft zurückkommen", hofft die SPD-Politikerin.
"Ich glaube, dass wir ganz zeitnah zu einer gewissen Normalisierung unseres Beratungsalltags kommen müssen", betont auch die Grünenabgeordnete Haßelmann. Nur wie?
"Darauf habe ich im Moment keine Antwort", bekennt Eva Högl.
"Wahrscheinlich müssen wir das noch verfeinern, wie wir zusammenkommen, vielleicht auch noch mehr Online-Möglichkeiten nutzen."
Das ist eine mögliche Entwicklung. Andere Vorschläge gehen in die gegenteilige Richtung, hin zu weniger statt mehr Parlament. Der Vorschlag stammt ausgerechnet vom Parlamentspräsidenten.
Zu Beginn der Pandemie in Deutschland hatte Wolfgang Schäuble vorgeschlagen, das Grundgesetz zu ändern und die Voraussetzungen für eine Art Notparlament zu schaffen, falls zu viele Abgeordnete erkranken sollten oder in Quarantäne müssten.
"Die Inspiration für das Notparlament kommt ja eigentlich aus dem Grundgesetz selbst", erläutert der Staatsrechtler Möllers. Dort ist für den Verteidigungsfall, den der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates feststellen müsste, ein Gemeinsamer Ausschuss vorgesehen, aus je 16 Vertretern von Bundestag und Bundesrat.
"Die Vorstellung, die das ursprünglich geprägt hat, ist natürlich, dass wenn irgendetwas passiert, wenn die Bombe einschlägt oder so und sich niemand mehr kongregieren kann, dass es dann immer noch eine kleine Gruppe von designierten Leuten gibt, die in Sicherheit gebracht wird - die hatten da auch einen Platz, einen Bunker in der alten Bundesrepublik - und dann sozusagen die Aufgaben eines Parlaments wahrnehmen können. Und diese Vorstellung hat anscheinend Schäuble dazu inspiriert, noch einmal darüber nachzudenken, eine Extra-Institution für solche Notfälle mit Blick auf den Coronavirus ins Gespräch zu bringen."
Der Vorschlag stieß auf einhellige Ablehnung – zumindest erst einmal. Und zwar bei allen Fraktionen, nicht nur bei Grünen und SPD, Britta Haßelmann und Eva Högl:
"Ich halte das für ganz falsch, zum jetzigen Zeitpunkt einer solchen Krise an Lösungen oder Vorstellungen einer Verfassungsänderung zu arbeiten."
"Ich bin da keine Freundin von. Weil dann ist man sehr schnell dabei, mit so einem Notparlament alles zu machen. Ich finde, wir müssen so lange wie möglich hier versuchen, in möglichst großer Besetzung zusammenkommen, mit dem Abstand. Wie immer das gehen mag."
Trotzdem können sich beide vorstellen, dass die Frage wieder auf den Tisch kommen wird. Und das, obwohl auch Verfassungsjuristen recht einhellig dagegen sind.
"Dieser Ausschuss wäre so etwas geworden wie eine Abnicker-Veranstaltung ohne Öffentlichkeit", glaubt Möllers. Und er wäre auch keine geeignete Lösung für das aktuelle Problem:
"Ich sehe, dass wir natürlich mit solchen Dingen wie Digitalisierung und Abstandhalten nicht dasselbe bekommen wie eine parlamentarische Debatte in alten Zeiten. Aber jedenfalls etwas viel Besseres als den alten gemeinsamen Ausschuss in der Notstandsverfassung. Denn wir sehen ja schon: Parlamente können sich austauschen, Leute können miteinander reden, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, und sie sind halt doch viel repräsentativer als dieser kleine Ausschuss."
Derzeit hat der Bundestag mit einer bloßen Änderung der Geschäftsordnung für den Coronafall vorgesorgt: Das Parlament ist auch mit weniger Abgeordneten beschlussfähig. Das funktioniert allerdings nur, solange alle Fraktionen zusammenarbeiten. Derzeit ist das der Fall.
Notparlament ist die falsche Antwort
Das zeigt sich zum Beispiel jetzt schon bei der kleineren Besetzung der Ausschüsse. Würden hier nicht alle mitmachen, würden sich die Mehrheitsverhältnisse verschieben. Trotzdem hält Möllers das Notparlament für die falsche Antwort, selbst wenn sich an diesem bisherigen Konsens etwas ändern sollte.

Er schlägt stattdessen vor, "dass man sich in der Tat vielleicht noch einmal überlegen müsste, ob man so etwas schafft wie eine Regel einer proportionalen Verkleinerung. Also dass in Fällen, wo es wirklich nötig ist, wenn denn kein Konsens über das Verfahren im Bundestag herzustellen ist und in denen die Abbildung der Mehrheitsverhältnisse anders nicht geschehen kann, sich das Parlament proportional verkleinern kann."
Auch das sind Änderungen, die nicht mal eben im laufenden Geschäft geschehen können. Der Bundestag müsse jetzt schon darüber nachdenken, wie er sich nach der Krise aufstellt, um beim nächsten Mal besser gerüstet zu sein, heißt es aus allen Fraktionen. Ohnehin schlage die Stunde des Parlaments, wenn die Krise vorüber sei, meint Eva Högl:
"Wie geht’s dann eigentlich weiter? Das müssen wir auch miteinander diskutieren. Wofür in unserer Gesellschaft haben wir dann noch Geld? Was sind Prioritäten? Wie organisieren wir das Zusammenleben? Ich finde, da sind wir als Parlamentarier zuallererst gefragt. Danach muss die Regierung erstmal ein bisschen pausieren. Dann müssen wir Vorschläge machen."