Donnerstag, 28. März 2024

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Deutschland und die CO2-Grenzwerte
"Seitenwechsel zu denen, die hinterherhinken"

Der SPD-Europapolitiker Jo Leinen hält die Einigung der EU-Umweltminister auf neue CO2-Grenzwerte für Neuwagen für nicht ausreichend. Durch das Machtwort der Kanzlerin sei Deutschland beim Klimaschutz von den Avantgarde-Ländern auf die Seite derer gewechselt, die hinterherhinkten, sagte Leinen im Dlf.

Jo Leinen im Gespräch mit Stefan Heinlein | 10.10.2018
    (180928) -- BEIJING, Sept. 28, 2018 (Xinhua) -- Jo Leinen, chair of the European Parliament's delegation for relations with China, speaks to the media in Brussels, capital of Belgium, on Sept. 25, 2018. (Xinhua/Ye Pingfan) | Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
    "In China geht die Post ab bei Elektroautos", sagt Jo Leinen (SPD), Vorsitzender der China-Delegation des Europäischen Parlaments (XinHua)
    Stefan Heinlein: 13 Stunden wurde verhandelt, geredet und gefeilscht hinter verschlossenen Türen. Dann um kurz vor Mitternacht wurde eine Einigung verkündet: Nicht 30 Prozent, wie von der EU-Kommission gewünscht, und auch nicht 40 Prozent, wie vom Parlament gefordert, sondern 35 Prozent weniger Kohlendioxid müssen Neuwagen bis zum Jahr 2030 ausstoßen. So die Einigung der EU-Umweltminister. Ein klassischer Kompromiss also, der aber dennoch keine Seite so richtig zufriedenstellt.
    Schon die Vorgängerin der deutschen Umweltministerin Svenja Schulze, Barbara Hendricks, wurde regelmäßig zerrieben zwischen ihren eigenen ehrgeizigen umweltpolitischen Ambitionen und den oft lascheren Vorgaben der Großen Koalition. Auch jetzt war es eine wenig komfortable Rolle für die SPD-Politikerin Schulze bei den Verhandlungen in Luxemburg. Auch bei ihrer Rückkehr nach Berlin heute ins Kabinett war der Beifall für ihr Verhandlungsgeschick eher leise.
    Am Telefon in Brüssel begrüße ich jetzt den SPD-Europapolitiker Jo Leinen. Guten Tag, Herr Leinen!
    Jo Leinen: Guten Tag, Herr Heinlein.
    Heinlein: Nicht 30, nicht 40, sondern 35 Prozent, Herr Leinen. Sind Sie stolz auf die Kompromissfähigkeit Ihrer Genossin Schulze?
    Leinen: Klimapolitisch ist das zu wenig. Das wissen auch alle. Wir haben uns in Paris verpflichtet, bis 2030 40 Prozent CO2 zu reduzieren, und der Straßenverkehr, der stößt von Jahr zu Jahr immer mehr CO2 aus. Er muss einen Beitrag leisten, und was da jetzt rausgekommen ist, ist ein typischer europäischer Kompromiss. Der wird nicht reichen und darüber wird man auch noch mal reden müssen.
    "Wir waren schon mal weiter in Deutschland"
    Heinlein: Darüber können wir gleich weiterreden. Blicken wir noch einmal kurz auf die Rolle Ihrer Genossin Svenja Schulze, Herr Leinen. Sie waren in den 80er-Jahren ein Vorkämpfer der Umweltbewegung. Blutet Ihnen jetzt das Herz, wenn eine SPD-Umweltministerin sich einen Kuschelkurs mit den Konzernen vorwerfen lassen muss?
    Leinen: Ja, in der Tat. Wir waren schon mal weiter in Deutschland. Die Stimmung und die Entscheidungsfreudigkeit war wesentlich größer. Wir haben aber in Berlin keine rot-grüne Regierung, sondern eine schwarz-rote Regierung, und in der Tat ist es bitter für die Umweltministerin, nach Brüssel zu kommen und sich mit Bulgarien, Ungarn und der Slowakei in einem Lager zu finden und nicht mit Schweden, mit den Niederlanden, mit Großbritannien und Frankreich. Das ist bitter. Dieser Seitenwechsel von den Avantgarde-Ländern, die wirklich neue Dinge machen wollen, zurückzufallen zu den Ländern, die hinterherhinken, das ist für Deutschland auch nicht sehr gut.
    Heinlein: Berlin steht in Brüssel jetzt eher auf der Bremse in Sachen Klimaschutz, Herr Leinen. Machen Sie sich es jetzt nicht zu einfach, wenn Sie alle Schuld dafür bei der Union abladen?
    Leinen: Na gut, die Kanzlerin hat ja ein Machtwort gesprochen. Wir haben ja die Zahlen des Bundesumweltministeriums gesehen vor Wochen. Die wollten sogar mit dem Parlament auf 50 Prozent CO2-Reduktion gehen, so wie es die Vorlage war hier unserer Berichterstatterin im Europaparlament. Und dann weiß man ja, dass natürlich in den Verhandlungen da auch noch mal geschliffen wird und es dann weniger wird.
