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Die Kathedrale von Canterbury
In Stein gemeißelt - in Literatur und Film verewigt

Die Kathedrale von Canterbury gilt als das Rom der Anglikaner. Und ist ein Pilgerort für Katholiken. Denn hier rebellierte Thomas Becket gegen seinen König Heinrich II., der ihn ermorden ließ. Das Ereignis prägte das Bild der Stadt in Literatur, Theater und Film bis heute.

Von Robert Rotifer | 29.12.2019
Die Kathedrale von Canterbury (Kent), aufgenommen 2007
Weder durch Religions- noch Weltkriege zerstörbar: Die Kathedrale von Canterbury (dpa / World Pictures/Photoshot / UPPA Rick Strange)
Im Getümmel der High Street von Canterbury findet sich die Statue eines mittelalterlich gekleideten Mannes mit Pilgerstab. Er soll Geoffrey Chaucer darstellen, der Ende des vierzehnten Jahrhunderts mit seiner Satire Canterbury Tales das Pionierwerk der englischen Literatur verfasste.
Dabei weiß man gar nicht, ob der Londoner Chaucer die Straßen von Canterbury je selbst betreten hat. Auch die in seinen Erzählungen beschriebenen Pilger kamen genau genommen erst nach Chaucers Tod an ihrem Ziel an, wie Sheila Sweetinburgh, Historikerin an den Universitäten von Kent und Christchurch erklärt.
"Es sieht so aus, als hätte einer der Mönche von Christchurch eine Fortsetzung der Canterbury Tales geschrieben. Im Prolog zur Tale of Beryn zeigt er die Ankunft der Pilger in Canterbury. Die Menschen des Spätmittelalters waren im Marketing genauso gewandt wie wir heute. Aus ihrer Sicht könnte man Chaucers Canterbury-Erzählungen als Gottesgeschenk betrachten."
Für Kirche oder König? Thomas Becket als Märtyrer
Mit etwas makabrer Ironie könnte man umgekehrt den traumatischen Anlass der Reise der Pilger als Canterburys Geschenk an die Literatur-, Theater- und Filmgeschichte bezeichnen: das Martyrium des Erzbischof Thomas Becket, 1170 in der Kathedrale ermordet von den Schergen des Königs und seither Held vieler Parabeln des prinzipientreuen Widerstands gegen die staatliche Autorität.
"Es gibt viele Biografien Beckets, die sehr bald nach seinem Martyrium produziert wurden - bis hinauf nach Island. Der internationale Becket-Kult reicht bis hin zum Stück 'Mord im Dom' von T.S. Eliot. Diese Dinge berühren die Menschen über Jahrhunderte hinweg."
Eine künstlerische Darstellung der Ermordung des Thomas Becket
Märtyrer oder Verräter? - Der Mord an Thomas Becket veränderte England
Ein Schwerthieb beendet vor 900 Jahren das Leben Thomas Beckets und erschüttert Europa. König Heinrich II. lässt den Erzbischof und Lordkanzler ermorden. Weltliche Macht contra kirchliche Freiheit?

Im Film "Murder in the Cathedral" stellt sich Thomas Becket den vier Rittern, die gekommen sind, um ihn mit ihren Schwertern zu erschlagen. Die Filmversion des 1935 von T.S. Eliot geschriebenen Theaterstücks "Mord im Dom" wurde 1951 gedreht. In den Kriegsjahren dazwischen war die das Stadtpanorama dominierende Kathedrale Ziel deutscher Luftangriffe gewesen.
Das eigentliche Wunder: Die Kathedrale übersteht deutsche Brandbomben
In "A Canterbury Tale", einem von Michael Powell und Emeric Pressburger im Jahr vor Kriegsende gedrehten Meilenstein der britischen Filmgeschichte, geben die teils schwer zerbombte Stadt und ihre wie durch ein Wunder intakte Kirche einen symbolträchtigen Hintergrund ab. "Es ist ein fürchterliches Durcheinander", sagt darin eine Passantin, "aber man hat jetzt eine gute Aussicht auf die Kathedrale."
Dass heute noch täglich unter den gotischen Säulen der Kathedrale der Evensong gesungen wird, ist tatsächlich nicht einem Wunder, sondern jenen Feuerwehrleuten zu verdanken, die während der Angriffe todesmutig Brandbomben vom hölzernen Kirchendach bugsierten.
Das Canterbury von heute ist mehr Tourismusziel als Pilgerstätte, nicht zuletzt dank seiner Nähe zu London, die andererseits seit jeher der Bedeutung der Stadt als eigenständigem Kulturschauplatz im Wege steht. Symptomatisch dafür ist Canterburys einziges Theater, das eher provinziell programmierte Marlowe Theatre. Schon sein Namensgeber, der in Canterbury aufgewachsene elisabethanische Dramatiker Christopher Marlowe, suchte einst seine Bühne lieber in London. Und doch verlieh Canterburys Anziehungskraft für Fremde, seien sie aus Frankreich geflohene Hugenotten oder die vielen Sprachschüler der Gegenwart, dem Städtchen immer schon einen kosmopolitischen Charakter. Im kommenden Jahr wird es besonders viel Grund zum Besuch geben, denn 2020 finden, so wie alle 50 Jahre seit dem Martyrium, spezielle Feierlichkeiten, diesmal zum 850. Todestag Thomas Beckets statt. Mit allerhand Konferenzen und mittelalterlichen Paraden, ja sogar echte Riesen sollen dabei die High Street hinunterziehen.