Freitag, 19. April 2024

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Neuer Chefredakteur, neuer Kurs?
Die "Bild" und ihre Corona-Berichterstattung

Für einen Text, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für strengere Corona-Maßnahmen verantwortlich gemacht hat, wurde "Bild" heftig kritisiert. Trotzdem beobachtet Medienjournalist Marvin Schade seit der Entlassung von Julian Reichelt, dass sich die "Bild" thematisch wie intern wandelt.

Text: Mike Herbsteuth / Marvin Schade im Gespräch mit Christoph Sterz | 06.12.2021
Anschnitt des Hochhauses: Auf dem Dach ist der Schriftzug der Bildzeitung als Leuchtschrift auf einer riesigen Digitalanzeige zu sehen.
Seit der Entlassung von Julian Reichelt hat sich das Redaktionsklima bei "Bild" laut Marvin Schade verändert. ( Wolfram Steinberg / dpa)
Viola Priesemann, Dirk Brockmann und Michael Meyer-Hermann gehören zu den wichtigsten deutschen Modelliererinnen und Modellierern der Pandemie. Die Forschenden berechnen Vorhersagen für die Entwicklung der Corona-Zahlen und beraten mit anderen Expertinnen und Experten die Politik, welche Maßnahmen für die Eindämmung der Pandemie notwendig sind. Ein Job, der die drei am Wochenende auf die Titelseite der "Bild" gebracht hat.

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Dort prangten die Köpfe von Priesemann, Brockmann und Meyer-Hermann, in der Überschrift betitelt als "Die Lockdown-Macher". Das Trio "schenkt uns Frust zum Fest", so "Bild", und macht die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verantwortlich für strengere Corona-Maßnahmen wie "Geschenke-Kauf 2G", "Kino-Verbot für Ungeimpfte" oder "Familien-Fest nach Corona-Regeln."

"Bild"-Artikel wird heftig kritisiert

Der zukünftige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) widersprach diesem Verantwortlichmachen der Forschenden durch die "Bild":
"Alle Entscheidungen zum Beispiel gegen Ungeimpfte wurden ausschließlich von der Politik getroffen. Es genügt, dass wir 24/7 mit Personenschutz unterwegs sind. Die WissenschaftlerInnen dürfen nicht den gewaltbereiten Querdenkern als Zielscheiben angeboten werden."

Göpel: Text gefährdet "Freiheit von Wissenschaftlerinnen"

Kritik gab es auch von der Akademie der Naturforscher Leopoldina, die zu mehr Sachlichkeit aufrief, oder der Politökonomin Maja Göpel. Sie schrieb auf Twitter, sie sehe durch den "Bild"-Artikel, den sie als "Verleumdung" bezeichnete, die Freiheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefährdet.

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Zusätzliche Brisanz bekam der "Bild"-Artikel durch einen Vorfall, der sich am Tag vor der Veröffentlichung des Textes in Sachsen zugetragen hatte: Rund 30 mutmaßlich Rechtsextreme waren mit Fackeln vor das Wohnhaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) gezogen, um gegen die sächsischen Corona-Schutzmaßnahmen zu demonstrieren. Der sächsische Innenminister Roland Wöller (CDU) bezeichnete den Fackelaufmarsch im Deutschlandfunk als "Angriff auf die Demokratie, der mit allen rechtsstaatlichen Mitteln entschlossen geahndet werden muss."

Boies Kommentar als Entschuldigung?

Nach der heftigen Kritik an diesem Artikel der "Bild", der laut dem Medienjournalisten Marvin Schade von der Plattform "Medieninsider" auch intern unter Mitarbeitenden kontrovers diskutiert wurde, veröffentlichte "Bild"-Chefredakteur Johnnes Boie am Sonntag einen Kommentar, den einige als Entschuldigung interpretierten. Darin schrieb er:
"Wissenschaftler, Ärzte, Pfleger und die meisten Politiker versuchen zu helfen. Manche von ihnen arbeiten fast rund um die Uhr. Sie mögen nicht immer recht haben. In jedem Fall verdienen sie unseren Respekt."
Dieser Kommentar von Boie habe mehrere Lesarten, sagte Marvin Schade im Gespräch mit @mediasres, aber: "Insgesamt finde ich, ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, der Versuch einer Relativierung von dem, was man Samstag gemacht hat – das sehe ich hier nicht, das hat der Text meiner Erachtens nach nicht erfüllt."

Schade: Boie fördert Diskussionskultur bei "Bild"

Nichtsdestotrotz arbeite Boie an einer Öffnung der "Bild", und man erkenne das auch an einigen Stellen, so Schade. "Man hat in den vergangenen Tagen immer mal wieder Debatten gesehen, die 'Bild', sage ich jetzt, vor einigen Wochen unter Julian Reichelt so noch nicht geführt hätte."
Beispielsweise werde intern offener über Themen diskutiert. Und es habe im Blatt eine differenzierte Debatte über die Impfpflicht gegeben, in der diverse Meinungen von Prominenten abgebildet worden seien.
Intern erfreue diese Öffnung laut Schade einige Mitarbeitende, lasse andere aber wiederum "etwas orientierungslos zurück" nach der Reichelt-Ära mit "klarer Marschroute".