    Aber jetzt bei 35 ist es doch eine untere Linie, und ich stimme auch dem Präsidenten des VDA, des Verbandes der Automobilindustrie nicht zu, dass wir bei diesen Werten die Balance zwischen Klimaschutz und Arbeitsplätzen verlieren. Es gibt viele Studien, die zeigen, dass wir wirklich das erstens stemmen können und zweitens auch neue Arbeitsplätze schaffen. Es wird ein Umschichten geben, das ist wohl wahr, aber unter dem Strich werden wir sogar mehr Beschäftigung haben als zurzeit, weil die ganze Lade-Infrastruktur, die neuen Fertigkeiten, die man braucht, ja auch Arbeitsplätze schaffen.
    "In China geht die Post ab bei Elektroautos"
    Heinlein: Warum, Herr Leinen, reden wir überhaupt noch über den CO2-Ausstoß bei Neuwagen ab dem Jahr 2030? Warum werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nicht ausschließlich E-Autos oder zumindest Hybride produziert? Muss da nicht Europa, muss da nicht auch die Bundesregierung mehr Druck machen?
    Leinen: Ja, genau! Das ist das, was in der deutschen Autoindustrie und zum Teil dann auch in der Berliner Politik verkannt wird. Wir sind im weltweiten Wettbewerb um die neuen Fahrzeuge, die wir auf den Straßen sehen werden in den nächsten Jahren. Ich bin ja hier auch noch Vorsitzender der China-Delegation im Parlament und ich kann Ihnen sagen, in China geht die Post ab bei Elektroautos. Die haben klare Vorgaben. In Shanghai und in Peking bekommt man gar keine Zulassung mehr für ein Auto, wenn es nicht elektrisch betrieben ist. Und die deutsche Autoindustrie muss sich wirklich etwas einfallen lassen, wenn nicht in wenigen Jahren diese Autos auf unseren Markt kommen und dann wir das Nachsehen haben mit den Diesel- und den Benzinmotoren.
    Da gibt es einen Wettbewerb und ich glaube, dass jetzt die 35 Prozent des Rates und die 40 Prozent des Parlaments – da wird man ja wahrscheinlich einen Kompromiss in der Mitte finden bei 37,5 -, das ist dann jetzt doch ein Tritt in den Hintern der Autoindustrie, dass sie endlich in dem nächsten Produktionszyklus diese neuen Autos auch bereitstellen muss. Und ich sage mal: Wenn genügend Masse dann kommt, dann wird das auch ein Selbstläufer. Die Autos der Zukunft sind nicht mehr Diesel oder Benziner. Das werden Hybride, das werden Elektroautos, Wasserstoffautos, synthetische Kraftstoffe, es werden andere Antriebsarten werden und die Autos werden sauberer.
    Heinlein: In den kommenden Tagen oder ab heute sogar geht es jetzt in die Verhandlungen zwischen Ländern, Kommission und Parlament. Wie sehr werden jetzt die Abgeordneten des Parlaments für ihr Ziel, für die 40 Prozent kämpfen?
    Leinen: Wir haben ja gesehen, dass 16 Länder in der EU für 40 Prozent waren. Es war ja quasi nur eine Stimme, die gefehlt hat, einen Beschluss für 40 Prozent zu erzielen. Das ist im Rat auf Kante genäht, dass es jetzt 35 werden. Die EU ist ja geübt in solchen Verhandlungen zwischen den drei Institutionen, der Bürgerkammer, die das Parlament darstellt, und der Staatenkammer im Ministerrat, und zuletzt muss dann ein Kompromiss rauskommen. Der kann ja dann nur auf der Mitte liegen, 35 beim Rat, 40 beim Parlament. Da gehe ich mal davon aus, das wird 37 oder 37,5.
    Sie haben ja in der Anmoderation auch gesagt, dass es 2023 eine Überprüfung geben soll. Da, denke ich, sind wir auch wesentlich schlauer in fünf Jahren und können hier auch noch besser werden bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts.
    "Wir laufen der Entwicklung hinterher"
    Heinlein: Können Sie uns das noch erklären? Welchen Unterschied macht das tatsächlich für die Umwelt, für die Rettung unseres Klimas, ob es jetzt 30, 35, 37,5 oder 40 Prozent weniger CO2 in Zukunft sein werden?
    Leinen: Wir laufen ja der Entwicklung hinterher. Wir wissen, dass wir eigentlich die 1,5 Grad Celsius Erwärmung kaum mehr erreichen. Wir sind ja jetzt schon bei 2,7 Grad Celsius mit all den wirklich schlimmen Folgen, die das haben wird. Je besser und je schneller man bei der Reduzierung von CO2 vorankommt, desto besser für den Klimaschutz. Wir haben jetzt auch keine Zeit zu verlieren im nächsten Jahrzehnt, weil es wird ja dann nachher, wenn wirklich die Folgen der Dürre, der Überschwemmungen, der ganzen Abschmelzungen der Polarkappen, wenn das noch sichtbarer wird und man soll dann noch mehr machen im nächsten Jahrzehnt, dann wird das ja auch teurer und es wird auch mühseliger. Die Technologie ist da! Ich glaube, alles ist vorhanden, dass wir jetzt umsteigen im Fahrzeugsektor auf die Elektromobilität.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.