Samstag, 20. April 2024

Archiv


Die Erde aus der Vogelperspektive

Der Traum des Ikarus vom Fliegen erwacht in der neuen Ausstellung des Centre Pompidou in Metz zum Leben. Die Schau zeigt, wie die Vogelperspektive bis heute Maler und Fotografen inspiriert und die Raumkonzeption der Künstler seit dem 19. Jahrhundert verändert hat.

Von Björn Stüben | 19.05.2013
    "Die Erde entrollt sich wie ein riesiger Teppich ohne Rand, hat weder Anfang noch Ende", stellte der französische Fotograf Félix Nadar 1860 begeistert fest, als er der Welt erstmals Aufnahmen aus schwindelnder Höhe bescherte, die er zuvor hoch über Paris vom Korb seines Heißluftballons aus geschossen hatte. Heutige Zeitgenossen lässt die Aussicht aus Flugzeugfenstern auf die Erde eher kalt. Doch in den vergangenen 150 Jahren hat "Der Blick von oben", so auch der Titel der aktuellen Ausstellung im Centre Pompidou in Metz, die Maler, Fotografen, Cineasten und Architekten immer wieder fasziniert. Angela Lampe, Kuratorin am Pariser Centre Pompidou, beleuchtet das Thema in einer umfangreichen Schau mit rund 500 Exponaten.

    "Die Ausstellung zeigt uns wie, ausgehend von den ersten Ballonfotografien, die Raumkonzeption der Künstler sich verändert hat, das heißt, wie der Perspektivwechsel seit Nadar bis heute die Künstler immer wieder inspiriert hat."

    Ein Horizont ist nicht zu erkennen auf den Fotografien Léon Gimpels aus dem Jahr 1909. Kaum verwunderlich, denn sein Kamerablick fällt schräg aus einem Luftschiff nach unten auf akkurat aneinandergereihte Kornfelder und ein langes Flugfeld, auf dem sich Schaulustige drängeln, die klein wie Ameisen erscheinen. Über ihnen dreht ein Doppeldecker seine Runden. Der Maler André Devambez kannte ähnliche Luftbildaufnahmen, kreisen doch auf seinem Ölbild Sportflugzeuge über einer tief unter ihnen liegenden buntgescheckten Landschaft. Ein großformatiges Bild von Robert Delaunay zeigt 1922 den Eiffelturm aus der Vogelperspektive, sodass dieser derart optisch gestaucht kaum mehr zu erkennen ist. Als Vorlage hierfür diente ihm offenbar ein Ballonfoto André Schelchers, das 1909 in der Zeitschrift "L'Illustration" erschienen war. Für Angela Lampe hat die Luftbildfotografie den Künstlern aber nicht nur Bildvorlagen geliefert.

    "Es ist auch ein Impulsgeber, eine visuelle Erfahrung, die die Künstler ja wie alle gemacht haben, indem sie zum Beispiel Zeitung gelesen haben, denn Fotografien wurden recht früh publiziert und die sich dann in ihr visuelles Gedächtnis eingeschrieben haben und daraus dann nach und nach Kunstwollen entstanden ist, den Blick zu heben und einfach diesen Blickwechsel zu wagen. Und das fängt eben schon mit dem späten Impressionismus an und setzt sich dann mit dem Kubismus fort, wo man dann eben auch die Nachweise hat, dass Picasso und Braque zum Beispiel sich wie die Brüder Wright gefühlt haben und es gibt dann eine Collage von Picasso, wo dann geschrieben steht, die Zukunft ist in der Luft, ‚l‘avenir est dans l’air‘. Das heißt in diesem Fall, dass man die euklidische Geometrie, die traditionelle Geometrie bricht, die Zentralperspektive aufgibt und einen multidirektionalen, multiperspektiven Raum entwickelt im Kubismus."

    Luftaufnahmen aus dem Kriegswinter des Jahres 1917 zeigen die Zerstörungen bei Verdun. Diese von Charles-Jean Hallo oder auch Edward Steichen gemachten Dokumentaraufnahmen haben für den Betrachter aber auch eine ästhetische Komponente, wirken sie doch beinahe wie abstrakt komponierte Bilder. So ist es vor allem die klassische Avantgarde gewesen, die sich dem damals noch neuen "Blick von oben" stellte.

    "In der ersten Zeitung des Bauhauses wurde ein Luftbild gezeigt, der Junkers Luftbildagentur, ein Blick von oben auf Felder und diese Art der Komposition erinnert sehr stark an die damaligen Arbeiten von Paul Klee. Dazu kommt dann noch auch die Entdeckung, dass bei uns in dem Fonds von Wassily Kandinsky gibt es Luftaufnahmen. Es gibt Luftbilder, die Kandinsky anscheinend in seinen Bauhauskursen, seinem Bauhausunterricht verwendet hat und diese bis zu seinem Ende in seinem Atelier aufbewahrt hat."

    Piet Mondrians Farbquadrate scheinen direkt inspiriert worden zu sein von Filmsequenzen, die Truppenbewegungen an der Kriegsfront, schematisch eben durch verschiedenfarbige Quadrate dargestellt, zeigen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es dann amerikanische Künstler wie Sol LeWitt oder Georgia O'Keeffe, die ihren Arbeiten Luftbilder zugrunde legten. Während sich heute der junge britische Fotograf Mischka Henner direkt der Google Earth-Technologie für seine Kunst bedient, ästhetisierte der Franzose Yann-Arthus Bertrand den Fotoblick von oben auf die Erde, um die Schönheit der Natur aber auch ihre Bedrohung durch den Menschen zu zeigen. Den Austellungssbogen am Schluss bis hin zu Kunstwerken gespannt zu haben, die von Überwachungskameras und Drohneneinsatz handeln, ist nachvollziehbar. Die Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen bleibt aber als Fokus der faszinierendste Teil dieser gelungenen Schau.