Donnerstag, 28. März 2024

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"Die Institutionen wirklich in den Blick nehmen"

Tanjev Schultz, bildungspolitischer Redakteur bei der "Süddeutschen Zeitung", sieht die Einrichtung eines Runden Tisches positiv, weil dadurch eine größere Öffentlichkeit für die Missbrauchsfälle geschaffen werde. Allerdings dürfe das nicht dazu führen, dass "mehr als nur darüber reden einfach nicht stattfinden wird".

Tanjev Schultz im Gespräch mit Sandra Schulz | 24.03.2010
    Sandra Schulz: Gespräche auf Augenhöhe, gleichberechtigt, ohne Hierarchiestufen – das ist die Symbolik, derer sich die Institution Runder Tische bedient. Nachdem uns schon seit Wochen die Missbrauchsfälle an Schulen in ganz Deutschland beschäftigen, soll der geplante Runde Tisch auch einen Beitrag leisten zur Versöhnung. Dazu passt nicht, dass zunächst ein Streit entbrannt war zwischen den Koalitionspartnern, wer an diesem Runden Tisch denn zusammenkommen solle. Familienministerin Schröder hat sich jetzt durchgesetzt mit ihrem Konzept, nach dem nicht nur die Kirchen dabei sein sollen. Das Kabinett hat den Runden Tisch jetzt eingesetzt. Was ist noch Teil des gerade verabschiedeten Konzepts?

    Telefonisch verbunden bin ich jetzt mit dem bildungspolitischen Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", Tanjev Schultz. Guten Tag!

    Tanjev Schultz: Guten Tag!

    Schulz: Ein Runder Tisch, eine große Runde mit wohl 40 Teilnehmern. Was kann so ein Gespräch bringen?

    Tanjev Schultz: Zunächst einmal hebt es die ganze Missbrauchsgeschichte noch einmal auf eine höhere Ebene der Öffentlichkeit. Das ist sicherlich auch notwendig und ist auch ein wichtiger Schritt, auch um zu zeigen, hier ist die gesamte Gesellschaft jetzt gefordert und auch wach geworden. Aber gleichwohl gilt halt, wie es immer bei Runden Tischen ist, auch die Gefahr, dass mehr als nur darüber reden einfach nicht stattfinden wird, und wenn das der Fall sein sollte, dann wäre das ein weiterer Schlag ins Gesicht der Opfer.

    Schulz: Jetzt ist es im Beitrag gerade schon vorgekommen: Der offizielle Titel heißt "Sexueller Missbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich". Lässt sich so ein Gespräch überhaupt vernünftig gliedern?

    Tanjev Schultz: Es soll ja sozusagen Untergruppen geben, aber die Gefahr besteht sicherlich, dass das eben alles in einem großen Topf landet und die verschiedenen Differenzierungen nicht eingehalten werden. Das besondere, so sehe ich es auch, ist ja, dass tatsächlich jetzt einmal Institutionen wirklich in den Blick genommen werden. Tatsächlich ist Missbrauch sicherlich vorwiegend in Familien der Fall, aber eben jetzt auch in Institutionen und sozusagen ein Risiko, das zusätzlich noch zu den Familien dazukommt, und da müsste jetzt die Aufklärung wirklich noch weiter voranschreiten.

    Deswegen halte ich auch die Idee für richtig, dass man eigentlich noch mal eine unabhängige Kommission braucht, die die verschiedenen Fälle, die es jetzt bundesweit gibt, dokumentiert, da das die Gerichte ja in den meisten Fällen nicht mehr machen können wegen der Verjährung und man jetzt angewiesen ist darauf, dass jede einzelne Institution das für sich tut. Da wäre es schon gut, wenn es noch einmal so eine Art unabhängiges Hearing, eine Kommission gäbe, die das alles zusammenträgt.

    Schultz: Geht es denn, wenn wir auf die Schulen blicken, jetzt "nur" um die Aufklärung, um die Dokumentation, oder muss sich auch in der Sache was ändern?

    Tanjev Schulz: Ja. Es ist sicherlich notwendig, dass die Präventionsarbeit verstärkt wird. Es geht da um verschiedene Dinge. Es geht zum einen auf der Seite der Kinder, der Schüler, der Jugendlichen darum, noch stärker sie auch aufzuklären, ihnen zu vermitteln, dass sie Nein sagen können. Es gibt teilweise sogar schon an Grundschulen so etwas wie Sag-Nein-Kurse, die sind teilweise sehr erfolgreich. Das klingt so ein bisschen hilflos, aber die können tatsächlich dazu beitragen, auch schon den kleineren Kindern zu zeigen, was sie tun müssen, wenn ihnen Erwachsene zu nahe kommen. Da könnte auch sicherlich noch mehr passieren und auch mehr Geld hineinfließen.

    Dann gibt es aber eben natürlich auch auf der Seite der Institutionen zu verstärkende Kontrollmechanismen. Da geht es darum, klare Regeln zu finden, was ist zu tun, wenn es Grenzüberschreitungen gibt. Da waren ja viele Institutionen, wie sich nun herausstellt, viel zu lax, haben auch vieles verheimlicht, haben auch den Gang zur Staatsanwaltschaft gescheut. Das muss sich ändern.

    Schultz: Jetzt sind viele Fälle ja Jahrzehnte alt. Können Sie sich vorstellen, oder hat es inzwischen – wir sind ja im 21. Jahrhundert jetzt – atmosphärisch schon solche Veränderungen gegeben, dass zumindest diese Häufung, wie sie jetzt bekannt wird aus den 60er-, 70er-, 80er-Jahren, gar nicht mehr stattfinden könnte?

    Tanjev Schulz: Das ist schwer abzuschätzen. Ich ehrlich gesagt befürchte, dass es immer noch massenhaften Missbrauch gibt, auch in Institutionen, und man darf eines nicht außer Acht lassen – das ist ja auch in dem Beitrag eben angesprochen worden -, die Gesellschaft muss sich natürlich damit auseinandersetzen, dass es zum Beispiel Pädophile gibt, dass es diese Krankheit gibt, dass man mit ihnen irgendwie umgehen muss, und viele Therapeuten sagen ja, dass das etwas ist, was sie nicht im eigentlichen Sinne heilen können, sondern sozusagen den Betroffenen nur helfen können, Wege zu gehen, dass sie nicht straffällig werden, dass sie keine Grenzen in Wirklichkeit verletzen. Auch dieser Frage müsste sich dieser Runde Tisch, denke ich, stellen. Er muss sich auch der Frage stellen, gibt es genügend Therapieplätze, wie sieht es in den Gefängnissen aus. Da ist ganz viel vernachlässigt worden. Wenn es nur beim darüber reden bleibt, es gibt da ein Problem, dann wäre dieser Runde Tisch natürlich fehl am Platze.

    Schulz: Nach allem, was jetzt bekannt ist, zeichnet sich aus Ihrer Sicht denn ab, dass es diese Auseinandersetzung auch tatsächlich geben wird?

    Tanjev Schulz: Das hoffe ich. Es ist ja zumindest mal wenigstens gelungen, jetzt die verschiedenen Ministerien zusammenzubringen und dieses unselige Hickhack zwischen den verschiedenen Ministerinnen, die sich da alle jeweils profilieren wollten, zu beenden. Da kann man nur hoffen, dass das nicht am Ende wieder aufbricht, denn das ist nun wirklich das falsche Thema, um da auch noch politisch sich gegenseitig auszutricksen.

    Schultz: Wenn wir jetzt einen Schritt zurückgehen, die Missbrauchsfälle, die uns jetzt seit Wochen beschäftigen, was heißen die? Was heißt diese Häufung auch insgesamt für die bildungspolitischen Debatten, die wir führen, auch für die Institution Schule?

    Tanjev Schulz: Ich glaube, sie muss noch einmal grundlegend nachdenken über das Verhältnis von Nähe und Distanz. Was, denke ich, nicht passieren darf ist, dass jetzt sozusagen in einer Reaktion auf diese Missbrauchsfälle die Lieblosigkeit wieder ganz neue Formen annimmt, die völlige Unnahbarkeit, die Kälte der Institutionen. Das wäre sicherlich die falsche Reaktion. Das ist auch, glaube ich, nicht das, was die Opfer erwarten, sondern es geht darum, das Bewusstsein zu stärken, dass doch da, wo Erwachsene und Kinder zusammenkommen, ganz oft Gefährdungen da sind und dass da noch viel mehr Kontrolle notwendig ist, viel mehr Sensibilität, und dass vor allen Dingen auch die Kinder und Jugendlichen Ansprechpartner brauchen, Stellen, an die sie sich wenden können und wo denen auch von vornherein signalisiert wird, da könnt ihr euch melden. Das ist ja alles bisher in vielen Fällen überhaupt nicht der Fall.

    Schultz: Tanjev Schultz, bildungspolitischer Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", heute in den "Informationen am Mittag" hier im Deutschlandfunk. Danke schön!

    Tanjev Schultz: Danke auch.